Reli to go 11: Am Anfang stand das Ende – Wie ist das Alte Testament entstanden?

Liest man das Alte Testament, so hat man den Eindruck, es erzähle eine lineare Geschichte, angefangen bei der Erschaffung der Welt und dem ersten Menschenpaar Adam und Eva über die Auffächerung der Völker beim Turmbau zu Babel. Dann folgt die Erwählung eines Volkes bzw. einer Familie, nämlich der von Abraham und Sara, aus deren Nachkommen (Isaak, Jakob, Josef und seine Brüder) dann Israel werden soll und damit das Volk, das Mose aus der ägyptischen Knechtschaft ins Gelobte Land führen würde. Dort lebt das Volk zunächst ohne staatliche Ordnung in der sogenannten Richterzeit, bevor dann die Königszeit beginnt. Die drei großen Könige der Anfangszeit heißen Saul, David und Salomo; doch schon bald darauf kommt es zur Reichsteilung. Und die Könige im Nordreich Israel und im Südreich Juda machen alles falsch, was man falsch machen kann. Dabei hat Mose, folgt man der Chronologie des Alten Testaments, doch schon vom Berg Sinai die 10 Gebote als Richtschnur für richtiges Verhalten mitgebracht. Immer wieder müssen deshalb Propheten als von Gott bestellte Mahner Unheil und Vernichtung ansagen. Doch all das nützt nichts: Gott als souveräner Herrscher der Welt gibt sein Volk der Vernichtung preis, 722 v. Chr. erobern die Assyrer das Nordreich Israel. Im Jahr 587 v. Chr. nahmen dann die Babylonier das viel kleinere Südreich Juda ein und deportierten die Oberschicht ins Babylonische Exil. Doch nur 50 Jahre später schlägt auch dem babylonischen Reich die letzte Stunde und die Deportierten erhalten unter den neuen Herren, den Persern, ihre religiöse Freiheit zurück: Rückkehr nach Jerusalem und Wiederaufbau des Tempels sind möglich.

 

Das Alte Testament erzählt chronologisch, aber so ist es nach einhelliger Meinung der Wissenschaftler*innen nicht entstanden. Niemand war dabei, als Mose auf dem Berg Sinai die 10 Gebote empfing; niemand lag neben Jakob, als er von der Himmelsleiter träumte. Und niemand hat gesehen, wie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Das Alte Testament ist keine Chronik, sondern es ist das Ergebnis eines theologischen Reflexionsprozesses, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

 

Denn: Ursprünglich unterschied sich die Religion in Israel und Juda gar nicht so sehr von denen der Nachbarstaaten. Man verehrte den Gott, den man für das eigene Volk für zuständig hielt – in diesem Fall JHWH. Der König galt als Stellvertreter Gottes auf Erden, in Staatsheiligtümern fand der offizielle Kult statt – im Nordreich Israel in Bethel, Dan und Silo; im Südreich Juda im Tempel in Jerusalem – und umgekehrt verpflichtete sich dieser Gott dafür zum Schutz von Land und Volk.

 

Eigentlich hätte das Volk Israel in den Staaten Israel und Juda diesen Gott JHWH aufgeben müssen. Denn als die Babylonier Jerusalem 587 v. Chr. einnahmen, hatten sich deren Götter als die vermeintlich stärkeren erwiesen. Doch das Volk Israel gab seinen Gott nicht auf! Stattdessen erkannte man: Der Gott JHWH ist nicht nur der Gott Israels, sondern er ist der, der alle Geschicke lenkt und der seine beiden Staaten absichtlich dem Untergang preisgegeben hat. Die Stunde der Katastrophe war die Geburtsstunde des Monotheismus – also des Glaubens daran, dass es nur einen einzigen Gott für die ganze Welt gibt.

 

Die Erfahrung von Zerstörung und Untergang im Rücken und die Gewissheit im Herzen, dass dies bei aller Unbegreiflichkeit von Gott selbst verursacht worden sein musste, begannen die JHWH-Priester im Babylonischen Exil, die Geschichte des eigenen Volkes neu zu erzählen. Sie lasen die alten Geschichten von den Erzvätern und von Mose ganz neu. Sie erkannten: Gott hat einen Bund mit seinem Volk geschlossen, doch hat Israel diesen Bund von Anfang an gebrochen (man denke nur an die Geschichte vom Goldenen Kalb!). Die sogenannte Priesterschrift erzählt deshalb die Geschichte vom Beginn der Welt bis zum Ende des Auszugs aus Ägypten neu – und sie erzählt sie so, dass sie hilft, die eigene Gegenwart zu verstehen. Die Priesterschrift umfasst die ersten vier Bücher Mose, also Genesis, Exodus, Leviticus und Numeri; und ihr gelingt es, alte Geschichten, Überlieferungen und Sagen hier zu einer fortlaufenden Erzählung vom Beginn der Welt fast bis zum Einzug ins gelobte Land zu erzählen.

 

Und noch eine zweite Gruppe von Männern – damals wohl wirklich nur Männer – machte sich daran, angesichts des Untergangs Jerusalems Rückschau zu halten. Diese Gruppe nennt man heute Deuteronomisten, ihr Werk Deuteronomistisches Geschichtswerk. Sie fingen nicht am Anfang der Welt an, sondern sie ordneten die Listen mit Königsnamen und die Erzählungen aus der Frühzeit des Staates Israel und erzählten sie in den Büchern Josua, Richter, 1./2. Samuel und 1./2. Könige neu – und das taten sie, indem sie das 5. Buch Mose, das Deuteronomium, zum Maßstab ihrer Erzählungen machten. An den dort aufgeschriebenen Regeln und Geboten mussten sich nun alle Könige Israels messen lassen. Dabei ist das Deuteronomium, so vermutet die Wissenschaft heute, viel jünger, als es die ersten Überlieferungen von David, Saul und Salomo sind. Erst die Deuteronomisten ordneten das 5. Buch Mose den Königsüberlieferungen vor. Und noch etwas taten sie: Sie sammelten die Aussprüche von Propheten und Mahnungen der Orakel, die Kritisches im Namen ihres Gottes sagten. Und sie deuteten diese Äußerungen nun so, als seien auch sie bereits vom Deuteronomium beeinflusst und würden, mit diesem Buch im Rücken, Recht sprechen und das eigene Volk zurechtweisen. So entstanden die großen Prophetenbücher des Alten Testaments, ebenfalls als Ergebnis der Reflexion des Untergangs Jerusalems.

 

Schließlich füllen die anderen Texte des Alten Testaments, die Psalmen, die Sprüche, das Hohelied, kleine Erzählungen wie das Buch Rut oder poetische Dichtung wie das Buch Hiob, die Zwischenräume dieses Gerüsts aus Priesterschrift und Deuteronomistischem Geschichtswerk farbig aus.

 

Das Alte Testament ist eine ganze Bibliothek von Erfahrungen mit Gott, von Reflexion über Leben und Glauben – und eine fantastische theologische Leistung. Entstanden ist es aus der Katastrophe des Untergangs heraus, doch ist es Dokument eines Glaubens, dessen Größe und Tiefe nur staunen lässt.

 

Dr. Michaela Veit-Engelmann

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