Kirche und Musiktheater - Ein ambivalentes Verhältnis in Schlaglichtern

von Luise Adler und Antje Tumat

Oper und Kirche standen als weltliche und klerikale Institution von Anbeginn in einem ambivalenten Verhältnis zueinander.1  Trotz der ablehnenden Haltung der Kirchenlehre des ersten christlichen Jahrtausends allem Theatralen gegenüber etablierte sich schon früh die Integration szenischer Darstellungen in die Liturgie, im Hochmittelalter etwa in Form von christlichem Laientheater. Noch heute lebt diese Tradition von Spielen im Rahmen des kirchlichen Festkalenders (Passionsspiele, Weihnachtsspiele). Theologische und oft damit auch politische Kontroversen um die moralische Wirkung des Bühnengeschehens begleiten das ambivalente Verhältnis von Kirche und Theater bis in die Gegenwart. Lange wurde dem Schauspielerstand seitens der Kirche eine christliche Bestattung auf dem Kirchhof versagt, und das Theaterleben galt als moralisch fragwürdig – so schloss etwa die puritanische Regierung 1642 das im Londoner Vergnügungsviertel Bankside angesiedelte Globe-Theatre, in dem Shakespeares Theatertruppe spielte. Auch im deutschen Sprachraum stand im ersten „Hamburger Theaterstreit“ im 17. Jahrhundert zur Debatte, ob Theater in einer christlichen Stadt wie Hamburg institutionalisiert werden dürfen. Während Opernaufführungen am Hofe in der Regel temporär und auf bestimmte Festzeiten begrenzt stattgefunden hatten, sollte nun dauerhaft in einem Haus Theater gespielt werden. Die darüber geführte theologische Kontroverse kreiste im Kern um die Frage, ob das Theaterspiel an sich als sündhaft einzuordnen sei oder ihm auch ein ethisch-moralischer Nutzen zugeschrieben werden konnte. Die Hamburger Oper am Gänsemarkt (1678 – 1738) gilt als das erste, permanent mit (musik-)theatralen Formen bespielte und seinerzeit größte bürgerlich-städtische Theater im deutschen Sprachraum. Das Haus wurde 1678 mit einer geistlichen Oper (Johann Theile: Der erschaffene, gefallene und auffgerichtete Mensch oder Adam und Eva) eröffnet.2  Die Frage, ob das Bühnengeschehen die Zuschauenden verführt oder das Theater als „moralische Anstalt“ ethisch wirksam sein kann, begleitete die Theaterreformen und -zensur der folgenden Jahrhunderte und beeinflusste damit auch die Darstellung kirchlicher Themen auf der Opernbühne.

Während es durchaus Opern mit biblischen Sujets aus dem Alten und Neuen Testament gab (dazu zählen um 1800 etwa Étienne-Nicolas Méhuls Joseph 1807 oder Giacomo Rossinis Mosè in Egitto 1807), galten Szenen, in denen die Kirche als Institution oder ihre Repräsentanten in Erscheinung traten, auf der Theater- oder Opernbühne vor 1800 im Wesentlichen als Tabu und wurden daher in der Regel zensiert. Im Rahmen des aufklärerischen Denkens und der fortschreitenden Trennung von Kirche und Staat durften diese Szenen im Zuge des Machtverlusts der Kirche im Europa nach der französischen Revolution wieder vermehrt gespielt werden. Sie wurden zeitweise sogar zu einer Art Modeerscheinung und griffen die kirchenfeindliche Stimmung nach der französischen Revolution auf: Auf den Londoner Bühnen im anglikanischen Kontext insbesondere in Form von Anti-Katholizismus in den sogenannten „Gothic plays“. In diesen antikatholischen Musiktheaterformen wurden nunmehr Darstellungen von gewalttätigen Mönchen und gegen ihren Willen ins Kloster gezwungenen Protagonistinnen auf der Bühne gezeigt.3
 
