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Die Freude am Lernen ist Ausdruck der Freude am Leben

Gerald Hüther

 

Das menschliche Gehirn ist so plastisch und vor allem bei Kindern in so hohem Maß durch die beim Hineinwachsen in eine bestimmte Gemeinschaft gemachten Erfahrungen formbar, dass jedes Neugeborene in der Lage ist, sich beim Heranwachsen all das anzueignen, was in einer bestimmten Gemeinschaft für sein Zusammenleben mit den anderen Mitgliedern bedeutsam ist.

Vor allem als Kinder sind wir in der Lage, von anderen Personen alles zu lernen, was diese ihrerseits ebenfalls von anderen gelernt haben – aber nur dann, wenn wir das, was sie schon wissen und können, als bedeutsam für uns erachten. Nur dann schauen wir genau hin, hören genau zu, fokussieren unsere Aufmerksamkeit auf das, was eine andere Person macht und sagt. Der betreffende Lernstoff muss also, wie die Hirnforscher es nennen, emotional aufgeladen sein. Wir müssen das Gefühl haben, dass etwas für uns und unser Leben wirklich wichtig ist. Sonst kommt es nicht zu der für jeden Lernprozess erforderlichen inneren Erregung, die mit einer Aktivierung der emotionalen Zentren und der vermehrten Freisetzung neuroplastischer Botenstoffe einhergeht. Und ohne die kann keine neue Lernerfahrung nachhaltig, also als erweitertes oder neu zusammengefügtes neuronales Netzwerk strukturell im Gehirn verankert werden.

Emotional aufgeladen ist alles, was einem Kind oder einer erwachsenen Person unter die Haut geht, weil es aus einem eigenen Bedürfnis erwächst, einer besonderen Begabung entspricht, also in dem oder der Lernenden als eigene Entdeckerfreude und Gestaltungslust entsteht.

Der Lernstoff kann aber auch eine emotionale Aufladung bekommen, weil die betreffende Person, von der etwas gelernt wird, von dem oder der Lernenden als bedeutsam betrachtet wird, wenn also eine emotionale Beziehung zu dieser Person besteht.

Eine dritte Möglichkeit der emotionalen Aufladung von Lernprozessen lässt sich dadurch erreichen, dass das Lernen mit der Androhung von Bestrafungen oder dem Versprechen von Belohnungen, also mit Lob und Tadel, verknüpft wird. Unter diesen Bedingungen wird jedoch primär erlernt, wie sich Strafen vermeiden oder Belohnungen erlangen lassen. Dass der jeweilige Lernstoff dann auch im Hirn verankert wird, ist dann eher ein meist nicht sehr nachhaltiger Nebeneffekt.


Wer nichts lernen kann, ist tot

Angesichts der gegenwärtig propagierten Möglichkeiten der Nutzung von KI (künstliche Intelligenz, lernfähige Datenverarbeitungssysteme) ist es wichtig, den bisherigen, im Wesentlichen aus dem Verständnis von Konditionierungsprozessen abgeleiteten Lernbegriff endlich an den gegenwärtigen Stand der biologischen Forschung anzupassen: Die Fähigkeit zu Lernen ist Ausdruck der Lebendigkeit, nicht nur von uns Menschen, sondern aller Lebewesen auf allen Ebenen der Organisation des Lebendigen: von Prokaryonten über einzellige und vielzellige Organismen bis hin zu sozialen Gemeinschaften. Ohne diese Lernfähigkeit hätte das Leben weder entstehen noch seine Vielfalt an Lebensformen herausbilden können. Lernen ist das Ergebnis der fortwährenden Versuche all dieser ­­Lebewesen, einen verlorengehenden Ordnungszustand wiederherzustellen. In einer durch die Aktivitäten anderer Lebewesen sich ständig verändernden Lebenswelt ist aber genau das niemals erreichbar. Möglich ist es aber, dass ein in seiner inneren Ordnung gestörtes Lebewesen „lernt“, seinen eigenen inneren Ordnungszustand so zu verändern, dass anschließend alles wieder besser zusammenpasst (kohärenter und damit energiesparender ist). Ausgangspunkt all dieser Lernprozesse ist eine „subjektive“ Empfindung des betreffenden lebendigen Wesens, ein Gefühl oder ein Spüren, dass jetzt etwas nicht mehr so ist, wie es sein sollte. Daraus erwächst dann das für das eigene Überleben wichtige Bedürfnis (die „Motivation“), es wieder passend zu machen. Digitale Roboter und Automaten haben prinzipiell keine Bedürfnisse. Sie können daher aus sich selbst heraus (intrinsisch motiviert) nichts lernen. Deshalb bleiben sie, so perfekt sie auch immer programmiert werden, tote Maschinen.


