Reli to go 15: Wieso ist die Bibel „mehr als ein Buch“?

Gefragt nach dem für ihn wichtigsten Buch der Weltgeschichte, antwortete Bertolt Brecht: „Sie werden lachen, die Bibel!“ Kein Buch ist in so viele Sprachen übersetzt worden und wird in solchen Auflagenhöhen gedruckt. Die Bibel fasziniert, so viel steht fest. Aber wieso eigentlich?

Die Bibel ist mehr als ein Buch, so ist immer wieder zu hören. Das ist zunächst einmal ganz objektiv richtig. Die Bibel ist nämlich eine ganze Bibliothek. 66 verschiedene Bücher versammelt sie zwischen ihren zwei Buchdeckeln. 66 Bücher, die die Geschichte gleich mehrerer Jahrtausende erzählen, und die selbst über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren entstanden sind und von vielen unterschiedlichen Menschen – zugegebenermaßen wohl meist Männern – verschriftlicht, überarbeitet und weitergeschrieben wurden. Die Bibel ist also eine Bibliothek, und zwar eine mit Tradition.

Die Bibel ist aber für viele Menschen auch deshalb mehr als ein Buch, weil sie nicht nur menschliche Geschichten erzählt, sondern von Gott redet. In der Bibel sind nämlich die Erfahrungen gesammelt, die Menschen mit ihrem Gott gemacht haben, oder vielleicht vorsichtiger ausgedrückt: die Ereignisse, die Menschen (im Rückblick) so gedeutet haben, dass da Gott am Werk war. Die Bibel ist also auch deshalb mehr als ein Buch, weil sie ein Glaubensdokument ist. Sie erzählt gedeutete Geschichte und verdichtete Erfahrung, weil sie in ihren Erzählungen bekennt: Hier war Gott am Werk. Bei der Erschaffung der Welt, als das Volk Israel aus Ägypten auszog, als die Staaten Israel und Juda untergingen, als Jesus von Nazareth lebte und wirkte und als die ersten christlichen Gemeinden entstanden.

Das heißt aber auch: Die Bibel erzählt nicht, was passiert ist, sondern sie erzählt, wie Menschen das gedeutet haben, was passiert ist. Anders ausgedrückt: Die Bibel ist zwar ein Buch der Geschichte, weil sie zu bestimmten Zeiten von konkreten Menschen unter bestimmten Bedingungen geschrieben wurde – aber sie ist kein Geschichtsbuch. Sie will gar nicht sagen, dass etwas genauso gewesen ist, wie dort geschrieben steht. Sondern sie zeugt davon, wie Menschen ihr Leben im Horizont der Geschichte Gottes deuten.

Und in dieses Zeugnis von Gottes Wirken in der Welt können sich Menschen bis heute mit hineinnehmen lassen. Die Kirchengeschichte ist voll von Berichten über Personen, die beim Lesen der Bibel ein sprichwörtliches Licht aufging. Martin Luther ist einer davon. Sein sogenanntes „Turmerlebnis“ gilt als Geburtsstunde seiner Rechtfertigungslehre:

Von einem wunderbaren Eifer war ich gewiss ergriffen gewesen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen; aber es hatte bis dahin im Wege gestanden nicht die Kälte meines Herzens, sondern das einzige Wort im 1. Kapitel: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium geoffenbart.’ Denn ich hasste dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes’, welches ich nach der üblichen Gewohnheit aller Doktoren gelehrt worden war, philosophisch von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit zu verstehen, durch die Gott gerecht ist und Sünder wie Ungerechte straft. Ich aber fühlte mich, obwohl ich als Mönch untadelig lebte, vor Gott als Sünder und unruhig in meinem Gewissen und konnte nicht hoffen, dass ich durch meine Genugtuung versöhnt sei. […] So raste ich in meinem verwirrten Gewissen, pochte aber trotzdem ungestüm an dieser Stelle bei Paulus an, indem ich vor Durst brannte zu wissen, was der hl. Paulus wollte. Da erbarmte Gott sich meiner. Unablässig sann ich Tag und Nacht, bis ich auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird in jenem geoffenbart, wie geschrieben steht: ,Der Gerechte lebt aus dem Glauben.’ Da begann ich die Gerechtigkeit Gottes als diejenige zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt …, nämlich aus dem Glauben, und [erkannte], dass dies die Meinung sei, dass durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart wird, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben.’ […] So, wie ich vorher das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes’ gehasst hatte, mit solcher Liebe pries ich jetzt den mir süßesten Begriff, so wurde mir diese Paulus-Stelle zur Pforte des Paradieses.

So wie für Martin Luther können biblische Texte auch anderen Menschen zur „Pforte des Paradieses“ werden. Es gibt Menschen, die können ihre Lieblingspassagen aus der Bibel sogar auswendig. Andere erzählen, dass sie ihr Konfirmationsspruch (den sie vielleicht sogar zuerst total doof fanden) bis ins Alter hinein begleitet hat. Und wieder andere sind plötzlich von einem Vers, der ihnen irgendwo begegnet, ganz ergriffen. Warum für diese Menschen die Bibel oder einzelne Teile daraus mehr ist als ein Buch, für andere aber nicht, bleibt ein Rätsel. Die theologische Tradition verbindet das mit dem Wirken des Heiligen Geistes, der weht, wo er will (vgl. Joh 3,8) – und die eine anrührt, den anderen aber nicht. Oder dafür sorgt, dass eine bestimmte Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt anrühren. Gefragt nach dem Buch, das ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, würde ich also vielleicht auch antworten: „Sie werden lachen, die Bibel!“ Und Sie?

Michaela Veit-Engelmann

Download pdf