Diese Werke fanden zwar keinen Eingang in das heute kanonisierte Repertoire, beeinflussten aber kirchenkritische Szenen vieler der Opern, die nach wie vor Teil unserer Spielpläne sind, so etwa in den repräsentativen, massenwirksamen französischsprachigen Opern, den Grand Opéras, die nach der Französischen Revolution die Pariser Opernbühnen mit großem Erfolg zwischen 1830 und 1850 eroberten. Hier bringt etwa Giacomo Meyerbeer historische konfessionelle Konflikte wie die Hugenottenkriege (Die Hugenotten, 1836) oder die Wiedertäuferbewegung (Le Prophète, 1849) aus dem 16. Jahrhundert auf die Bühne. Er setzt religiös konnotierte Musik dazu ein, dramatische Konflikte unmittelbar verständlich zu machen: Meyerbeer verwendet den Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ in dieser Oper, deren Handlung ein historisches Verbrechen der Katholiken an den Protestanten zum Thema hat. Im Bewusstsein, dass die Hugenotten, die in der Pariser Bartholomäusnacht 1572 vom katholischen Königshaus ermordet wurden, nicht Lutheraner, sondern Calvinisten waren, verwendet Meyerbeer den Choral nicht im Sinne einer Verherrlichung des Protestantismus, sondern kritisiert, so Sieghart Döhring, vielmehr die ideologische Besetztheit des Chorals selbst: „Glaubensgewissheit und Mordlust, Kreuz und Schwert haben im Choral ihre gemeinsame Wurzel“.4  Meyerbeers Librettist Eugène Scribe musste bereits bei der Arbeit an dieser Oper auf Kritik der politischen Zensur reagieren.

Der einzige Fall in der bisherigen Operngeschichte, in dem sich die Buchzensur der Heiligen Römischen Inquisition mit einem Libretto beschäftigte, blieb allerdings Verdis Oper Don Carlo. Die Darstellung des Großinquisitors vor König Philipp II. im vierten Akt provozierte derart – hier werde die Institution „undifferenziert zur Chiffre des Bösen“5  –, dass ein Druck- und Aufführungsverbot gefordert wurde.

Während Richard Wagners Opern voller religiöser Stoffe, Themen, Symbole und Anspielungen stecken, er aber letztlich, vor allem in seinen späten Schriften, eine Selbsterlösungsreligion durch die Kunst formuliert, geht Arnold Schönberg, seinerseits an das in der Romantik entwickelte Konzept der Kunstreligion anknüpfend, mit seiner Fragment gebliebenen Oper Moses und Aron wieder zurück auf einen alttestamentlichen Stoff auf der Bühne, zu dem er ein eigenes, sich frei an die Vorlage haltendes Textbuch komponierte.6

Die Faszination der Bühne für religiöse Sujets bleibt auch weiterhin im 20. und 21. Jahrhundert bestehen. Bis in die Gegenwart wird in aktuellen Musiktheaterkompositionen das Verhältnis von Religion und Bühne immer wieder neu gesellschaftlich ausgehandelt, obwohl zeitgenössisches Musiktheater und Religion in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst nicht selbstverständlich zusammengehören. Dennoch finden sich viele Werke, die religiöse Sujets auf der weltlichen Opernbühne thematisieren. Dieser Befund steht allerdings im Widerspruch zu zentralen Forschungsbeiträgen in vielen Handbüchern,7  in denen davon ausgegangen wird, dass durch die fortschreitende Säkularisierung religiöse Themen wenig oder keine gesellschaftliche Relevanz mehr hätten und vermehrt im Privaten diskutiert würden8 ; darüber hinaus gelten religiöse Themen als unvereinbar mit einer avantgardistischen Kunstauffassung. Bei den dennoch seit 1900 nachzuweisenden über hundert musiktheatralischen Werken im religiösen Kontext handelt es sich um Werke, in denen ganz unterschiedliche religiöse Texte, Motive und Assoziationen verarbeitet werden.9  Es finden sich dabei unter anderem klingende Glaubensbekenntnisse, darunter die vierstündige Oper Saint François d‘Assise (1893) des französischen Komponisten Olivier Messiaen. Dieser schreibt im Programmheft zur Uraufführung seiner einzigen Oper, die er als sein „opus summum“, sein bedeutendstes Werk, begriff, er habe dort den „noch nie da gewesene[n] Versuch“ unternommen, seinen „katholischen Glauben durch ein Thema, das dessen Hauptmysterien behandelt, zum Ausdruck zu bringen“.10  Der Stellenwert dieses Werkes lässt sich auch an der Dauer des Kompositionsprozesses von acht Jahren (1975 – 1983) erkennen. Messiaen vertont nicht die gesamte Lebensgeschichte des Heiligen Franziskus, in der er Parallelen zu seiner eigenen Person durchscheinen lässt, z.B. die Liebe zu Vögeln, sondern nur für ihn bedeutsame Facetten, darunter verschiedene Wunder oder auch Franziskus’ Vogelpredigt. Das dreiviertelstündige Rezitieren von Vogelnamen in Messiaens Oper wurde in der Uraufführung mit zahlreichen Buhrufen quittiert. Heiligenfiguren stellen insgesamt ein beliebtes Sujet im 20. Jahrhunderts dar, darunter mehrere musiktheatralische Werke über Franziskus, Johanna von Orléans oder Thomas Becket.

