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Religiöses Lernen im Kindesalter – ein Beziehungsgeschehen

Anna-Katharina Szagun


Über Jahrhunderte vollzog sich religiöses Lernen primär im Raum Familie (Enkulturation). Kinder erlebten mit, wie Bezugspersonen ihren Glauben lebten. Zunächst verstanden sie kaum etwas von dem, was vorging. Aber sie spürten die Atmosphäre und schwangen darin mit (Resonanz). Wiederkehrende Rituale mit ihren Klängen, Bewegungen, Düften, Worten ließen erste Assoziationsketten entstehen. Mit zunehmender kognitiver Reife wurde das Erlebte „fragwürdig“ in dem Sinne, dass das Kind die Inhalte und Formen religiöser Phänomene verstehen wollte. Dies spiegelt 5. Mo 6,20ff., wo ein Kind, das Gebete und Befolgung von Gesetzen erlebte, fragt, warum das geschieht. Das biblische Beispiel zeigt bereits, dass Gotteskonzepte mehrdimensional sind, vorstellbar als Ellipse mit zwei Brennpunkten: Der eine Brennpunkt enthält die emotionalen und motivationalen Aspekte (Gottesbeziehung), der andere die kognitiven (Gottesverständnis). Die Dimensionen stehen stets in Wechselwirkung und sind nur theoretisch zu trennen. Und Beziehungserfahrungen bilden die Basis für eine künftige Gottesbeziehung (vgl. Abb. 1).

Auch Luther (implizit oder explizit die Bedeutsamkeit der Beziehungsdimension aufnehmend) sah die Familie als primären Ort der Begegnung von Kindern mit dem christlichen Glauben und plädierte daher für Hausandachten. Ergänzt werden sollte die christliche Erziehung aber schon zu Luthers Zeit durch schulische Vermittlung christlicher Inhalte: Luthers Übersetzungstätigkeit wie sein Eintreten für allgemeine Schulbildung zielten darauf, jedem Menschen Zugang zu biblischen Texten zu eröffnen. Für Luther war zwar der wesentliche Aspekt des Glaubens – Gottvertrauen – als Gabe des Heiligen Geistes nicht lehrbar, aber durch Vermittlung von „Glaubenswissen“ hoffte man (wie schon in der Scholastik) dem Heiligen Geist sozusagen eine „gute Landebahn“ zu schaffen: Die Inhalte sollten so vermittelt werden, dass die Kinder ihnen zustimmen konnten. Kindgerechte Vermittlung („mit den Kindern lallen“1) hatte Luther zwar angemahnt, aber über Jahrhunderte geschah dies kaum. Vielmehr versuchte eine – den Interessen der landesherrlichen Obrigkeit entsprechende – rigide christliche Erziehung Kinder zu „gläubigen Christen“ und fügsamen Untertanen zu formen. Die Vermittlungsperspektive herrschte vor, nur in Ausnahmefällen kam die kindliche Rezeption überhaupt in den Blick. Über Jahrzehnte blieben auch die Impulse Schleiermachers, das Gefühl als Organ der Erfassung des Göttlichen ins Bewusstsein zu heben,3 für die religiöse Erziehung folgenlos.

