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Anstöße für eine theologisch-historische Hermeneutik des Korans

von Mouhanad Khorchide

 

In der theologisch-historischen Hermeneutik des Korans geht es um einen theologischen Zugang zum Koran, der den Koran als die Selbstoffenbarung Gottes würdigt. Diese Offenbarung ereignet sich in der und durch die Geschichte, daher ist die Geschichte des Korans die Geschichte Gottes mit dem Menschen, und daher ist der Koran nicht der Monolog Gottes, sondern Gottes Menschenwort.

Demnach stellt der Koran viel mehr dar als nur eine Mitteilung, einen Brief Gottes an die Menschen. Im Koran teilt Gott sich selbst mit; es ist Gott, der mir im Koran begegnet, allerdings durch die Geschichte und somit durch Kategorien, zu denen der Mensch Zugang hat.

Diese Unterscheidung zwischen der Auffassung des Korans als von Gott mitgeteilte Instruktion/Botschaft auf der einen Seite und seiner Auffassung als die Gegenwart Gottes, der sich selbst im Koran offenbart, ist für die Hermeneutik, die ich hier kurz skizziere, zentral.


Der Koran als Selbstoffenbarung Gottes

Der Koran charakterisiert Gott als ein Wesen, das in personaler Weise dem Menschen unbedingt zugewandt ist. Diese koranischen Beschreibungen Gottes als der liebende Barmherzige stellen eine Mitteilung über Gott dar. Sie machen Aussagen über Gott, wie er ist und wie er in der Welt handelt. Der Koran als Selbstoffenbarung Gottes bedeutet allerdings, dass sich im Koran nicht nur eine Mitteilung Gottes bzw. der Wille Gottes offenbart, sondern es ist zugleich die Wirklichkeit Gottes selbst, die den eigentlichen Inhalt der Offenbarung darstellt. Der Koran ist daher mehr als nur ein Buch, in dem ich als Muslim lese, wie Gott ist und was Gott mir sagen will, denn der Koran ist ein Ereignis; in ihm ereignet sich die Zuwendung Gottes. Gott selbst wird im Koran gegenwärtig.

Um dies zu verdeutlichen, muss man sich in den Kontext der Offenbarung des Korans im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel hineinversetzen. Wie haben Mohammad und die Erstadressat*innen den Koran wahrgenommen?


Der Koran als Gottes Menschenwort

Der Koran wurde bekanntlich nicht auf einmal, sondern sukzessive innerhalb von 23 Jahren (610 bis 622 mekkanische Phase und 622 bis 632 medinensische Phase) in verschiedenen zeitlichen, räumlichen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten offenbart. Der Koran begleitete die Menschen über diesen Zeitraum unmittelbar und reagierte auf deren Anliegen. Im Bewusstsein der Erstadressat*innen war der Koran kein abstraktes, von ihrem Leben unabhängiges Buch, das ihnen irgendwelche Lehrsätze vermitteln wollte, sondern eine ständige Präsenz Gottes in ihrem Leben, und zwar als ein bekümmerter, betroffener, sorgender und besorgter Gott. Sie haben nicht im Koran gelesen, wie wir dies heute tun, denn der Koran wurde später und erst nach dem Tod des Propheten Mohammad schriftlich fixiert, wie wir es heute zwischen zwei Buchdeckeln in den Händen halten. Im Bewusstsein der Erstadressat*innen des Korans war es eigentlich nicht der Koran, der sie begleitet, sondern Gott selbst. Im Koran hat sich ihnen ein mit einer liebenden Barmherzigkeit zugewandter Gott offenbart, der sich allen Menschen zuwendet und sie zur Beziehung mit ihm einlädt. Diese liebende Barmherzigkeit manifestierte sich für die Erstadressat*innen im begleiteten Klang des Korans, durch den Gottes „Emotionen“ realisierbar wurden. Diese drückten an erster Stelle Gottes Sorge um die Unterdrückten, die Bedürftigen, die Leidenden, aber auch um diejenigen, die „nein“ zur Annahme von Gottes liebender Barmherzigkeit gesagt haben, aus. Der Koran stellte daher für die Erstadressat*innen die Beziehungszusage Gottes schlechthin dar: „Er liebt sie und sie lieben ihn“ (Q 5:54). Gott lädt den Menschen ein, sein Leben auf ihn hin auszurichten, und sagt ihm zu, ihm in dieser Ausrichtung immer neu entgegenzukommen.


