Kirchliche Friedensarbeit und gewaltfreier Widerstand in der DDR - Oder: Was können wir heute von der „Kirche im Sozialismus” lernen?

von David Käbisch


Selig sind die Pazifisten, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ – als im vergangenen November Landesbischof Friedrich Kramer seinen Bericht als Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland mit diesem Motto aus Matthäus 5,9 begann, positionierte er sich in einer Art und Weise in den laufenden friedensethischen Debatten zum russischen Überfall auf die Ukraine, die nicht unwidersprochen blieb.1 Der Widerspruch entzündete sich nicht nur an der deutungsstarken, interessengeleiteten Übersetzung des bekannten Verses aus den Seligpreisungen, sondern auch an der „klaren Positionierung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine“ vor dem Hintergrund seiner „persönlichen Erfahrungen in der kirchlichen Friedensarbeit und im gewaltfreien Widerstand in der DDR“. Mit Hinweis auf die Friedliche Revolution und ihre lange Vorgeschichte in der kirchennahen Opposition trat und tritt Kramer auch in anderen Kontexten dafür ein, den „Einsatz für Frieden und Gewaltlosigkeit gerade jetzt mit aller Kraft“ fortzuführen und sich nicht auf eine Spirale der Gewalt und Gegengewalt einzulassen.2

Der Friedensbeauftragte des Rates der EKD repräsentiert mit dieser Position keineswegs die Mehrheitsmeinung der Kirchenleitung oder anderer Stimmen aus dem Kirchenamt der EKD. Die theologisch anders akzentuierte Stellungnahme von Johannes Wischmeyer kann dafür als Beispiel dienen. Bereits im März 2022 hatte er in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) gefordert, dass ein „neuer Ton im Reden vom Frieden“ in den Kirchen nötig sei.3 Gefragt sei vor allem eine von politischen Forderungen unterscheidbare „Sprache, die unauflösbare Dilemmasituationen nicht wegargumentiert, sondern auf den Punkt bringt, die Leidens- und Mitleidenserfahrungen aufnimmt und die sich nicht scheut, das Böse böse zu nennen.“4 Der Abteilungsleiter für theologische Grundsatzfragen im Kirchenamt der EKD hat mit Blick auf traumatisierende Kriegserfahrungen zudem eine Sprache im Blick, die „Glaubenden und Zweifelnden“ dabei helfen kann, „ihre Hoffnungen und Sorgen im Medium der Religion zu artikulieren.“5 Und zum Dritten gehe es darum, dem kirchlichen Reden durch globale Entwicklungshilfe, praktische Friedensarbeit „vor Ort“ und Flüchtlingshilfe Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Die facettenreiche friedensethische, kirchenpolitische und theologische Diskussion zum Krieg in der Ukraine kann und soll an dieser Stelle nicht rekonstruiert werden.6  Mit Bezug auf die von Kramer angestoßene Diskussion steht im folgenden Grundsatzbeitrag vielmehr die bildungstheoretische Frage im Mittelpunkt, was Schüler*innen am Beispiel der kirchlichen bzw. kirchennahen Friedensarbeit in der DDR über den Zusammenhang von Politik und Religion sowie Formen gewaltfreien Widerstandes lernen können. Mit diesem Fokus kommt nur ein kleiner, auf die 1980er-Jahre fokussierter Ausschnitt der 40-jährigen, komplexen Geschichte der „Kirche im Sozialismus” in den Blick.7

Obwohl ich selbst im Jahr der Friedlichen Revolution erst 14 Jahre alt war und damit einer anderen Generation als Landesbischof Friedrich Kramer angehöre, möchte ich in diesem Zusammenhang ebenfalls persönliche Erinnerungen an die kirchennahe Friedensbewegung ins Spiel bringen, wie ich sie als ostdeutsches Pfarrerskind Ende der 1980er erlebt habe. Eine wichtige Erinnerungshilfe sind dabei die umfangreichen Unterlagen, die das Ministerium für Staatssicherheit über die Gemeinde meines Vaters und seine Aktivitäten angelegt hat. In einem 2010 veröffentlichten Materialheft und Online-Portal zu den Akteuren der Friedlichen Revolution in Zwickau haben wir die Unterlagen gesichtet und für die Bildungsarbeit in Schulen und Gemeinden zugänglich gemacht.8 