Religiöse Sujets auf der Opernbühne haben bis heute aber auch hohes Provokationspotential, so löste etwa Gottfried von Einems Mysterienoper Jesu Hochzeit einen handfesten Skandal aus. Ihre Uraufführung am 18. Mai 1980 im Theater an der Wien, die bereits im Vorhinein für große mediale Aufmerksamkeit sorgte, wäre beinahe durch katholische Kreise verhindert worden. Zwei Aspekte des von Lotte Ingrisch verfassten Librettos provozierten offenbar besonders: zum einen die thematisierte Eheschließung Jesu, die bereits im Mittelalter und der frühen Neuzeit theatralisch verarbeitet worden war, zum anderen die Darstellung von Maria und Josef als einfache Leute. Nicht nur in der Presse, sondern auch im Programmheft wurden beide Themen diskutiert. Anlässlich der Proteste findet sich dort eine Stellungnahme von Norbert Höslinger, dem damaligen Leiter des Österreichischen Katholischen Bibelwerkes, in der er das „Recht des Künstlers“ vor Mitgliedern der Kirche verteidigt.11  Fünf Tage vor der Uraufführung wurde bei der Staatsanwaltschaft Wien eine Anzeige „gegen unbekannte Täter“, wegen „Herabwürdigung religiöser Lehren gemäß §188 StGB“ eingereicht. Sowohl der Titel als auch zahlreiche Textstellen würden diesen Tatbestand erfüllen, das Libretto sei als „Gotteslästerung“ anzusehen. Gefordert wurde die „Verhinderung strafbarer Handlungen“, also eine Absage der Uraufführung durch Anordnung der Staatsanwaltschaft.12  Die Uraufführung selbst wurde dann von zahlreichen Störaktionen und Unterbrechungen begleitet.

Auch die Oper Antikrist (1999) des dänischen Komponisten Rued Langgaard, die erst mehr als siebzig Jahre nach ihrer Vollendung zur Uraufführung kam, vermochte zu provozieren, allerdings aus anderen Gründen: Das Werk ist nicht religionskritisch, sondern kritisiert im Gegenteil den moralischen Verfall der Menschheit und fällt damit ebenso in die Kategorie der klingenden Glaubensbekenntnisse. Es wurde vom geschäftsführenden Leiter des Kopenhagener Opernhauses nach Begutachtung durch den damaligen Dramaturgen 1923 aufgrund des unverständlichen Librettos abgelehnt. Auch eine zweite Fassung, die noch weniger verständlicher ist, gelangte nicht zur Aufführung, sodass Langgaard zu Lebzeiten keine vollständige szenische Aufführung mehr erlebte.13
 
Gleichzeitig gibt es selbstverständlich auch viele Musiktheaterwerke, die religiöse Themen politisch aufladen und auf die Bühne bringen: In Krzystof Pendereckis Oper Die Teufel von Loudon (1969) wird beispielsweise eine wahre historische Begebenheit rund um Exorzismus und Hexenverbrennung erzählt, während Ann Gebuhr in ihrer Oper Bonhoeffer (2000) einen protestantischen Stoff rund um das Leben des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer verarbeitet. Der sich auch in seiner Kunst zum persönlichen Christentum bekennende Avantgarde-Komponist Mark Andre verbindet schließlich in seiner 2014 in Stuttgart aufgeführten Oper wunderzaichen dezidiert avantgardistische Kompositionstechniken und ein christliches Sujet in höchst differenzierter Art und Weise. Während viele Kritiken begeistert von der hier neu erfahrenen Klanglichkeit schwärmen, kritisieren andere das christliche Sujet und den „Schein der Heiligkeit“: „Gerade die Musiktheater sollten sich nicht als Ersatzverkündigungsstätten andienen, nicht mit Kathedralen oder Dorfkirchen verwechseln“.14  Wenige Sujets vermögen heute auf der Opernbühne noch zu provozieren – die Spannung zwischen Christentum und Musiktheater scheint allerdings nach wie vor nicht ausgeräumt.