Wo die Lernfreude herkommt

Indem wir nun zu verstehen beginnen, dass es kein Leben ohne Lernen geben kann, wird auch deutlich, wie sehr die Freude am Leben mit der Freude am Lernen verbunden ist, oder, etwas deutlicher: Weshalb die Lernfähigkeit alles Lebendigen zwangsläufig etwas hervorbringen musste, das diese von Anfang an angelegte Fähigkeit ständig weiter zu steigern vermochte, nämlich die Freude am Lernen.

Was Zellen empfinden, wenn sie etwas hinzugelernt haben, wissen wir nicht. Wenn es ihnen hilft, eine schwierige Situation zu meistern und auf diese Weise zu überleben, sollte auch bei ihnen etwas ausgelöst werden, das wir als eine positive Empfindung bezeichnen würden.

Ähnlich dürfte es einem Polypen ergehen, wenn er einen Wasserfloh gefangen hat oder einem Baum, der an einem schwierigen Standort überlebt, weil er sein Wachstum an die dort herrschenden Bedingungen anzupassen lernt.

Aber das, was wir als Lust bezeichnen, können wohl nur all jene Lebewesen empfinden, die über ein Gehirn verfügen, dessen innere Organisation geeignet ist, ein derartiges Gefühl hervorzubringen. Interessanterweise sind das all jene Tiere, bei denen die Fähigkeit, etwas Neues zu lernen und im Gehirn strukturell zu verankern, am weitesten entwickelt ist. Was ein Affe oder ein Rabe oder ein Hund empfindet, wenn er etwas Neues hinzugelernt hat, wissen wir deshalb zwar noch immer nicht. Aber es kann nicht allzu weit von dem entfernt sein, was auch wir in einer solchen Situation empfinden: Lust, vielleicht sogar Begeisterung, aber zumindest Freude.

Und diese Freude über eine wichtige Lernerfahrung, die jemand gemacht hat, geht interessanterweise immer mit einer gleichzeitig ausgelösten Freude darüber einher, dass er oder sie lebendig ist. Kinder spüren das noch im ganzen Körper. Die Fähigkeit zu Lernen ist also nicht nur Ausdruck der eigenen Lebendigkeit. Beides, Lernen und Leben, sind auch über das gleiche Gefühl untrennbar miteinander verbunden. Das gilt auch für den umgekehrten Fall: Wer die Lust am Lernen verliert, dem*der kommt damit auch seine*ihre Lust am Leben abhanden.


Wie die Freude am Lernen verloren geht

Deshalb ist es keine belanglose Frage, sondern ein ernst zu nehmendes Problem mit nicht zu unterschätzenden Auswirkungen für die gesamte weitere Lebensgestaltung, ob es einem Kind gelingt, seine angeborene Freude am Lernen (und damit seine Freude an der eigenen Lebendigkeit) aufrechtzuerhalten. Leider geht vielen Menschen ihre angeborene Lernlust bereits sehr früh, oft schon während der Kindheit, verloren. Ein recht gutes Indiz dafür ist es, wenn Kinder aufhören, frei und unbekümmert zu spielen oder keine Lust mehr haben, ihren erwachsenen Bezugspersonen ständig neue Fragen zu stellen. Denn spielend und fragend erkunden sie die Welt und erleben sich dabei als Gestalter*innen ihrer eigenen Lernprozesse – als Subjekte.

Daran werden sie gehindert, sobald jemand ihnen etwas beizubringen, sie zu belehren, zu unterrichten versucht. Dann erleben sie sich nicht mehr als Gestalter*innen ihrer eigenen Lernprozesse. Sie werden so zu Objekten von Belehrungen, von Erziehungs- und Unterrichtsmaßnahmen, von Erwartungen und Bewertungen gemacht. Sie fühlen sich dann nicht mehr in ihrer Einzigartigkeit – als Subjekte – gesehen und wertgeschätzt. Sie erleben das als schmerzhafte, unangenehme Erfahrung, haben also ein Problem, das sie lösen müssen.

