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gelesen: Die Wartburg Tagebücher

von Christina Harder

 

Auf der Wartburg in Thüringen übersetzte Martin Luther das Neue Testament erstmals in die deutsche Sprache. Jede Übertragung von Worten, Sätzen in eine andere Sprache ist zugleich eine Auslegung ihrer Bedeutung. So prägte Luther also vor gut 500 Jahren eine Sprachform und darin (s)eine Auslegung biblischer Texte, mit denen sich die Autorin Iris Wolf sowie die Autoren Uwe Kolbe und Senthuran Varatharajah in ihren Wartburg-Tagebüchern auseinandersetzen. In ihren sehr unterschiedlichen, persönlichen Texten spüren sie dem eigentümlichen Gefühl der Unverfügbarkeit von Sprache sowie dem Gefühl von Heimat in einer Sprache nach.

Die Wartburg-Bücher, so der Klappentext, sind eine „Hommage an die Sprache und ihre Ausdruckskraft“ und zugleich eine „Mahnung für den behutsamen Umgang mit der unkontrollierbaren Macht der Worte, die wahre und falsche Wirklichkeiten entstehen lassen.“

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Iris Wolff: Fische fangen – Unterwegs in der Sprache

Einer der schönsten Spaziergänge der Wartburg führt zu den Eliashöhlen. Mitten im Wald, wo das Novemberlaub den Boden wie ein kupferfarbener Teppich verhüllt, öffnet sich überraschend eine Senke. Man fühlt sich, von bemoosten Steinquadern umschlossen, in den Bauch der Erde gerückt. Mehrere Spalthöhlen durchwirken die Felsen. Der Legende nach soll ein Einsiedler namens Elias in einer der Höhle gelebt haben, und Elisabeth von Thüringen versorgte ihn. Die Namensverwandtschaft zum Propheten Elia (auch Elija oder Elias) sowie ein Hinweis lassen mich 1. Könige 19 (11-13) aufschlagen, wo es in der Lutherübersetzung heißt: „Und siehe, der Herr wird vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht in dem Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle.“

Nicht im Wind, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, den großen Gewalten (oder täuschenden Vorstellungen), erfährt der Einsiedler Gottes Gegenwart, sondern in etwas, das zart ist, ruhig, behutsam, zärtlich, sacht, mild – einem stillen, sanften Sausen. […]

Wie wird diese zentrale Erfahrung des Propheten Elia in anderen Übersetzungen wiedergegeben? Die Elberfelder Bibel spricht vom „Ton eines leisen Wehens“. In der Basis-Bibel heißt es: „ein sanftes, feines Flüstern“, und in der englischen Standardübersetzung: „the sound of a low whisper“. In der Vulgata: „sibilius aurae tenius“, was entweder das „leichte Säuseln des Lüftchens“ oder das „Säuseln des leichten Lüftchens“ meint. Im hebräischen Urtext stehen drei Wörter, die mit „Stimme, Geräusch, flüstern“ und „sanft, fein, dünn“ übersetzt werden können. Wohl am freiesten geht Martin Buber mit der Vorlage um, er spricht von einer „Stimme verschwebenden Schweigens“.

Etwas, das schwebt, ist ohne festen Halt, etwas Ungefähres, Langsames, Flüchtiges, Freies. Es bezeichnet einen Vorgang, der nicht abgeschlossen, sondern in Bewegung ist. Doch indem das Wort schweben das Präfix ver erhält, verändert es sich. Der Duden listet insgesamt acht Bedeutungen dieser Vorsilbe. Die wichtigsten sind (neben der negativen Konnotation, die eine Veränderung bis hin zur Zerstörung beschreibt): Markierung einer Veränderung oder Bewegung; eine Person oder Sache wird zu etwas gemacht, in einen bestimmten Zustand versetzt; ein starker Einfluss, eine schwer rückgängig zu machende Änderung auf den körperlichen oder seelischen Zustand wird angezeigt. Wer will, kann dies prüfen an den Verben: verliebt, vertan, verloren, verlassen, vergeben.

