"Deine Anne! Ein Mädchen schreibt Geschichte"

Michaela Veit-Engelmann im Gespräch mit Michael Frey

 

Schüler*innen führen durch eine Anne Frank-Ausstellung

An der Elisabeth-Selbert-Schule in Hameln ist vom 22. November bis 12. Dezember 2019 zum dritten Mal die Ausstellung „Deine Anne! Ein Mädchen schreibt Geschichte“ zu Gast. Sie findet statt im Forum der Elisabeth-Selbert-Schule, Münsterkirchhof. Anmeldungen sind ab Beginn des neuen Schuljahres telefonisch und online über die Homepage der Schule www.ess-hameln.de möglich.
Geeignet ist die Ausstellung vor allem für Schüler*innen ab etwa 14 Jahren. Sie ergänzt das Curriculum insbesondere in den Fächern Geschichte, Religion, Werte und Normen sowie Politik. Auch ein Besuch im Rahmen der Konfi-Arbeit und für Jugendgruppen ist sinnvoll.
Die Ausstellung wird ergänzt durch ein hochkarätiges umfangreiches Programm zum Thema. So ist es gelungen, eine der letzten Überlebenden des berüchtigten Mädchenorchesters in Auschwitz, Esther Bejarano, in Kooperation mit der Sumpfblume für einen Auftritt mit der „microphone mafia“ zu gewinnen. Die „Improkokken“, eine Impro-Theater-Gruppe aus Hannover, kommen mit Workshop und Abendprogramm.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Lebensgeschichte Anne Franks. Schüler*innen der
Elisabeth-Selbert-Schule werden Gleichaltrige, aber auch Erwachsenengruppen durch die Ausstellung führen und über das eigene Leben heute sprechen.
Michael Frey, Berufsschuldiakon in Hameln, stellt sich im Interview den Fragen zu „Deine Anne! Ein Mädchen schreibt Geschichte“:

Michaela Veit-Engelmann: An vielen Schulen gehört das Tagebuch der Anne Frank zur Pflichtlektüre. Was leistet die Ausstellung darüber hinaus?
Michael Frey: Die Ausstellung ist mit ihren audiovisuellen Medien natürlich in der Lage, ein ganz anderes Erlebnis zu ermöglichen. Man sieht sehr große Bildtafeln, wird von Schüler*innen durch die Ausstellung begleitet und angeregt, eigene Beobachtungen zu machen, und das zu entdecken, was einen selbst und persönlich interessiert.

Veit-Engelmann: Was gibt es da zu entdecken?
Frey: Wenn ich die Ausstellung besuche, tauche ich in die Bildwelt des Hinterhausverstecks von Anne und ihrer Familie ein, höre die typischen Propagandastimmen des Dritten Reiches und befinde mich am Ende mit einem Replikat des Tagebuches in einem Raum, der genau so ist wie Annes Zimmer, in dem sie so lange versteckt war. Doch hier macht die Ausstellung nicht halt.

Veit-Engelmann: Sondern?
Frey: Im zweiten Teil geht es genauso intensiv und interessant darum, sich mit der heutigen Lebenswelt auseinanderzusetzen. In Kurzgesprächen, die von Gleichaltrigen angeleitet werden, geht es um Freundschaft, Solidarität und die Frage, welchen Menschen und welchen Informationen ich vertrauen kann.

Veit-Engelmann: Wer steht hinter der Ausstellung?
Frey: In Hameln wird die Ausstellung durch das Berufsschulpfarramt und an der Elisabeth-Selbert-Schule durch die Schulleiterin Frau Grimme, die Abteilungsleiterin des Beruflichen Gymnasiums Frau Dr. Schmidt und top-engagierte Kolleg*innen aus den Fachteams Politik und Religion organisiert. Das Konzept der Ausstellung stammt vom Anne-Frank-Zentrum in Berlin. In Wirklichkeit übergeben wir aber von Beginn der Ausstellung an alles den Schüler*innen und den Jugendlichen der Evangelischen Jugend, die die Guides sein werden.

Veit-Engelmann: Es geht also nicht nur um die Inhalte, sondern auch um deren Vermittlung?
Frey: Genau. Die Jugendlichen sorgen für die Spannung und die Faszination von „Deine Anne!“ Ohne sie wäre die Ausstellung „nur“ wie ein Besuch im Museum. Mit ihnen kommen Leben, Gespräche, einfache und komplizierte Fragen, Trauer und Lachen in das Forum am Münsterkirchhof. Aus den Erfahrungen der letzten beiden Ausstellungen könnte ich jetzt stundenlang schwärmen. Als einmal zwei Schülerinnen einen ganzen Tag eine Besuchergruppe nach der anderen führten, habe ich sie in einer Kaffeepause getroffen. Meine Aufgabe war es, Gummibärchen, Kekse und gute Laune zu bringen. Das war aber völlig überflüssig. Als man hörte, dass die nächste Gruppe ankam, kehrten Energie und glänzende Augen zurück und weiter ging es.