Der Koran jenseits einer Instruktion

Eine – auch unter Muslim*innen – verbreitete Vorstellung des Korans bezieht sich primär auf juristische Aspekte; dieser Vorstellung nach ist der Koran primär ein Gesetzbuch, das ein möglichst alle Lebensbereiche der Menschen umfassendes juristisches Schema entwirft. Demnach gehe es im Islam um die Befolgung von klaren Gesetzen, die der Koran explizit aufführt und für alle Zeiten und Orte verbindlich vorschreibt. Dieses Islamverständnis dominiert heute und führt zu einer konfliktträchtigen Situation: Einerseits stehen viele Muslim*innen vor dem Dilemma, dass sie alle juristischen Regelungen des Korans wortwörtlich ins Hier und Jetzt übertragen wollen, diese sich jedoch nicht mit ihrer Lebenswirklichkeit vereinbaren lassen. Andererseits haben viele Menschen in Europa Angst vor einer Religion, die den Anspruch hat, eigene – zu dem im jeweiligen Nationalstaat geltenden Recht zum Teil in Konkurrenz oder Widerspruch stehende – Gesetze einzuführen.

Wenn wir den Koran auf eine Mitteilung/Instruktion Gottes reduzieren, dann wäre die Aufgabe der Gläubigen heute darauf beschränkt, den Koran als Text zu behandeln, den man auszulegen versucht (philologisch, historisch, literaturwissenschaftlich usw.), um zu verstehen, was Gott uns Menschen an Instruktionen mitteilen will. Es ist dann der Text und nicht Gott, der hier im Mittelpunkt steht. Zugespitzt kann man meinen, dass nach diesem Verständnis des Korans Gott im Akt der Auseinandersetzung mit dem Koran keine unmittelbare Rolle mehr spielt, um den Koran zu verstehen. Es geht lediglich um die „Dekodierung“ eines Textes1  bzw. um die ethische Rekonstruktion seiner Botschaft2 , Gott habe im Koran alles gesagt, was er uns mitteilen wollte, der Koran ist nun abgeschlossen.

Der Koran als Selbstoffenbarung Gottes bedeutet hingegen, dass ich es im Koran unmittelbar mit Gottes Gegenwart zu tun habe. Der Koran ist demnach nicht lediglich ein Text, der ausgelegt werden will, sondern eine Begegnung mit Gottes Wirklichkeit, die zur Freiheit ruft und als Erfahrung der Freiheit erlebt werden will, so wie Mohammad und die Erstadressat*innen ihn erlebt haben. Gott ist im Erleben des Korans, vor allem im Akt seiner Rezitation, präsent, sein Zusagewort im Koran, das im Herzen klingt und dieses berührt, will zur Liebe entzünden und macht das Angebot, auch an mich heute, diese Liebe anzunehmen und im gelebten Leben zu verwirklichen.


Die liebende Barmherzigkeit als hermeneutisches Kriterium

In meiner Auseinandersetzung mit dem Koran als Offenbarung Gottes schließe ich an das neuzeitliche Freiheitsdenken an, um die neuzeitliche Wende zum Subjekt für die Auseinandersetzung mit der islamischen Offenbarung fruchtbar zu machen. In dieser Wende zum Subjekt versteht der Mensch sich als Ausgangspunkt seines Denkens und Handelns. Wahrheit muss für ihn als vernünftig einsichtige Wahrheit expliziert werden. Durch die Einbindung neuzeitlichen Freiheitsdenkens in die theologische Reflexion der islamischen Offenbarung lässt sich die Rede von Offenbarung im Islam vor der Vernunft nachvollziehbar verteidigen, und so macht sich auch die islamische Theologie, gerade in einem nichtislamischen Kontext, kommunikabler.

Freiheit als Bestimmungsmoment der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen entspricht der koranischen Kategorie der Barmherzigkeit, die ich im Sinne der syro-aramäischen Deutung des koranischen Wortes für die Beschreibung des Wesen Gottes ar-raḥmān (der Liebende) „liebende Barmherzigkeit“ bezeichne, um sie von einer bloß vergebenden Barmherzigkeit abzugrenzen3.  Mit der liebenden Barmherzigkeit ist hier die bedingungslose Zuwendung Gottes dem Menschen gegenüber und seine Entschiedenheit für ihn und somit für seine Freiheit zu verstehen. Im Zentrum der Rede Gottes steht daher die menschliche Freiheit in ihrer ursprünglichen Unbedingtheit. Diese gilt zugleich als Ausweis der bleibenden Ansprechbarkeit des Menschen für und seiner Verwiesenheit auf ein sich offenbarendes Wort.