Ein Perspektivenwechsel von der Vermittlung zur Aneignung trat – angestoßen durch psychologische Erkenntnisse – erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein: Das Kind als Rezipient rückte in den Mittelpunkt. Jetzt erhielten Theorien zur religiösen Entwicklung Aufmerksamkeit. Gestützt auf (bezüglich Kleinkindern methodisch fragwürdige4) Untersuchungen in kirchlichen Kontexten der 1970er- und 1980er-Jahre wurden an Piaget/Kohlberg orientierte Stufentheorien zur religiösen Entwicklung vor allem von Oser/Gmünder und Fowler vertreten. Sie wurden breit in didaktischer Literatur rezipiert, schienen sie doch die Planbarkeit von Lehr-/Lernprozessen zu erleichtern mit ihrer Behauptung einer an die kognitive Reife gekoppelten universell geltenden und unumkehrbaren Abfolge von Stufen religiösen Denkens, die notwendig durchschritten werden müssten. Daraus konnte man folgern: Habe ich Kenntnis von der kognitiven Reife der Adressat*innen (weitgehend mit dem Alter korrelierend), so weiß ich, wie sie religiös „ticken“ und kann die Planung auf die entsprechende Stufe ausrichten, ohne die Lernausgangslage der jeweiligen Lerngruppe ermitteln zu müssen. Die Stufentheorien behaupteten zudem, die Stufen des Denkens lösten einander so ab, dass Fehlformen des Verstehens von allein verschwänden, weil sie sich mit verlassenen der Stufe ohnehin erledigten. Das klang verlockend. Aber passten diese Theorien zur Realität? Und gingen die Stufentheorien nicht von prinzipiell problematischen Annahmen aus? Konnte es sein, dass Menschen unabhängig vom kulturellen Kontext und religiöser Sozialisation ihr religiöses Denken in universell geltenden Stufen entwickelten? (Was hieße, dass buddhistische, muslimische, katholische und atheistische Kinder bei gleicher kognitiver Reife gleich „religiös“ denken?) War das nicht biologistisch gedacht? Und war die Annahme, die kognitive Reife sei der entscheidende Einflussfaktor religiöser Entwicklung nicht ebenso problematisch, wenn es bei (Vertrauens-)Glauben doch wesentlich um ein Beziehungsgeschehen geht? Neue Forschungseinsichten belegen die zentrale Bedeutung der emotionalen Dimension nicht nur für die Entwicklung insgesamt, sondern auch für Religiosität.5

Im Rückblick verwundert die breite Akzeptanz der Stufentheorien trotz der schon in den 1990er Jahren unübersehbar wachsenden Heterogenität von Lerngruppen und trotz der prinzipiell problematischen Vorannahmen. Die ab 1999 laufende „Rostocker Langzeitstudie“ erhob mit heuristischem Design und breitem Methodenstrauß6 (auch die emotionale Dimension und lebensweltliche Faktoren erfassend) die Entwicklung von Gotteskonzepten von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosen Kontexten heranwuchsen, ab 2009 ergänzt durch Untersuchungen in Niedersachsen und Bremen, ab 2013 zentriert auf die Entwicklung im frühkindlichen Alter. Nachfolgend wird auf Basis dieser Forschungsergebnisse das religiöse Lernen über Beziehungen in der Kita dargestellt.
 

Religiöses Lernen geschieht über Beziehungen – Emotionen spielen die Schlüsselrolle

Wie erfolgt frühkindliches religiöses Lernen und warum sind gerade Kleinkinder offen für Gottesvorstellungen? Kleinkinder befinden sich zu ihren Bezugspersonen (in Familie wie in Kita) in Resonanz. D. h. sie schwingen emotional mit in dem, was Erwachsene bewegt (Spiegelneuronen). Sie sind außerdem empfänglich für Begleitfiguren, sogenannte Übergangsobjekte (Puppe, Kuscheltier, imaginäre Begleiter), die ihnen die partielle Abwesenheit der Mutter ertragen helfen, also Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Wächst ein Kind in warmer Atmosphäre heran, so erfolgt – falls GOTT von lebensrelevant frommen Bezugspersonen (vgl. Modelle) in den kindlichen Horizont gebracht wird – sozusagen eine religiöse Besetzung des Übergangsobjektes: GOTT ist für dies Kind dann – wie für seine Modelle – ein unsichtbarer Begleiter. Diese Vorstellung verstärkt sein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Das Kind nimmt in Anfangsbegegnungen (Baby) mit religiösen Phänomenen fast nur emotional etwas auf. Dies geschieht auch aktiv im Zuwenden von Augen und Ohren, im Greifen, Näherkommen oder – bei Abwehr – in den gegenteiligen Reaktionen.

Das Kind spürt die Atmosphäre, lässt sich davon anstecken und liest an den Reaktionen der nächsten Bezugspersonen deren Haltung zu religiösen Phänomenen ab. Begegnet es fortlaufend religiösen Inhalten, so ist zwar anfangs die kognitive Dimension nur als winziger Nucleus vorhanden, aber peu à peu diffundieren Elemente des Erlebten (Töne, Bilder, Gerüche etc.) von außen nach innen. In Form von Assoziationen bzw. Assoziationsketten bildet sich ein erstes „Gottesverständnis“: Das, was „irgendwie“ zu Gott gehört, „irgendwie passt“, ist darin gespeichert. Die Bedeutung der Inhalte wird nicht verstanden. Allmählich entwickelt sich dann ein intuitives Erfassen, ehe ein auch verbalisierungsfähiges Verstehen erreicht wird, was an die kognitive Reife geknüpft erscheint. Letzteres kann um Jahre der intuitiven Erfassung „nachhinken“.