Die politische Bedeutung von Religion in unscheinbaren Konfliktsituationen

Schüler*innen können an den Akteuren der friedlichen Revolution die politische Bedeutung von Religion in unscheinbaren oder heute vielfach vergessenen Konfliktsituationen kennenlernen. In seiner kollektivbiografischen Untersuchung von Friedensaktivisten in der DDR geht beispielsweise Alexander Leistner in einer 2016 erschienen Studie der Frage nach, wie der Zweite Weltkrieg „als generationenkonstituierender Erfahrungshintergrund“ die Entstehung der Friedensbewegung in der DDR geprägt hat.9 Die familial tradierten und erinnerten Kriegserlebnisse führten seiner Einschätzung nach zu ganz unterschiedlichen Facetten des Engagements.

Obwohl sich die DDR als „Friedensstaat“ inszenierte und dafür ebenfalls den Zweiten Weltkrieg als gemeinsamen Erfahrungshintergrund nutzte, bekämpfte sie die kirchennahe Friedensbewegung vor allem mit konspirativen Methoden. Als ein Beispiel sei der Friedenskreis um den Zwickauer Domküster Jörg Banitz erwähnt, der am 21. Dezember 1983 gemeinsam mit Lutz Schreckenbach, Monika Trommer und dem inoffiziellen Stasimitarbeiter (IM) „Horst Kolbe“ Kerzen mit den Worten „Friede sei mit euch“ auf dem Weihnachtsmarkt verteilte. Ein Polizist löste die „pazifistische Aktion“ auf, Schreckenbach wurde auf dem Polizeirevier verhört, und der IM erhielt für die Aufklärung der „pazifistischen Demonstrationshandlung“ 500 Mark vom Ministerium für Staatssicherheit. Der Staatssicherheit gelang es zudem, den IM „Horst Kolbe“ als Leiter des Friedenskreises zu etablieren, was langfristig zu dem Ergebnis führte, dass dieser sich auflöste. In einer späteren Parteiinformation ist schließlich von einer „vertieften antisozialistischen und oppositionellen Grundposition“ des Domküsters die Rede, die der Staat mit allen Mitteln bekämpfen müsse.10 


Die Unterscheidung zwischen politischer Struktur und politischer Kultur

Neben dem „generationenkonstituierenden Erfahrungshintergrund“ des Krieges können Schüler*innen an den Akteur*innen der Friedlichen Revolution ferner die Diskrepanz zwischen dem idealen und dem real existierenden Sozialismus, d. h. den Unterschied zwischen der politischen Struktur und der tatsächlichen politischen Kultur erkennen. Als Beispiel dazu sei die von dem Zwickauer Kirchenamtsrat Andreas Richter verfasste Erklärung zur Kommunalwahl im Mai 1989 genannt, die auf die Diskrepanz zwischen Wahlrecht und Wahlrealität aufmerksam machte. In einem Zwischenstandsbericht zum Operativen Vorgang11 (OV) „Berater“, der auf den Kirchenamtsrat angelegt worden war, heißt es dazu:

„In der bisherigen operativen Bearbeitung konnte inoffiziell umfangreich dokumentiert werden, daß Kirchenrat Richter seine juristischen Kenntnisse und sein Amt als Kirchenrat mißbraucht, um die oppositionellen und feindlich-negativen Aktivitäten, die unter dem Deckmantel des sogenannten ‚konziliaren Prozesses‘ im Kirchenbezirk forciert werden, gesetzlich abzusichern und dadurch einen höchstmöglichen Spielraum für diese Kräfte zu schaffen.“12