Veit-Engelmann: Wie werden die Jugendlichen zu „Peer Guides“ ausgebildet? Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Frey: Es wird eine Gruppe von ungefähr 20 Schüler*innen direkt nach dem Aufbau der Ausstellung an zwei Tagen in Seminarform ausgebildet. Es gibt Infos über jüdische Gemeinden in Hameln, lokale Geschichte, und natürlich darüber, was Anne und ihre Familie in Amsterdam erlebt haben, so wie es die Ausstellung zeigt. Natürlich wird auch ausprobiert, wie man mit jungen Menschen darüber sprechen kann, was ihnen heute wichtig ist. Am zweiten Tag wird eigentlich nur noch das Begleiten von Gruppen durch die Ausstellung geübt. Nach der Ausstellungseröffnung haben die Guides einen Vollzeitjob. Neben der Schule und ihren Pflichten dort begleiten sie mehrfach wöchentlich Gruppen durch die Ausstellung – und machen großartige Erfahrungen.

Veit-Engelmann: Können Jugendliche sich heute überhaupt noch mit Anne Frank identifizieren?
Frey: Naja, dass Anne ein Mädchen ist, wie ein Mädchen denkt und schreibt, hat es überhaupt erst ermöglicht, dass das Tagebuch auf der ganzen Welt von so vielen jungen Menschen gelesen wird und in so vielen Schulen Unterrichtsstoff ist. Hier entsteht wie von alleine ein großes Maß an Empathie. Es wurde ja in über 70 Sprachen übersetzt. In Deutschland gibt es eigentlich keine Chance, dass man als junger Mensch im Laufe seiner Schulzeit an Anne Frank vorbeikommt.

Veit-Engelmann: Wird hinterher ausgewertet, ob das Konzept aufgegangen ist?
Frey: Ja! Es wird direkt im Anschluss an die Ausstellung ein Auswertungsseminar mithilfe des Anne-Frank-Zentrums geben. Der Trägerkreis trifft sich Anfang Januar und lernt aus dem, was alles geschehen ist. Die Guides bekommen ein Zertifikat über ihre Arbeit und werden nach Berlin zu weiteren Seminaren eingeladen. Wen das Thema gepackt hat, der kann auch Anne-Frank-Botschafter*in werden und weitergehende Verantwortung übernehmen.

Veit-Engelmann: Zur Ausstellung soll es ein regionales Rahmenprogramm geben. Welche Angebote sind denkbar? Und wer sind mögliche Kooperationspartner?
Frey: Zum Beispiel gibt Esther Bejerano, die Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz, ein Konzert. Ein Improvisationstheater macht mit Schüler*innen einen Workshop während der Schulzeit und einen Theaterabend in der Hamelner Sumpfblume.
Dr. Bernhard Gelderblom, der Hamelner Historiker, begleitet Schüler*innen auf Stadtrundgängen durch die Innenstadt. Dabei ist viel von der Geschichte jüdischer Menschen in der Vergangenheit und in der Gegenwart zu entdecken. Es wird einen Spaziergang über den Friedhof am Wehl geben, wo russische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und einige Hingerichtete der Kriegsverbrecherprozesse in Hameln begraben sind. Ein Kreis von engagierten Musiker*innen in Hameln überlegt gerade, das Brass-Oratorium „Anne – damit wir klug werden“ erneut aufzuführen. Das gesamte Programm wird über einen Link auf der Homepage der Schule (ess-hameln.de) zu finden sein. Natürlich gibt es wieder ein Programmheft, das in Pixiheftgröße und mit dem Aussehen des Tagebuchs von Anne alle Informationen enthält.

Veit-Engelmann: Wenn ich nun mit einer Klasse die Ausstellung anschauen will – was muss ich tun?
Frey: Das ist eine Sache, über die ich mich ganz besonders freue: Das EDV-Team der Schule hat eine eigene Website entwickelt, die ein modernes Anmeldetool enthält. Einige Wochen vor Ausstellungsbeginn kann man über einen Link auf der Schulseite alle freien Termine sehen und sich online anmelden. Bei besonderen Wünschen und Fragen kann man eine E-Mail senden an anne.frank@ess-hameln.de. So ist man mit einem Schritt praktisch schon in der Ausstellung. Wir freuen uns sehr über viele Besucher*innen von überall her.