Die Basis einer möglichen Gottesbeziehung bilden die Beziehungserfahrungen (vgl. Abb. 2). Erlebte das Kind nicht wenigstens eine verlässliche Vertrauensbeziehung, entfaltet sich auch keine Gottesbeziehung.7 Die emotionale Dimension des Gotteskonzeptes ist nicht nur die früheste, sie bleibt auch lebenslang der Hauptfilter für Rezeption und Speicherung religiöser Phänomene. Das Kind nimmt bei der Begegnung mit religiösen Phänomenen nicht nur die eigenen Emotionen auf, sondern ebenso die seiner nächsten Bezugspersonen. Und je nachdem, wie es selbst bzw. wie seine Bezugspersonen religiöse Phänomene erleben, kann es hinsichtlich der sich herausbildenden emotionalen Dimension schon in frühem Alter positiv, indifferent oder negativ geprägt sein.

Erkennbar konstruieren Kinder den kognitiven Teil ihres ersten Konzeptes aus Versatzstücken, die sie vom nächsten Umfeld angeboten bekommen (Modellen der primären bzw. sekundären Sozialisation), seien es beiläufige Äußerungen oder bewusst gesetzte Impulse. Das Kind übernimmt „Aufgeschnapptes“ aber nicht eins zu eins, sondern wählt das aus, was ihm emotional besonders eindrücklich ist: Deshalb spielt in frühen Konzepten Weihnachten (und Weihnachtsmann) eine große Rolle. Als Ko-Konstrukteur selektiert und interpretiert das Kind eigenwillig das Aufgenommene, wobei es – entsprechend der Logik des Begriffsaufbaus – religiöse Phänomene im Sinne seines lebensweltlichen Begriffsverständnisses interpretiert. So denkt sich Jerry (viereinhalb Jahre), der in Jesusgeschichten etwas von Liebe hörte, dass Jesus verliebt sei und inszeniert eine Kuss-Szene zwischen Jesus und seiner Geliebten: Für ihn ist Liebe gleichbedeutend mit Partnerbeziehung. Die Lebenswelt prägt insgesamt die Konzepte. Josa, der seine berufstätige Mutter schmerzlich vermisst und einen ständig von häuslichen Bauarbeiten absorbierten Vater erlebt, stellt sich Gott lange Zeit als am Haus bauend vor, das er mit Maria bewohnen will. Auch Konfliktlagen spiegeln sich im Gottesbild: Der zum Besuch kirchlicher Events genötigte Peter (sechseinhalb Jahre) erlebt dies als Niederwalzen seiner eigenen Bedürfnisse und vergleicht Gott deshalb mit einem Panzer. Benno (knapp fünf Jahre) droht wegen Aggressivität der Kindergartenverweis. Er entwirft ein Sehnsuchtsbild. In seiner Gestaltung hat ein Hund gerade auf die Blumen „gekackt“. Als Benno Vliesteile für „Gott ist wie Geborgenheit“ in sein Bild einfügen kann, bekommt der „böse Hund“ noch vor seiner Familie ein Vlies geschenkt. Offensichtlich schreibt Benno Gott die unbedingte Akzeptanz zu, die er selber gern erfahren würde.

Religiöse Sozialisation ist – wie Sozialisation insgesamt – zunächst Fremdsozialisation (Aspekte: Nachahmungslernen, Instruktion, soziale Bestätigung). Das Nachahmungslernen spielt hier – gerade weil es sich bei Glauben im Sinne von Gottvertrauen um ein Beziehungsgeschehen handelt – die primäre Rolle, und dies lebenslang. Instruktion, verbale Hinweise können zwar Klärungen (z. B. im Gottesverständnis, also der kognitiven Dimension) befördern, aber Glauben als „Vertrauensakt“ ist – obwohl als unverfügbares Geschenk nicht machbar – wesentlich davon abhängig, dass das Kind mit Modellen in Beziehung steht, die aus solch einem Glauben (mindestens partiell) Kraft, Orientierung, Mut und Hoffnung schöpfen. Warum sollte sich ein Kind mit religiösen Fragen befassen, wenn es keine Personen erlebt, die offensichtlich genau aus dieser Quelle für ihre Existenz etwas Wesentliches schöpfen?