Die ethische Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten

In der Auseinandersetzung mit Akteur*innen der Friedlichen Revolution können Schüler*innen ferner die ethische Unterscheidung von Handeln und Verhalten verstehen. Eine ethische Handlungssituation zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass zwischen mindestens zwei Handlungsoptionen frei gewählt werden kann (z.B. zwischen Jugendweihe und Konfirmation). Demgegenüber entziehen sich Situationen der ethischen Bewertbarkeit, die keine Handlungsalternative boten bzw. eine Handlungsoption sanktionierten (z.B. den Nichteintritt in die FDJ mit der Verhinderung von Studienwünschen). Während bis heute in der Eltern- und Großelterninterviews die Meinung vorherrscht, dass man sich in der DDR nur der politischen Erwartung gemäß verhalten konnte, sei als ein Beispiel für eine freie und subjektiv zurechenbare Entscheidung die Rumänienhilfe von Susanne Trauer erwähnt, nachdem sie auf einer Urlaubsreise 1988 die katastrophalen Zustände auf einer Säuglingsstation kennengelernt hatte. Im Zwischenstandsbericht zum Operativen Vorgang „Konzept“, der auf sie angelegt wurde und bemerkenswerter Weise nicht zwischen dem privaten Engagement und einem kirchlichen Auftrag unterscheidet, heißt es dazu am 19. April 1989:

„Im Auftrage des ‚konziliaren Prozesses‘ Zwickau reiste die TRAUER gemeinsam mit anderen Mitgliedern der sogenannten ‚Rumäniengruppe‘ in die VR Rumänien und in die VR Ungarn. Sie verbrachte dorthin im Auftrage der Kirche Medikamente und knüpfte Verbindungen und Kontakte zu feindlich-negativen Personen in diesen Staaten. Nach Rückkehr von ihren Rumänienreisen hielt die TRAUER im Rahmen einer Veranstaltung innerhalb der Räumlichkeiten der ‚Friedensbibliothek‘ Zwickau einen Vortrag über die Lebensbedingungen in der VR Rumänien. Hierbei machte sie entstellende und diskriminierende Ausführungen, wobei sie die politischen Verhältnisse in der VR Rumänien diskreditierte und verfälschte.“13


Die Unterscheidung intra- und interpersonaler Konfliktebenen

Bei der biografischen Beschäftigung mit Akteur*innen der Friedlichen Revolution können Schüler*innen darüber hinaus die Konfliktebenen zwischen Staat und Kirche bzw. Politik und Religion nachvollziehen. Die intrapersonale Konfliktebene beschreibt u.a. Spannungen zwischen dem Denken, Fühlen und Handeln einer Person in psychologischer Perspektive.14 In Dilemmasituationen, in denen jede Handlungsmöglichkeit die Verletzung einer politischen oder religiösen Norm bedeutete, tritt dies, wie im vorliegenden Fall, besonders anschaulich zutage: Verletzt wird entweder die politische Norm, sozialistische Bruderstaaten nicht zu kritisieren, oder die religiös begründbare Norm, anderen Menschen in Notsituationen beizustehen.

Die interpersonale Ebene nimmt die Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Personen in den Blick, z.B. zwischen Eltern, die sich über die Teilnahme ihres Kindes an der staatlich organisierten Jugendweihe uneinig waren. Während Konflikte in der Familie einigermaßen offen angesprochen wurden, gab es im öffentlichen Leben der DDR keine Konfliktkultur, in der Meinungsverschiedenheiten zwischen Staat und Kirche bzw. Politik und Religion offen thematisiert und ausgetragen werden konnten. Stattdessen verlagerte sich der Staat stets auf konspirative Maßnahmen, um – wie das folgende Beispiel zu dem Friedensaktivisten Martin Böttger zeigt – Meinungsverschiedenheiten in ihrem Sinn zu entscheiden. Auch in seinem Fall ist bemerkenswert, dass die Staatssicherheit in ihren OV-Berichten nicht zwischen dem individuellen Handeln und der offiziellen Kirchenpolitik unterschied:

„B. ist fanatischer Anhänger des ev.-luth. Glaubens und vertritt voll und ganz die reaktionäre Kirchenpolitik. […] Ziel der politisch-operativen Bearbeitung des OV ‚Spaten‘ ist, über alle Pläne und Absichten des B. informiert zu sein und geeignete IM in Vertrauenspositionen zu bringen. Dabei geht es in erster Linie um Aufgaben zur Zurückdrängung dieser feindlichen Tätigkeit und die operative Kontrolle der bekannten Personen, sowie die Feststellung weiterer Hintermänner und Initiatoren.“15


Die innergesellschaftliche Konfliktebene

Die innergesellschaftliche Ebene untersucht Konflikte zwischen Personengruppen in einer Gesellschaft, z.B. zwischen den unabhängigen Friedens-, Frauen-, Menschenrechts- und Umweltgruppen und den Kirchenleitungen. Es sei hier auch darauf hingewiesen, dass die Konfliktlinien keineswegs nur zwischen Vertreter*innen von Staat und Kirche, sondern auch zwischen Mitgliedern einer Gemeinde bzw. Kirche verlaufen konnten, was vielfach zu innergemeindlichen bzw. innerkirchlichen Spannungen führte. Als ein Beispiel für diese Konfliktebene sei die Einladung von Stephan Krawczyk und seiner Frau Freya Klier in einen Jugendtreff der Zwickauer Luthergemeinde am 7. November 1987 erwähnt. Die Einladung, die der Sozialdiakon Frank Kirschneck gegenüber dem mit einem Berufsverbot belegten Liedermacher ausgesprochen hatte, wurde vom dienstvorgesetzten Pfarrer und Superintendenten kurzfristig abgesagt. Freya Klier erinnert sich dazu in ihrem 1988 veröffentlichten Tagebuch folgendermaßen:

„Am Nachmittag mit Stephan nach Zwickau; er hat dort einen Brecht-Abend. Als wir ankommen, nach einer langen, nervenaufreibenden Fahrt mit reichlich Stasi im Genick, ist der Auftritt abgesagt. Geschlossenes Umkippen von vorgesetztem Pfarrer und Superintendent. Uns bleibt die Spucke weg. Niemand hat es für nötig gehalten, uns zu benachrichtigen. Diese feigen Pfaffen, die nichts riskieren müssen, die nur vom Hörensagen wissen, was Berufsverbot bedeutet oder Reiseverbot. Sie hätten doch wenigstens so viel Anstand besitzen können, uns per Telefon von ihrem Kniefall zu berichten... Brecht also nun auch in der Kirche abgesagt. Der Organisator des Abends [der Sozialdiakon Frank Kirschneck, D.K.] blickt ratlos: er hat uns doch gestern ein Telegramm geschickt. Wir glauben ihm sogar. Aber wir haben keines erhalten.“ 16


Internationale Konfliktebenen

Die internationale Ebene beschreibt u.a. die Aktivitäten der kirchennahen Gruppen in den Kontext der Ost-West-Konfrontation gestellt, der als Machtkonflikt zwischen zwei weltanschaulichen Systemen interpretiert werden kann – eine Interpretation, die vom DDR-Staat durchaus forciert wurde. Das bereits erwähnte Beispiel der privaten Rumänienhilfe verweist auf der internationalen Konfliktebene auf einen anderen Aspekt: das Verhältnis zu den sozialistischen Bruderstaaten. Als ein Beispiel sei der Brief von Denis Dressel und Ulrike Dressel-Backofen an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker angeführt, der im Kontext der bereits beschriebenen Rumänienhilfe von Susanne Trauer stand und unmittelbar an das Ministerium für Staatssicherheit weitergeleitet wurde:

„Werter Herr Honecker! Im ‚Neuen Deutschland‘ vom 12./13.11.88 wurde gemeldet, daß der Präsident Rumäniens, Nicolae Ceauşescu, von Ihnen für den 17. und 18.11.88 zu einem Arbeitstreffen eingeladen wurde. […] Es ist uns bekannt, daß offizielle Hilfsaktionen, sei es durch Regierungen, kirchliche Institutionen o. ä. derzeit nicht möglich sind, da Rumänien jede Hilfe von Außen ablehnt. Deshalb bitten wir Sie, private, persönliche Hilfsaktionen von DDR-Bürgern durch unkomplizierte Ausnahmeregelungen bei den Ausfuhrbestimmungen der DDR zu legalisieren.“17


Symbole als Medien politischer und religiöser Kommunikation

Bei der Beschäftigung mit den genannten Personen und Quellen können Schüler*innen erkennen, dass Symbolhandlungen (wie das öffentliche Verteilen einer Kerze) und andere Symbole als Medien politischer und religiöser Kommunikation verstanden werden können. Die Friedens-, Frauen-, Menschenrechts- und Umweltbewegung in der DDR zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie Symbole fand, die politisch und religiös gedeutet werden konnten. Das wohl bekannteste Beispiel dazu ist das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“, ferner das Symbol des Königswalder Friedensseminars, das einen „Stahlhelm als Blumentopf“ zeigt, und das Symbol des Konziliaren Prozesses, auf dem eine Taube, eine Kette und eine stilisierte Arche Noah für Fragen des Friedens, der Freiheit und des Umweltschutzes stehen. Für das Verhältnis von Politik und Religion haben Symbole damit eine besondere Erschließungsfunktion.18


Zusammenfassung und Ausblick: Die Erfahrungen osteuropäischer Länder mit der sowjetischen Herrschaft und deren Langzeitfolgen

In dem Grundsatzbeitrag kamen Beispiele gewaltfreien Widerstands in der DDR zur Sprache, die den Blick öffnen für die Erfahrungen osteuropäischer Länder mit der sowjetischen Herrschaft und deren Langzeitfolgen. Denn die DDR war kein eigenständiger Staat, sondern Teil des sowjetischen Imperiums, dessen Machtansprüche auf die ehemaligen Herrschaftsgebiete mit dem Ende der Sowjetunion keineswegs erloschen sind. Lange wurden diese Erfahrungen beispielsweise in der Politik der Europäischen Union, aber auch in den Kirchen nicht wahrgenommen oder aufgrund anderer Interessen (z.B. im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit) ignoriert.

Es ist ein Verdienst von Landesbischof Friedrich Kramer, diesen Erfahrungshintergrund als Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland in Erinnerung gerufen zu haben. Meiner Einschätzung nach lässt sich jedoch aus „persönlichen Erfahrungen in der kirchlichen Friedensarbeit und im gewaltfreien Widerstand in der DDR“ keine klare „Positionierung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine“ oder eine andere friedensethische Position ableiten. ‚Persönliche Erfahrungen‘ sind immer ambivalent und können für sehr unterschiedliche, oft auch gegensätzliche politische Forderungen ins Spiel gebracht werden. Nicht selten hat die Berufung auf wie auch immer qualifizierte ‚persönliche Erfahrungen‘ auch den Charakter einer Immunisierungsstrategie gegen rationale Argumente nach dem Muster „Ich habe es so erlebt, da müssen wir gar nicht weiterdiskutieren …“.

In meiner Zusammenfassung möchte ich daher die von dem Friedensbeauftragten der EKD aufgeworfene Forderung modifizieren und danach fragen, was Kinder, Jugendliche und Erwachsene bei der Beschäftigung mit der kirchlichen bzw. kirchennahen Friedensarbeit in der DDR lernen können. Sie können:
•    die Bedeutung von Religion in politischen Konflikten erkennen,
•    die Verflechtung von Politik und Religion nachvollziehen,
•    den Unterschied zwischen politischer Struktur und politischer Kultur
     beschreiben,
•    die ethische Unterscheidung von Handeln und Verhalten verstehen,
•    Konfliktebenen zwischen Politik und Religion unterscheiden,
•    Symbole als Medien politischer und religiöser Kommunikation begreifen
      und
•    die Diktaturerfahrungen osteuropäischer Länder und deren politische
      Langzeitfolgen analysieren.