Die Offenbarung als Freiheitsgeschehen zu denken, löst das Problem einer konstruierten Konkurrenzstellung von göttlicher und menschlicher Freiheit, von göttlichem und menschlichem Willen. Im Geschehen der Liebe als freiem Entgegenkommen bleibt und wird die andere Freiheit anerkannt; der Mensch wird darüber hinaus ermutigt, sich aus dieser zuvorkommenden Liebe heraus selbst neu zu bestimmen4.  Weil sich also Freiheit durch die Bejahung anderer Freiheiten verwirklicht, herrscht kein Konkurrenzverhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit und somit keine gegenseitige Begrenzung oder gar Negation, sondern ein komplementäres Verhältnis. Freiheit als zum Wesen Gottes gehörend bedeutet, dass Gott von seinem Wesen her sich selbst dazu bestimmt hat, Freiheit zu schenken. Ausgestattet mit dieser Freiheit ist es dem Menschen in seinem Wesen gegeben, sich als diese Freiheit selbst zu realisieren.

Wenn der Koran das Ziel göttlichen Schöpfungshandelns als Suche nach Mitliebenden bestimmt hat, dann ist damit Freiheit bereits mitgedacht. Und so ist die Geschichte Gottes mit uns Menschen – und damit eng verbunden sein Selbstoffenbarungsgeschehen – notwendigerweise eine Freiheitsgeschichte und ein Freiheitsgeschehen, denn Liebe setzt wirkliche Freiheit voraus, Freiheit ist das Gesetz der Liebe.

Siegel der Freiheit ist nach koranischem Zeugnis die Bestimmung des Menschen zum Kalifen (Stellvertreter Gottes, Statthalter) im Sinne eines Mediums der Verwirklichung von Gottes Intention nach Liebe und Barmherzigkeit. Um die Freiheit des Menschen zu schützen, greift Gott nämlich in die Welt nur auf eine Weise ein, die diese Freiheit des Menschen nicht beeinträchtigt und daher hauptsächlich durch den Menschen selbst, der sich in Freiheit für die Freisetzung von Freiheit, also für die Liebe, einsetzt. Es ist nicht Gott, der unmittelbar in die Welt eingreift, um Hungersnot zu beseitigen bzw. Kriege oder das Böse zu verhindern, sondern wir Menschen sind die „Hände“ Gottes, um dies zu verwirklichen, wenn wir uns in Freiheit zur Verfügung stellen.

Der Mensch hat somit eine verantwortliche Teilhabe an Gottes schöpferischem Wirken. Seine Freiheit entspricht sich selbst nur dann, wenn sie sich von Gott beanspruchen lässt bzw. dass sie in der Ablehnung Gottes dem widerspricht, „was sie selbst will, wenn sie tut, was sie – sich selber und anderer Freiheit verpflichtet – tun soll“5.  Indem sich der Mensch Gott öffnet und sich als Medium der Verwirklichung von Gottes Liebe und Barmherzigkeit zur Verfügung stellt, verwirklicht er dadurch seine eigene Freiheit.

Und das ist genau die Geschichte der Offenbarung des Korans. Sie ist eine Geschichte, deren Hauptakteure Gott und Mensch sind. In ihr vergegenwärtigt sich Gott in menschlichen Kategorien und somit ist der Koran die Offenbarung Gottes in Menschenwort. Denn die Offenbarung Gottes als Freiheitsgeschehen will die Adressat*innen des Korans zur Freiheit ermutigen und keinesfalls aus ihnen unbeteiligte Empfänger und somit lediglich Objekte von Gottes Barmherzigkeit machen. Zugleich bezeugt der Koran das Risiko, das Gott eingeht, seine Beziehung zu den Menschen als Freiheitsbeziehung zu bestimmen und daher dem Menschen Freiheit zu schenken. Sehr oft hat der Mensch die ihm geschenkte Freiheit missbraucht und so auch für andere nachhaltig verstellt. Er tut dies auch heute noch.

Daher zeichnet der Koran keine heile Welt ohne Leid, Krieg und Egoismus, sondern beschreibt diese Defizite, die meist aus dem Missbrauch menschlicher Freiheit und somit der Zurückweisung von Freiheit resultieren. Er will, vor allem durch seinen ergreifenden und bewegenden Klang, die Erstadressat*innen wie auch die heutigen Rezipient*innen des Korans dazu ermutigen, durch ihr eigenes Handeln und durch ihren Einsatz in der Welt ein Medium der Verwirklichung göttlicher liebender Barmherzigkeit zu sein, um dadurch sich selbst und seiner eigenen Freiheit zu entsprechen. Durch den Klang des Korans geschieht Gottes Selbstoffenbarung in jedem Akt der Rezitation und des Hörens des Korans.