Glauben im Sinne von Gottvertrauen ist mit der gesamten Existenz verwoben. Das religiöse Denken und Empfinden von Kindern kann bereits im frühen Alter (zunächst wesentlich über seine „Modelle“ in Primär- und Sekundarsozialisation) einer Vielzahl von u. U. völlig gegenteiligen Einflussfaktoren ausgesetzt sein, die dann – als isolierte und inkompatible Teilkonzepte – lange nebeneinanderstehen können.

Die sich beim Kleinkind, auf Assoziationsketten fußend, herausbildenden Teilkonzepte zu religiösen Phänomenen sind zunächst fragil. Gleichsam wie Sandbänke im Gezeitenwandel tauchen sie auf und verschwinden wieder, falls es keine kontinuierlichen Anregungsimpulse gibt. Werden kontinuierlich religiöse Impulse eingebracht, so erweitern, vernetzen und verfestigen sich die Konzepte schließlich zu bereichsspezifischen Domänen. Fehlen Anregungsimpulse und Kommunikationsräume, kapseln sich die Konstrukte früh ein, was dazu führen kann, dass sich bei manchen Erwachsenen noch frühkindlich-naive religiöse Konzepte finden.

Zunächst sind für Kleinkinder die Vorgaben ihrer Herkunftsfamilie mehr oder weniger verbindlich. Aber dies ändert sich mit den wachsenden Interaktionsräumen. Kinder nehmen sie unter Umständen als konträre Positionen ihrer Modelle wahr und stellen sie fragend nebeneinander: So behauptet eine Vierjährige, das familiär Gehörte in einer Collage in Szene setzend, Gott habe als Vater am Anfang der Welt auf einem Thron gesessen und umfassend für die Daseinsvorsorge aller Menschen gesorgt. In der gleichen Sitzung fragt sie dann den imaginär in einem Gläschen anwesenden unsichtbaren Gott aber, warum manche Flüchtlinge im Meer ertrinken müssten und andere nicht. Auch fragt sie, wie Gott – wenn es am Anfang gar nichts gab – von einem Thron habe aufstehen können. Kinder werden also bereits im Kita-Alter durch eigenes Fragen, Beobachten und Inanspruchnahme Gottes in Belastungssituationen gemäß den ihnen vermittelten Zuschreibungen zum Motor ihrer eigenen religiösen Entwicklung. Das heißt, sie überprüfen die ihnen vermittelten Inhalte an der Realität und ziehen daraus ihre persönlichen Konsequenzen. Dies kann zum Umbau ihrer Konzepte führen, oft leider aber zu frühem Enttäuschungsatheismus.

Ein Beispiel für einen gelingenden Umbau: Emma, die vierjährig auf einen allgütigen und allmächtigen Gott vertraut, gerät durch die Krebserkrankung ihrer Oma in eine Krise, die zugleich eine Glaubenskrise ist. Sie betet mit Mama um Heilung. Aber Omas Leiden wird schlimmer. Emma verliert alles Vertrauen auf Gott, sieht in ihm nur noch einen fernen Zuschauer und will nichts mehr von Gott wissen oder über ihn sprechen. Die Beerdigung kurz vor ihrem sechsten Geburtstag erlebt sie als erlösenden Abschied von der geliebten Oma, die sie nun bei Gott geborgen glaubt. Die kurz danach gebaute Collage und ihre Kommentierung dazu zeigt den zentralen Umbau ihres Gotteskonzeptes, der ihr ermöglicht, zu einer vertrauensvollen Gottesbeziehung zurückzukehren. Sie sieht Gott im Wünschen und Hoffen von Menschen präsent (Glasstein mit bunten Einsprengseln unten). Oben im Himmel sitzt Gott unsichtbar (Engel ist Platzhalter) auf dem Thron und schaut auf einen blauen Glasstein, der ebenfalls ein Wunschstein ist. Das heißt, Gott kann auch nicht alles; vielleicht wollte er gern Oma heilen, vermochte es aber nicht. Emma streicht also die Allmacht Gottes aus ihrem Konzept.