Das Thema ist in allen Klassenstufen des Sekundarbereiches I und II dazu geeignet, biblische Grundlagen einer theologischen Ethik wie zum Beispiel die von Bischof Kramer zitierte Seligpreisung aus der Bergpredigt zu thematisieren, am Beispiel der kirchennahen Friedenbewegung in der DDR zu vertiefen und anschließend auf aktuelle Konflikte anzuwenden (siehe die tabellarische Übersicht). Auf diese Weise werden Schüler*innen dazu befähigt, „unauflösbare Dilemmasituationen“ (wie die Entscheidung zwischen Jugendweihe und Konfirmation) zu reflektieren, „Leidens- und Mitleidenserfahrungen“ (wie die Rumänienhilfe von Susanne Trauer) wahrzunehmen, praktische Friedensarbeit „vor Ort“ kennenzulernen und das „Böse böse zu nennen“.20 Im Blick sind dabei vor allem die menschenverachtenden Zersetzungsmethoden des Ministeriums für Staatssicherheit, der ‚kleinen Schwester‘ des sowjetischen Geheimdienstes KGB, in dem Wladimir Putin politisch sozialisiert wurde. Auch unter didaktischen Gesichtspunkten ist angesichts des Krieges in der Ukraine wichtig, die Diktaturerfahrungen in der DDR in eine transnationale Geschichte des Kommunismus sowjetischer Spielart einzuzeichnen und in den friedensethischen Debatten der Gegenwart zu Geltung zu bringen.

Ausgehend von der eingangs zitierten Einschätzung von Johannes Wischmeyer, dass Symbole und Symbolhandlungen in besonderer Weise geeignet sind, „Hoffnungen und Sorgen im Medium der Religion“ zu artikulieren und dass ein „neuer Ton im Reden vom Frieden“ nötig sei,20 verbinde ich mit den vorgestellten Unterrichtsideen (z. B. dem Gestalten eigener Friedenssymbole oder Rollenspiele) daher auch die theologisch und bildungstheoretisch begründete Hoffnung, dass Religionslehrkräfte den ‚richtigen‘ Ton angesichts aktueller Krisen und Kriege treffen.

 