Alle Kinder lernen früher oder später, was sie tun können, um dieses unangenehme Gefühl zu überwinden. Manche versuchen es, indem sie den Spieß einfach umdrehen und ihre Belehrer*innen und Erzieher*innen selbst ebenfalls zum Objekt machen – zunächst ihrer Bewertungen („doofe*r Lehrer*in“), später auch ihrer Handlungen (andere manipulieren, hintergehen, ausnutzen).

Auch das löst immer dann, wenn es funktioniert, ein Gefühl aus. Es heißt Befriedigung, in seiner Steigerung Triumph. Es geht um Unterwerfung, um das Erlangen von Kontrolle, um Einfluss und Macht über andere Personen. Mit der Freude am Lernen, mit der ursprünglichen Offenheit für alles, was es zu entdecken und gestalten gibt, hat dieser Entwicklungsweg nichts mehr zu tun, auch wenn er bisweilen zu beeindruckenden Leistungen und Erfolgen Einzelner – auf Kosten anderer – führt. Und indem sich dabei das ursprüngliche Gefühl der Freude am Lernen in ein Gefühl der Befriedigung und des Triumphes verwandelt, verschwindet dann leider auch die Freude am Leben. Dann geht es diesen Menschen auch im weiteren Leben nur noch um Befriedigungen und gelegentliche Triumphe – von der „Schnäppchenjagd“ aus dem Sortiment der Sonderangebote bis zur Berufung auf eine Professur an einer Universität.

Manchen Kindern gelingt es offenbar nicht so leicht, ihre Eltern, Erzieher*innen oder Lehrer*innen zu Objekten ihrer eigenen Bewertungen und Handlungen zu machen. Sie machen sich lieber selbst zum Objekt: erklären sich selbst für zu dumm, halten sich für nicht liebenswert, für nicht gut genug, betrachten sich als Versager*in. Auch das ist eine geeignete Strategie, um den Schmerz und das unangenehme Gefühl zu überwinden, das sie empfinden, wenn sie sich nicht als Subjekte gesehen und wertgeschätzt, sondern als Objekte der Belehrungen, Absichten, Bewertungen oder gar Maßnahmen anderer Personen behandelt fühlen. Auch das, also sich selbst wie ein Objekt zu bewerten und zu behandeln, können Kinder und auch noch Erwachsene lernen. Das damit einhergehende Gefühl hat mit Lernfreunde allerdings ebenfalls nichts zu tun. Aber es ist besser auszuhalten als der Schmerz. Wir haben dafür keine gute Bezeichnung, vielleicht passt Gleichgültigkeit noch am besten. „Mir ist alles egal, ich mag mich selbst nicht“ wird dann zum vorherrschenden Lebensgefühl. Es ist eine fatale Einstellung, denn jemand, der sich selbst zum Objekt gemacht hat, erlebt sich auch nicht mehr als aktive*r Gestalter*in. Er oder sie hat dann keine gute Beziehung zu sich selbst, mag sich und oft auch seine eigene Körperlichkeit nicht mehr und hat daher enorme Probleme bei der Gestaltung seiner Beziehungen zu anderen. Auch dabei geht viel Lebendigkeit verloren.

Es ist nicht allzu schwer herauszufinden, welche dieser beiden Strategien ein Mensch schon als Kind und später als Erwachsener gefunden hat und künftig zur Gestaltung seines Lebens und seiner Beziehungen zu anderen Menschen (und meist auch zu anderen Lebewesen) einsetzt. Es zeigt sich in seinem Handeln. Nicht immer ganz leicht zu erkennen sind die ungünstigen Erfahrungen, die von anderen, meist erwachsenen Personen und meist auch ohne bewusste Absicht, herbeigeführt worden sind. Niemand verliert seine angeborene Lern- und Lebenslust von allein. Damit es dazu kommen kann, muss es andere Menschen geben, die sich der Auswirkungen ihrer Belehrungen, ihrer Bewertungen, ihrer Maßnahmen oder gar Anordnungen nicht bewusst sind. Sie wissen nicht, was sie tun. Meist sind solche Personen ihrerseits ebenfalls – und meist auch schon als Kinder – nicht als Subjekte gesehen, geschweige denn bedingungslos geliebt, sondern wie Objekte behandelt worden.