Dazu kommt ein weiterer Schritt, sichtbar auf dem unteren Foto, wo der unsichtbar vorgestellte Gott auf einen Klappaltar mit Jesusbild schaut. Emma dazu: „Wenn ich ein Foto von Oma sehe, bin ich immer ganz traurig, weil sie jetzt tot ist. Und so geht es Gott auch, wenn er auf das Bild von Jesus schaut.“ Emma identifiziert sich folglich mit dem ebenfalls leidenden Gott. Ihre Sehnsucht nach einer vertrauensvollen Gottesbeziehung spielte in diesem (unverfügbaren), aber doch im Sinne von Hebammendiensten unterstützbaren Umbauprozess eine zentrale Rolle.

Bilanziert man die langjährigen Untersuchungen, so lassen sich folgende Aussagen machen: Das Gotteskonzept von Kindern entwickelt sich unterschiedlich. Die Entwicklung ist abhängig von folgenden Faktoren bzw. Fragen:

Je nach Ausmaß und Beschaffenheit des Kommunikationsraums für religiöse Themen:
•    Kommen religionshaltige Themen vor oder werden sie – z. B. bei Schicksalsschlägen – ausgespart?
•    Werden Kinderfragen ernst genommen und entsprechend ernsthaft und authentisch kommuniziert?
•    Ist sowohl Raum für positive Voten wie auch für kritische Äußerungen gegeben?

Je nach Zahl und Art der Anregungsimpulse:
•    Wird dem Kind der Mythenhimmel der „Kulturellen Tapete” in traditioneller Sprache (HERR, Vater, Allmacht usw.) angeboten oder Jesu zentrale Botschaft („Reich-Gottes-Programm“ = „Weg des Friedens“) in „Übersetzungen” mit weitem Horizont (Gott als Geheimnis von/hinter Welt und Leben)?
•    Kommt der „liebe” Gott als Garant von äußerer Sicherheit und Wohlbefinden ins Spiel oder als Quelle von innerer Kraft, Hoffnung auf Problembewältigung und Orientierung für gelingendes Miteinander?
•    Kommt die dunkle Seite Gottes vor? Als Disziplinierungsinstanz im Sinne von Strafe oder als bleibendes Rätsel? (Werden und Vergehen ist in die Schöpfung eingebaut, ebenso die ungleichen Grundvoraussetzungen des Lebens. Fragen nach dem WARUM von Leiden bleiben ungeklärt. Jesu Reich-Gottes-Programm weist aber einen Weg zur partiellen Aufhebung von Leid, zu solidarischem Teilen von Freude und Leid, Gaben und Zumutungen: „Einer trage des anderen Last“)
•    Werden Stille, Staunen, Danken, Mitgefühl, Achtsamkeit, Andachtshaltungen und Gebet gepflegt oder geht es nur oder vor allem um Wissensvermittlung?
•    Wird das Kind mit allen Sinnen (Ganzheitlichkeit) und seiner Lebenswelt involviert oder nur kognitiv?

Je nach Kontinuität der Anregungsimpulse und Hilfen zur Vernetzung von Inhalten:
•    Welche Rituale, Lieder, Bilder, Texte kommen regelmäßig vor? (Mittegestaltungen, Ausstattung von Räumen: Wandbilder, Skulpturen, Altäre, Gestaltung von Kirchenjahresfesten usw.)
•    Gibt es kreative Wiederholungen zur Vertiefung und Erweiterung von Inhalten?
•    Welche (z. B. optischen) Strukturierungshilfen unterstützen die Vernetzung von Inhalten?

Je nach emotionaler Tönung der Aneignungs- bzw. Vermittlungssituationen:
•    Ist eine warme, akzeptierende Atmosphäre vorhanden oder geht es eher kühl, distanziert, gehemmt zu in religionshaltigen Settings?
•    Wer vertritt wie die Botschaft: nächste Bezugspersonen? Andere Autoritätspersonen? Authentische „Modelle”? Welche Beziehungserfahrungen sind mit diesen Personen verbunden?
•    Welche emotionale Tönung erhält das Setting durch die Anwesenheit von Peers?