Anmerkungen

  1.  Die Vorträge der Ringvorlesung „Musik – Religion – Theater“ an der Universität Paderborn/Musikhochschule Detmold (Sommersemester 2023) werden veröffentlicht in: Höink, Dominik / Tumat, Antje (Hg.): Politik und Religion in Musik und Theater, Baden-Baden 2024.
  2.  Vgl. Rekatzky, Theater, Protestantismus und die Folgen.
  3.  Schuster, Die kirchliche Szene in der Oper, 50ff.
  4.  Döhring, Zwischen Kreuz und Schwert, 59.
  5.  Höink, Das Zensurverfahren gegen Giuseppe Verdis Don Carlo, 331.
  6.  Krämer: Gottesgedanke und künstlerisches Bekenntnis, 336-358. Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung, 5-29.
  7.  Gemeint sind Aufsätze in relevanten Grundlagewerken: u. a. in Das Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Handbuch der musikalischen Gattungen zum Musiktheater im 20. Jahrhundert, Musik und Religion.
  8.  Hiekel, Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven, 116.
  9.  Luise Adler arbeitet derzeit an der Universität Paderborn an einem Promotionsprojekt zum Thema „Religion im zeitgenössischen Musiktheater“.
  10.  Messiaen, Programmheft, 42.
  11.  Dietrich/Greisenegger, Pro und Kontra Jesu Hochzeit, 152f.
  12.  A.a.O., 192-198.
  13.  Vgl. Nielsen, Antikrist.
  14.  Frieder Reininghaus: Mancherlei Opernmirakel, 41.

Literatur

  • Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung in Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron, in: Musik und Ästhetik (9/33) 2005, 5-29
  • de la Motte-Haber, Helga: Grenzüberschreitung als Sinngebung in der Musik des 20. Jahrhunderts, in: Dies. (Hg.): Musik und Religion, Laaber 22003, 287-321
  • Dietrich, Margret / Greisenegger, Wolfgang (Hg.): Pro und Kontra Jesu Hochzeit. Dokumentation eines Opernskandals, (Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft 3), Wien / Köln / Graz 1980
  • Döhring, Sieghart: Zwischen Kreuz und Schwert. Der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott in Meyerbeers Les Huguenots, in: Österreichische Musikzeitschrift (72/2) 2017, 56-59
  • Heister, Hanns-Werner: Ritualisierung II und Minimalismus, in: Mauser, Siegfried (Hg.): Musiktheater im 20. Jahrhundert, (Handbuch der musikalischen Gattungen 14), Laaber 2002, 359-372
  • Hiekel, Jörn Peter: Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945, in: Ders. / Utz, Christian (Hg.): Lexikon Neue Musik, Stuttgart / Kassel 2016, 116-134
  • Höink, Dominik: Das Zensurverfahren gegen Giuseppe Verdis Don Carlo vor der Römischen Inquisition, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 11 (2020), 323-353
  • Krämer: „... das Grenzenlose in ein Bild zu fassen“: Gottesgedanke und künstlerisches Bekenntnis in Schönbergs „Moses und Aron“, in: Die Musikforschung, (70/4) 2017, 336-358
  • Messiaen, Olivier: Saint François d’Assise (Scènes franciscaines), Programmheft der Pariser Uraufführung, Paris 1983
  • Nielsen, Bendt Viinholt: Rued Langgaard. Antikrist (BVN 192). Commentary, Kopenhagen 2008
  • Rekatzky, Ingo: Theater, Protestantismus und die Folgen. Gänsemarkt-Oper (1678-1738) und Erster Hamburger Theaterstreit, Leipzig 2019
  • Reininghaus, Frieder: Die süßen Versuchungen des Glaubens, in: ders. / Schneider, Katja (Hg.),:Experimentelles Musik- und Tanztheater, (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 7), Laaber 2004, 283-309
  • Reininghaus, Frieder: Mancherlei Opernmirakel. Schein der Heiligkeit und neue Glaubensbotschaften, in: Österreichische Musikzeitschrift (70/6) 2015, 34-41
  • Schuster, Robert: Die kirchliche Szene in der Oper des 19. Jahrhunderts, Sinzig 2004