Wie die Lernfreude wieder erwachen kann

Erst wenn immer mehr Menschen diesen subtilen Prozess der transgenerationalen Weitergabe negativer Lernerfahrungen zu verstehen beginnen, wird es auch möglich, ihn zu durchbrechen. Es mag sein, dass die Hirnforschung nicht viel zur Verbesserung der praktischen Gestaltung von Lernprozessen beitragen kann. Aber die von den Hirnforscher*innen gewonnene Erkenntnis, dass unser menschliches Gehirn zeitlebens plastisch und durch neue Erfahrungen veränderbar ist, lässt zumindest eine Schlussfolgerung zu: Wir könnten uns verändern. Wir könnten aufhören, einander zu Objekten unserer Absichten und Ziele, unserer Erwartungen und Bewertungen, unserer Belehrungen und unserer klugen Ratschläge oder gar unserer Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen zu machen. Wir könnten wieder lernen, einander als Subjekte zu begegnen. Wir könnten einander einladen, ermutigen und inspirieren, die Freude am miteinander Lernen und am Zusammenleben wiederzufinden.

Dann würden sich auch die alten gebahnten Vernetzungsmuster in unseren Gehirnen von ganz allein verändern. Und unsere Kinder wären nicht länger gezwungen, die gleichen neuronalen, das Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden Vernetzungsmuster in ihrem Hirn zu verankern wie wir.

Wir könnten unser Zusammenleben also auch so gestalten, dass unsere Freude am Lernen zeitlebens erhalten bleibt. Unsere Gehirne hätten damit kein Problem. Im Gegenteil! Aber damit das geschieht, müssten wir es auch wollen. Das ist unser Problem. Denn wollen kann eine Person so etwas nur, wenn sie sich als Subjekt, als aktive*r, lernfähige*r und selbstverantwortliche*r Gestalter*in ihres Zusammenlebens mit allen anderen Lebewesen versteht.


Welche Lernerfahrungen Heranwachsenden künftig erspart werden sollten

Noch im vergangenen Jahrhundert war die Auffassung weit verbreitet, die Fähigkeiten zu lernen sei ein Herausstellungsmerkmal des Menschen. Diese Auffassung ließ sich jedoch angesichts der immer zahlreicher werdenden Beobachtungen von z.T. sogar sehr komplexen Lernleistungen von Tieren nicht länger aufrechterhalten.

Sie wurde abgelöst durch die Vorstellung, nur wir Menschen seien in der Lage zu lernen, was im Kopf einer anderen Person vorgehe, was sie vorhat, welche Absichten sie verfolgt und was sie deshalb sagt oder tut. Als Theory of Mind bezeichnen die Hirnforscher*innen diese besondere Fähigkeit. Aber auch sie ist offenbar kein Alleinstellungsmerkmal von uns Menschen. Auch die mit uns verwandten Primaten verfügen über diese Fähigkeit. Auch sie können offenbar schon lernen, sich ein Bild davon zu machen, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was ein anderer Affe oder ihr*e menschliche*r Betreuer*in vorhat und welche Absichten er oder sie verfolgt. Inzwischen sind sogar die ersten Hinweise dafür gefunden worden, dass auch Hunde und manche Vögel in der Lage sind, eine Vorstellung davon zu entwickeln, welche Absichten ein*e andere*r verfolgt, was er oder sie also denkt und vorhat.

Dennoch gibt es etwas, das nur wir Menschen lernen können und was uns wirklich von den Tieren unterscheidet: Nur wir sind in der Lage zu lernen, die Lernfähigkeit anderer Lebewesen und vor allem die unserer eigenen Artgenossen, sogar die unserer Kinder, gezielt und bewusst zur Verfolgung unserer eigenen Absichten auszunutzen. Nur wir können lernen, andere Tiere abzurichten und so zu dressieren, dass sie sich schließlich so verhalten und genau das tun, was wir wollen. Konditionierung nennen das die Lernforscher*innen heute. Dass sich bei Tieren und erst recht bei anderen Menschen durch Belohnungen oder Bestrafungen gezielt Lernprozesse erreichen lassen, haben Menschen bereits sehr früh gelernt, lange bevor Pawlov mit seinen Experimenten an Hunden herausgefunden hatte, wie diese Konditionierung funktioniert.