Je nach Resultat eigenen Fragens, Suchens oder Tuns gemäß dem GOTTES-Verständnis, das den Erwartungshorizont des Kindes bezüglich GOTTES Wirken aktuell prägt:
•    Sind die Zuschreibungen Gottes kompatibel zu seiner Realitätswahrnehmung?
•    Sind sie kompatibel zu seinen Erfahrungen bei Inanspruchnahme Gottes in Belastungssituationen?


Eine Praxis der Kita gemäß den Forschungseinsichten: Wie könnte sie aussehen?

Die Beziehungsarbeit, also ein gelingendes Miteinander im Alltag, bildet die Basis. Akzeptiert zu werden mit dem, was man an Gaben und Defiziten mitbringt, Freude und Leid zu teilen, nach Fehlverhalten Neuanfänge gewährt zu bekommen, einander beizustehen in Not bzw. bei Bewältigung von Anforderungen, einander zu trösten und zu helfen. All das ist gelebtes Evangelium und bildet die unverzichtbare Grundlage für explizit religiöse Inhalte. Und weil das Beziehungsgeschehen von so zentraler Bedeutung ist, sollte es so viel personelle Kontinuität wie nur irgend möglich geben in der Begleitung von Kindern auf ihrem religiösen Weg.

Wenn es in der religiösen Grundhaltung – bei Christ*innen, Jüd*innen, Muslim*innen usw. – darum geht, sich nicht als Macher*in, sondern als Empfangende(r) von Leben und (die Mitwelt umfassende) Lebensgaben zu begreifen, dann gebührt der Anbahnung und Pflege dieser Grundhaltung in Form von Stilleübungen, Staunen, Spüren mit allen Sinnen, Mitfühlen, Danken, achtsamem Umgang mit allem Lebendigen vom Krippenalter an viel Raum: Über Rituale werden dabei auch zentrale Assoziationsketten aufgebaut. Wenn bei Zweijährigen z. B. mehrmals (wobei die Bezugsperson dies auch vormacht) zuerst in jede Hand ein Keks kommt und dann, wenn alle etwas haben, erst einmal „Essen, danke, Amen” gesungen wird, ehe man die Kekse isst, hat das Kind nach kürzester Frist dieses Ritual im Kopf und wird es in genau dieser Form auch einfordern. Wiederkehrende Rituale vermitteln Sicherheit und Orientierung und entsprechen damit einem menschlichen Grundbedürfnis. Auch andere Aspekte, z. B. dass ich mich immer – auch unsichtbar – begleitet fühlen darf, kann bspw. durch ein Duftritual vermittelt werden. Die Kinder schauen z. B. zu, wie eine ihnen eine vertraute Person mit Duftsalbe umgeht.

Ein Kind beginnt, sich auf das Ritual einzulassen, dann folgen die anderen. Der Zugang ist zunächst einfach sinnlich und emotional, ein Verstehen erfolgt viel später. Ähnlich geht es mit Stilleübungen, bei denen mit geschlossenen Augen auf eine Klangschale gehorcht wird, in deren verschwebenden Ton hinein „Danke, GOTT, dass du immer bei uns bist“ gesprochen wird.

Das Spracherwerbsalter (Krippe) ist das lernfähigste Alter überhaupt. Was hier aufgenommen und gespeichert wird, bleibt (mit hoher Sicherheit) erhalten. Dies nötigt bezüglich des Gotteskonzepts zu besonderer Sorgfalt. Wenn ich einen weiten Horizont im Gottesverständnis anstrebe, werde ich – die Logik des Begriffsaufbaus im Kopf – im frühkindlichen Alter strikt vermeiden, dem Wort GOTT Begriffe beizufügen, die in den Kinderköpfen anthropomorphe Bilder (z. B. Vater, Herr) aufklappen lassen. Das Wort GOTT kommt vorerst nur in Liedern vor und bleibt ohne Erklärung. Allerdings wird es durch die Inhalte der Liedverse durchweg mit den wesentlichen Aspekten der anzubahnenden religiösen Grundhaltung verbunden. Beim Lied „Gott hat alle Kinder lieb, jedes Kind aus jedem Land. Er kennt alle ihre Namen, weil sie alle von ihm kamen. Alle, alle sind ihm wohlbekannt,“ hat z. B. beim Vers 2 jedes Kind ein Kuscheltier in der Hand und lässt es mitsingen, bei Vers 3 dann eine Pflanze, und die Texte sind leicht abgewandelt: „GOTT hat auch die Tiere /Pflanzen lieb, die im Wasser und auf Land. Er kennt alle ihre Namen …“