Zwei Schritte einer theologischen Koranhermeneutik

Dieses Verständnis einer dialogischen kommunikativen Offenbarung hat aber entscheidende Konsequenzen für die Frage nach einem theologisch-hermeneutischen Zugang zum Koran heute. Denn auch diese Hermeneutik kann nur dialogisch geschehen, und sie selbst bedeutet eine Aktualisierung des Offenbarungsgeschehens. Sie deckt nicht nur die Barmherzigkeit Gottes in der Geschichte des Korans und ihrem Zeugnis bzw. dem Zeugnis ihrer Zurückweisung auf, sondern zeigt Wege der Erfahrbarmachung von Gottes liebender Barmherzigkeit im Koran sowie durch ihn – damals und heute.

Es geht nicht darum, den endgültigen Deutungssinn jedes koranischen Verses bzw. jeder koranischen Sure auszuarbeiten, um dann zu meinen, den Koran endgültig richtig verstanden zu haben. Es geht auch nicht um die eine richtige Auslegung des Korans, denn diese gibt es nicht. Der Koran ist die Vergegenwärtigung Gottes liebender Barmherzigkeit, und darum geht es in dieser historisch-theologischen Hermeneutik. Es handelt sich also um zwei aufeinander aufbauende Schritte:

Im ersten Schritt geht es darum, das Zeugnis der liebenden Barmherzigkeit Gottes in der Geschichte seiner Offenbarung (610-632) aufzudecken, danach zu fragen, wo sie konkret Wirklichkeit wird. Wo hat die Begegnung mit dem Koran die Erstrezipient*innen zur Liebe entzündet? Welchen Wandel der Geschichte der Erstrezipient*innen in Richtung der Freisetzung von Freiheit und somit der Entfaltung von liebender Barmherzigkeit hat die Begegnung mit dem Koran angestoßen?

In einem zweiten Schritt geht es darum, die heutigen Rezipient*innen des Korans für die Begegnung mit dem Koran als Begegnung mit der liebenden Barmherzigkeit Gottes zu sensibilisieren. Auf diese Weise soll ihnen die Möglichkeit eröffnet werden, die liebende Barmherzigkeit Gottes in dieser Begegnung für sich neu zu entdecken, um sie dann in das eigene Leben zu tragen und zu einer erfahrbaren Wirklichkeit zu machen. Damit bleibt der Koran auch für seine heutigen Rezipient*innen als Ereignis der Begegnung mit Gottes liebender Barmherzigkeit lebendig. Da der Koran weniger über Lehrsätze und juristische Regelungen informieren, sondern zur Liebe entzünden will, macht er aus seinen Rezipient*innen keine Objekte der Hörigkeit. Sie sind immer zugleich die Subjekte des Korans, die sich mit ihrer Lebenswirklichkeit in eine offene Kommunikation mit dem barmherzigen Gott einbringen, um die Frage an sich zu stellen, wie sie die Liebe, die sich in ihnen durch die Begegnung mit dem Koran entzündete, in ihrem jeweiligen Lebensentwurf verwirklichen können. Wenn der Mensch diese Einladung zur Liebe und Barmherzigkeit annimmt und sie in sein Leben durch sein Handeln verwirklicht, dann schreibt er Gottes Offenbarung fort.

Anmerkungen

  1. Vgl. Abu Zaid, Gottes Menschenwort.
  2. Vgl. Rahman: Islam and modernity.
  3. Vgl. Khorchide: Gottes Offenbarung in Menschenwort,  105ff.
  4. Vgl. Jansen, Wenn Freiheit wirklich wird, 176.
  5. Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip, 35, sieht   das Subjekt ein, dass es in der geschuldeten Anerkennung Gottes sich selbst entspricht, so ist auch seine autonome Würde bestätigt; vgl. Platzbecker, Religiöse Bildung als Freiheitsgeschehen, 107f.

Literatur

  • Abu Zaid, Nasr Hamid: Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran, Freiburg 2009
  • Rahman, Fazlur: Islam and modernity, Chicago 1982
  • Khorchide, Mouhanad: Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit, Freiburg i. Br. 2018
  • Jansen, Helmut: Wenn Freiheit wirklich wird. Erlebnispädagogische Jugendpastoral in kritischer Sichtung, Münster 2007
  • Pröpper, Thomas: Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1991
  • Pröpper, Thomas: Freiheit als philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik, in: BIJDR. 59, 1998: 20-40
  • Platzbecker, Paul: Religiöse Bildung als Freiheitsgeschehen. Konturen einer religionspädagogischen Grundlagentheorie, Freiburg i. Br. 2013