Damit ein Mensch einem Hund, einem Kanarienvogel, einem Affen oder einem anderen Menschen durch solche Konditionierungsprozesse etwas beibringen kann, ihn also lehren kann, etwas zu tun, was das betreffende Lebewesen normalerweise nicht oder zumindest nicht auf Kommando oder nur in einem bestimmten Kontext tun würde, muss der*die jeweilige Lehrmeister*in über eine Fähigkeit verfügen, die nur Menschen erlernen können. Er oder sie muss in der Lage sein, dieses andere Lebewesen nicht als Subjekt, sondern als Objekt zu betrachten. Erst als solches kann er es für seine Konditionierungsabsichten benutzen.

Diese besondere Fähigkeit, andere Lebewesen oder gar seine Mitmenschen als Objekte zu behandeln, ist dem Menschen nicht angeboren. Sie wird erst durch einen eigenen Lernprozess erworben. Und zwar dadurch, dass die betreffende Person selbst von anderen zum Objekt ihrer Absichten und Ziele, ihrer Bewertungen und Belehrungen, ihrer Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gemacht wurde. Oft geschieht das bereits während der frühen Kindheit, es setzt sich fort in den Bildungseinrichtungen und kennzeichnet bis heute die Art unseres gegenwärtigen Zusammenlebens. Anstatt einander als Subjekte zu begegnen und voneinander zu lernen, machen wir uns gegenseitig zu Objekten und benutzen einander bei der Verfolgung unserer jeweiligen Absichten und Ziele.

Es handelt sich hierbei um eine bemerkenswerte Kulturleistung, die nur der Mensch mit Hilfe seines enorm komplexen Gehirns und nur aufgrund seiner Eingebundenheit in menschliche Gemeinschaften zu entwickeln imstande war. Als kollektive Lernleistung herausbilden konnten Menschen diese Fähigkeit deshalb, weil es unter bestimmten Bedingungen vorteilhaft war, andere als Objekte zu betrachten, zu behandeln und zu benutzen.

Konkret heißen diese Bedingungen Not und Elend, verursacht durch Naturkatastrophen, meist aber durch kriegerische Auseinandersetzungen. Allgemeiner ausgedrückt waren es fortwährende Bedrohungen der eigenen Existenz, also das durch Angst ausgelöste Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle, was zur Herausbildung dieser besonderen Kulturleistung geführt hat.

Und die wirksamste Bewältigungsstrategie, die von einer bedrohten und verängstigten menschlichen Gemeinschaft gefunden werden kann, ist der Aufbau einer möglichst streng organisierten, hierarchisch geordneten Sozialstruktur. Hier agieren nur noch wenige Personen als entscheidungs- und handlungsfähige Subjekte, alle anderen haben sich deren Entscheidungen, Maßnahmen und Anordnungen unterzuordnen.

Nur so konnten Soldat*innen geführt und Kriege gewonnen werden. So können bis heute aber nicht nur kollektive Bedrohungen abgewendet, sondern auch von den Anführer*innen erlangte Besitztümer und Privilegien gesichert werden. Weil das in allen menschlichen Gemeinschaften bisher so bedeutsam war, sind auch überall gesellschaftliche Einrichtungen und Strukturen geschaffen worden, die sicherstellten, dass immer wieder genügend Kinder und Jugendliche bereit waren, sich als Objekte zur Verwirklichung der Absichten und Ziele anderer Personen benutzen zu lassen. Die Aufgabe dieser Einrichtungen besteht nicht darin, die Entfaltung der individuellen Talente und Begabungen der Heranwachsenden zu ermöglichen, sondern die Stabilität des jeweiligen Gesellschaftssystems zu gewährleisten.

Deshalb werden sich die gegenwärtigen Verhältnisse und Beziehungen in unseren Schulen erst dann verändern, wenn sich auch die Verhältnisse und Beziehungen der Menschen auf der Ebene unserer gegenwärtigen Gesellschaft verändern.

 

Literatur

  • Hüther, Gerald / Hauser, Uli: Jedes Kind ist hoch begabt, München 2013
  • Hüther, Gerald: Mit Freude Lernen, Göttingen 2016
  • Robinson, Ken: Dein Kind, die Schule und Du, Salzburg 2018
  • Heinrich, Marcell / Senf, Mitch / Hüther, Gerald: Education for Future, München 2020
  • Rasfeld, Margret: Freiday. Die Welt verändern lernen, München 2021