Zuletzt kommt in Martin Bubers Übersetzung noch das Schweigen hinzu. Eine „verschwebende Stimme“ ist etwas, das noch vorstellbar ist, aber eine „Stimme verschwebenden Schweigens“? In diesem Dreiklang, in diesem Beieinander der Worte hört das verstandesgemäße Forschen auf, hier geht es darum, das sprachliche Bild auf sich wirken zu lassen. Hier wird die Sprache im Sinne Varnhagens echt, sie wird selbsterfunden. Buber schafft eine Metapher, die unsere Vorstellung verwandelt.1

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Uwe Kolbe: Das Wartburg-Konglomerat

Über Erziehung. „Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben […]“. Römer 8, 16-17

Am 14. September 2021 begegnete mir vormittags eine Gruppe von Schulkindern auf einem breiten Wanderweg im Thüringer Wald unweit der Wartburg. Vierzig bis fünfzig etwas zwölf Jahre alte Mädchen und Jungen plauderten sich munter den Weg herab. Ein paar Jungs rissen die Arme hoch, winkten und grüßten mich lauthals. Stumm und mit ausdruckslosen Gesichtern trieben eine Lehrerin und ein Lehrer in der Menge mit. Aus mehreren elektronischen Wiedergabegeräten tönten verschiedene Popsongs über das Plaudern der Schülerinnen und Schüler weg, begleiteten das Gehen der Gruppe durch den Wald.
Der Vormittag war schön, es wollte noch einmal warm werden. Das Herbstlicht lag schräg in den Bäumen. Wenige Minuten zuvor hatte ich unweit von hier eine Eule aufgeschreckt. Meisen und Buchfinken huschten links und rechts des Weges durch das Unterholz. […]

Die Lehrerin und der Lehrer wussten nicht, dass sie ihre Schüler zu potenziellen Ignoranten machten. Manche von ihnen werden die Welt retten wollen und dafür zum Beispiel freitags für die Zukunft demonstrieren. Doch ich befürchte, die Welt, die sie kennen, wird vor allem ein Begriff sein und eine Abfolge technisch reproduzierter Bilder.2

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Senthuran Varatharajah: Solo (Allein)

Ich sehe die Spiegelung meines halbierten Gesichts vor mir auf dem Fenster. Ich lese einen Vers aus dem Römerbrief, Römer 1,19: „Denn, was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart.”

Als ich ein Kind war, dachte ich, dass Gott der Inbegriff unserer Vorstellungskraft sei; dass Gott der ist, über den wir hinaus nichts Größeres denken können. Als Kind glaubte ich, wenn ich mir Gott vorstellen könnte, würde ich mir alles vorstellen können: weil alles aus Gott kam und zu ihm zurückkehren wird. Weil Gott immer beides ist: Möglichkeit und Wirklichkeit, zur gleichen Zeit. Gott offenbarte sich mir durch Sprache. […]

Wenn ich in Sri Lanka bin, in Jaffa, in der Stadt, in der ich geboren wurde, werde ich für einen Amerikaner gehalten. Das ist die zweite Übersetzung, nach der Flucht nach Deutschland; in einen anderen Kontinent und in ein anderes Alphabet; in diese Sprache, die, wie jede andere Sprache auch, nie meine Sprache gewesen sein wird, und in eine an-der Hand. Yoko Tawada sagt, dass „jeder Konsonant, jeder Vokal und vielleicht auch jedes Komma die Fleischzellen durchlaufen und die sprechende Person verwandeln. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum die Emigranten in der zweiten oder dritten Generation andere Gesichter bekommen als diejenigen, die im Land der Vorfahren geblieben sind.“3 Das ist eine neutestamentliche Evidenz. Mein Gesicht ist ihr Zeuge. Denn was man von mir erkennen kann, ist unter mir verborgen; weil Gott es hier verborgen hat. Wie einen Konsonanten. Wie alle Vokale. Wie derselbe Abstand zwischen den Zeichen.4

Anmerkungen

  1. Wolff, Iris: Fische fangen – Unterwegs in der Sprache, in: Wolff/Kolbe/Varatharajah: Der Augenblick nennt seinen Namen nicht, 28-30.
  2. Kolbe, Uwe: Das Wartburg-Konglomerat, in: Wolff/Kolbe/Varatharajah: Der Augenblick nennt seinen Namen nicht, 55-56.
  3. Tawada, Yoko: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesung. Tübingen: Konkursbuch 1998, 8.
  4. Varatarajah, Senthuran: Solo (allein), in: Wolff/Kolbe/Varatharajah: Der Augenblick nennt seinen Namen nicht, 120-121.