Ein zentrales Anliegen ist, die Frage nach GOTT offen zu halten, denn lebenslang werden – entsprechend wechselnden Erfahrungen – Umbauprozesse des Gotteskonzeptes nötig. Deshalb wird bereits in der Krippe mit Gebärden der Refrain eines Liedes eingeführt: „Mein Gott, ich kann dich gar nicht sehen, und doch sagst du ‚Ich bin bei dir‘. Mein Gott, wie soll ich das verstehen? Ich bitte dich, komm, zeig es mir“.8 Dieses Lied – schon in der Originalfassung voller Gottesmetaphern – wird fortlaufend – passend zur jeweiligen Thematik – durch neue und mit Gebärden unterlegte Verse ergänzt, wodurch über die ganze Kindergartenzeit eine Vielfalt von Gottesmetaphern gepflegt ist, ehe Kinder der (durch patriarchale Kontexte bedingten) Engführung der Liturgie auf die Vatermetapher begegnen.

Erst wenn Kinder – etwa vierjährig – die Akteur*innen der Welt unterscheiden können (Was können Menschen machen, was nicht?), kommt es zur Urfrage der Menschheit: Woher kommt das, was wir weder herstellen noch erhalten können? Und die Antwort von Jüd*innen, Christ*innen, Muslim*innen lautet: aus einer geheimnisvollen großen Kraft, die wir GOTT nennen. Werden, Erhaltung und Veränderungen von Universum, Welt, Leben, hinter all dem steht dies Geheimnis. (Andere Menschen benennen es vielleicht anders.)

Auf dieser Grundlage wird dann auch die biblische Schöpfungserzählung eingebracht, nicht als für heute geltendes Welterklärungsmodell (das leistet die elementar visualisierte Evolution besser), sondern als Schöpfungslob, welches dem Menschen Verantwortung für die Erde zuspricht.

Gerade weil die Kleinsten die größte Merkfähigkeit haben, ist strikt darauf zu achten, nichts einzubringen, was später zurückgenommen werden müsste. Biblische Texte werden prinzipiell als Geschichten (keine Tatsachenberichte) eingebracht: Wieviel historischer Kern in einer Geschichte enthalten ist, kann später thematisiert werden. Irritationen biblischer Sprachspiele (Gott redet etc.) werden übersetzt, etwa: „Abraham war es so, als ob er in seinem Kopf die Stimme von Gott hörte.“ In biblischen Texten verdichten sich Erfahrungen, die Menschen auf Gott hindeuteten. Diese Grunderfahrungen bilden die Brücke zu Menschen von heute. Erschließen wir Kindern biblische Texte von den darin enthaltenen Grunderfahrungen her, so werden sie zu Mut, Orientierung und Zuversicht schenkenden Spiegeln der eigenen Existenz. Jeder muss mal durch schlimme Situationen (dunkle Täler / Höhlen) hindurch, aber begleitet gelingt dies. Wir alle geraten immer wieder mal auf Abwege und fallen in Löcher: Wie froh sind wir, wenn uns jemand sucht und zurückbringt.

Auch die dunklen Seiten des Lebens gehören in die Kita: Werden und Vergehen ist in die Schöpfung eingebaut und sollte von früh an thematisiert werden, vielleicht zuerst an Pflanzen. Zufällig gefundene tote Tiere können beschaut und würdevoll bestattet werden. Anhand von Bilderbüchern oder (durch Spielfiguren unterstützten) Erzählungen zu eigenen Erfahrungen mit dem Tod von Angehörigen lernen Kinder den Tod und Trauerrituale als zum Leben dazugehörend erkennen und denken, ein Klappherz bemalend, welche geliebten Wesen sie schon verloren, aber doch in ihrem Herzen aufbewahrt haben.