Anmerkungen

  1. Kramer, Bericht des Friedensbeauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.
  2. Ebd. mit Verweis auf die Denkschrift der EKD von 2007 und die Beschlüsse der Friedenssynode 2019.
  3. Wischmeyer, Kirche zum Ukrainekrieg: Ein neuer Ton im Reden vom Frieden ist nötig. Die in dem FAZ-Artikel skizzierte Position wurde inzwischen ausführlich begründet in Wischmeyer, Die Sorge als Maßstab, 151-176.
  4. Wischmeyer, Kirche zum Ukrainekrieg.
  5. Ebd.
  6. Vgl. dazu den Überblick von Leonhardt, Einleitung, 7-18.
  7. Einen Überblick und weiterführende Literatur dazu bietet Käbisch, Kirchen in der DDR.
  8. Käbisch/ Käbisch: Akteure der Friedlichen Revolution.
  9. Leistner, Soziale Bewegungen, 128-160, hier 128.
  10. Parteiinformation des Ministeriums für Staatssicherheit vom 2. Mai 1989, BStU, ASt Chemnitz, Reg. Nr. XX-221. Diese und alle weiteren Quellen sind als Unterrichtsmaterial zugänglich unter Käbisch/Käbisch, Akteure, 35ff. sowie über das Online-Portal www.akteure-friedliche-revolution.de
  11. Sog. „Operative Vorgänge” (OV) wurde angelegt, um gegen Individuen oder Gruppen geheimpolizeilich vorgehen zu können.
  12. OV „Berater“, BStU, ASt Chemnitz, Reg. Nr. XIX 926/88, vollständig abgedruckt in Käbisch/Käbisch, Akteure, 55. Die Quelle kann zudem online eingesehen werden unter www.akteure-friedliche-revolution.de
  13. OV „Konzept“, BStU, ASt Chemnitz, Reg. Nr. XIV 1490/86, abgedruckt in Käbisch/Käbisch, Akteure der friedlichen Revolution, 44. Die Quelle kann zudem online eingesehen werden unter www.akteure-friedliche-revolution.de
  14. Dazu im Folgenden Imbusch/ Zoll, Friedens- und Konfliktforschung, 69.
  15. Eröffnungsbericht zum OV „Spaten“ vom 29. Juli 1976, Quelle: OV „Spaten“, BStU, ASt Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2183/77, Käbisch/Käbisch, Akteure der friedlichen Revolution, 66. Quelle online unter www.akteure-friedliche-revolution.de
  16. Klier, Abreiss-Kalender, 231f.
  17. Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vom 15. November 1988, Quelle: OV „Konfrontation“, BStU, ASt Chemnitz, Reg. Nr. XIV 1615/88. Käbisch/Käbisch, Akteure, 63. Auch diese Quelle kann online eingesehen werden unter www.akteure-friedliche-revolution.de
  18. Käbisch/Träger, Schwerter zu Pflugscharen.
  19. Wischmeyer, Kirche zum Ukrainekrieg.
  20. Wischmeyer, Kirche zum Ukrainekrieg.


Literatur

  • Imbusch, Peter / Zoll, Ralf (Hg.): Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung. 5. Aufl., Wiesbaden 2010
  • Käbisch, David: Kirchen in der DDR, in: Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon 5 (2019) [Online unter www.wirelex.de]
  • Käbisch, David / Käbisch, Edmund: Akteure der Friedlichen Revolution. Didaktische Impulse und Materialien für den Geschichts-, Ethik- und Religionsunterricht aus der Region Zwickau. Mit einem Geleitwort von Joachim Gauck, Moers 2010 [digitales Zusatzmaterial unter: www.akteure-friedliche-revolution.de]
  • Käbisch, David / Träger, Johannes: Schwerter zu Pflugscharen. Impulse für friedensethisches Lernen im Religionsunterricht (Themenheft Religion 9), Leipzig 2011
  • Klier, Freya: Abreiss-Kalender: Versuch eines Tagebuchs, München 1988, 231f.
  • Kramer, Friedrich: Bericht des Friedensbeauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vor der 13. Synode der EKD im November 2022, www.ekd.de/bericht-ueber-die-friedensarbeit-in-der-ekd-muendlich-76079.htm [2. Juni 2023]
  • Leistner, Alexander: Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR, Konstanz/München 2016, 128-160
  • Leonhardt, Rochus: Einleitung, in: Volker Gerhardt /Rochus Leonhardt/Johannes Wischmeyer: Friedensethik in Kriegszeiten, Leipzig 2023, 7-18
  • Wischmeyer, Johannes: Die Sorge als Maßstab. Stand und Perspektiven der evangelischen Rede von Krieg und Frieden, in: Volker Gerhardt/Rochus Leonhardt/Johannes Wischmeyer, Friedensethik in Kriegszeiten, Leipzig 2023, 151-176
  • Wischmeyer, Johannes: Kirche zum Ukrainekrieg: Ein neuer Ton im Reden vom Frieden ist nötig, online unter www.faz.net/aktuell/politik/inland/die-kirche-braucht-zum-ukraine-krieg-eine-neue-sprache-17874567/der-evangelische-bischof-17874564.html [aktualisiert am 2. Juni 2023]

Friedensethische Aspekte des Themas „Kirche im Sozialismus“

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