Die Kirchen in Deutschland haben in ihren Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft einen ungeheuren potenziellen Schatz, um den uns andere Länder (z. B. Schweiz, Frankreich) beneiden. Es gibt – bezogen auf die Zukunft unserer Kirchen – kaum eine wichtigere Arbeit, als die Erzieher*innen anzuleiten, ihre eigene religiöse Biografie aufzuarbeiten (Authentizität), sie die Kernbotschaft Jesu selbst existenzbezogen neu erfahren zu lassen (z. B. durch bibliodramatische Zugänge), sie auf neuen Forschungseinsichten basiert gut auszubilden und sie mit allen Kräften in ihrem Wirken so zu unterstützen, dass ein Same ausgestreut wird, der bei Kindern zu einem zwar unverfügbaren, aber doch durch Hebammendienste mindestens zu fördernden mitwachsenden Lebensglauben führt, einem Gottvertrauen, das immer wieder – auch durch Krisen hindurch – Orientierung, Kraft, Mut und Hoffnung schenkt.

Anmerkungen

  1. Luther, An die Ratsherren.
  2. Z.B. bei Salzmann, Ameisenbüchlein, 1806.
  3. Religion zu haben, bedeute „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ zu haben, sie sei eine Provinz im Gemüt. Frömmigkeit sei das Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit“, absoluter „Empfänglichkeit“, also das Bewusstsein, dass wir nicht Macher unseres Lebens seien, sondern Empfangende, angewiesen darauf, beschenkt zu werden mit Leben, Lebendigkeit, Erfüllung des Lebens, dies sei die Grunderfahrung der Religion. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion.
  4. James Fowler legte zwar einen differenzierten Befragungsbogen für Erwachsene vor, aber kein Manual zur Befragung von Kindern, wodurch offenblieb, auf welcher empirischen Basis seine Aussagen zu Kindern beruhen. Oser/Gmünder befragten Kinder ab acht Jahren mittels von der Lebenswelt abgehobener Dilemmata, kaum aussagefähig bezüglich kindlicher Vorstellungen. Auch hier blieb die empirische Basis von Aussagen zu Kindern unter acht Jahren offen. Außerdem erhoben Fowler und Oser/Gmünder weder Daten zur Lebenswelt der Kinder noch zur religiösen Sozialisation, die sie in Familie, Kirche oder Religionsunterricht erfahren hatten. Insofern blieben zentrale Einflussfaktoren auf religiöses Denken und Empfinden ungeklärt.
  5. So bei Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt.
  6. Ausführlich zur Methodik der Untersuchungen der Altersgruppe der Sechs- bis 19-Jährigen: vgl. Szagun, Dem Sprachlosen Sprache verleihen und zur Untersuchung der Drei- bis Sechsjährigen vgl. Szagun, Nur Gott selbst.
  7. Vgl. Dannenfeldt, Rostocker Langzeitstudie.
  8. Bäcker/Jöcker, Viele kleine Leute.

 

Literatur

  • Bäcker, Reinhold / Jöcker, Detlev: Viele kleine Leute, Münster o.J.
  • Dannenfeldt, Astra: Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2009
  • Fowler, James: Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991
  • Luther, Martin: An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, Aufruf von 1524, und: Schulen, Eltern ans Herz gelegt, in: Stoodt, Dieter: Arbeitsbuch, 32-35
  • Naurath, Elisabeth: Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2007
  • Oser, Fritz / Gmünder, Paul: Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh 1988
  • Salzmann, Christian Gotthilf: Ameisenbüchlein 1806; Krebsbüchlein oder Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder Erfurt 1807, in: Stoodt, Dieter: Arbeitsbuch, 130f. und 271
  • Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799
  • Stoodt, Dieter: Arbeitsbuch zur Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland, Hg. vom Comenius-Institut, Münster 1985
  • Szagun, Anna-Katharina: Dem Sprachlosen Sprache verleihen, Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2006
  • Szagun, Anna-Katharina: Religiöse Heimaten, Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2008
  • Szagun, Anna-Katharina: Glaubenswege begleiten – Neue Praxis religiösen Lernens, Hannover 2013
  • Szagun, Anna-Katharina / Pfister, Stefanie: Wie kommt Gott in Kinderköpfe? Praxis frühen religiösen Lernens, Gera 2017
  • Szagun, Anna-Katharina: „Nur Gott selbst kann wissen, ob es ihn gibt“. Langzeitstudie zur frühkindlichen Entwicklung von Gotteskonzepten in zunehmend säkularen Kontexten, Gera 2018
  • Szagun, Anna-Katharina: Alle Wege gehst du mit. Ziele, Themen, Praxisvorschläge für die religiöse Erziehung in Krippe, Kita und Kinderkirche, München 2021