„Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt!“ – Das Thema „Theodizee“ im Religionsunterricht

Von Dirk Bischoff und Michaela Veit-Engelmann

Gott und das Leid in der Welt – Vorüberlegungen zum Thema

„Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt!“ Diese Aussage wird dem französischen Schriftsteller Stendhal (1783–1842) zugeschrieben. Mit diesem knappen Satz scheint Stendhal die offene Frage nach dem Glauben an eine jenseitige Macht und der Existenz von Leid in der Welt endgültig zu beantworten. Die Lösungsversuche, wie sie die Menschen seit der Antike beschäftigt haben – man denke nur an das Buch Hiob im Alten Testament – werden beiseite gewischt. Die Welt ist so, wie sie ist, und Gott gibt es nicht, genauer: Gott kann es nicht geben. Nur das kann ihn entschuldigen.

Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Zustands dieser Welt wird als Theodizeeproblematik bezeichnet. Bei dem Begriff Theodizee handelt es sich um ein griechisches Kunstwort, das auf den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zurückgeht und so viel wie „Gerechtigkeit/Rechtfertigung Gottes“ bedeutet. In der Tat ist die Theodizeefrage eine der „Einbruchstellen“ des Glaubens1  und nicht erst seit den berühmt gewordenen Worten Georg Büchners ein „Fels des Atheismus“ (so ein Zitat aus Dantons Tod). Wer angesichts der Faktizität von Leid in der Welt immer noch – vielleicht sogar dennoch – am Gottesglauben festhält, sieht sich oft mit dem Verdacht konfrontiert, allzu leichtgläubig einer religiösen Scheinwelt auf den sprichwörtlichen Leim gegangen zu sein, die doch bereits vor 180 Jahren von Karl Marx als „Opium des Volkes“ demaskiert wurde: Der Glaube an Gott und die Ausübung von Religion könnten nämlich keineswegs die bestehenden Probleme lösen, sondern würden sie vielmehr nur überdecken oder auf den Ausgleich in einer jenseitigen Welt verweisen. Aber: „Kein Himmel kann Auschwitz wiedergutmachen.“2

Und tatsächlich vermag keine Religion eine befriedigende Antwort auf die Theodizeefrage zu geben. So fasst der evangelische Theologe Jürgen Moltmann zusammen: „Jede andere Antwort wäre Blasphemie [d.h. Gotteslästerung]. […] Hier von einem leidensunfähigen Gott zu sprechen, würde Gott zum Dämon machen. Hier von einem absoluten Gott zu sprechen, würde Gott zum vernichtenden Nichts machen. Hier von einem indifferenten Gott zu sprechen, würde Menschen zur Gleichgültigkeit verurteilen.“3 Der christliche Glaube spricht davon, dass Gott in Jesus Christus selbst am Kreuz gelitten habe. Damit bleibt allerdings die „Warum“-Frage offen; beantwortet ist damit lediglich die Frage danach, wo Gott ist, wenn Menschen leiden: Er steht an ihrer Seite. In seinem Sohn hat Gott selbst Schmerzen und Tod ertragen und kann deshalb Menschen in dieses Dunkel begleiten.


Die Frage nach Gott und dem Leid in der Welt im Religionsunterricht –
Didaktische Überlegungen

Die Theodizeefrage und die Schüler*innen4

Kommt man mit Schüler*innen an einer Berufsbildenden Schule über die großen Fragen des Lebens ins Gespräch, dann bestätigt sich schnell der Eindruck, dass die Theodizeefrage tatsächlich eines der Einfallstore des Atheismus ist. Fast reflexartig wird auf den faktischen Zustand der Welt verwiesen, um damit die Nichtexistenz Gottes zu begründen. Die Theodizeefrage wird so zum letzten Sargnagel, den die scheinbar aufgeklärte Schüler*innengeneration des 21. Jahrhunderts einschlägt, um den vermeintlich längst überholten Gottesglauben der Vorfahren endgültig zu beerdigen: Einen Gott, der gütig, gut und allmächtig ist – einen Gott also, der so ist, wie Menschen ihn sich wünschen –, könne es angesichts dieser Welt nicht geben. Sonst hätte er ihre Katastrophen verhindern müssen. Die einzige Entschuldigung für Gott sei, dass es ihn nicht gebe!

Wenn es Gott aus Sicht der Schüler*innen nicht gibt, warum dann trotzdem dieses Thema? – Zur Relevanz dieses Unterrichtsgegenstandes für die Schüler*innen

Der Wunsch, dass es für jede Wirkung eine bestimmte Ursache gebe und dass sich also das gesamte Leben einordnen lasse in Kausalzusammenhänge, ist zutiefst menschlich. Jede Reaktion soll sich auf einen bestimmten Auslöser zurückführen lassen, auf jede Frage möchte man eine Antwort. Nur dann erscheint das Leben mit seinen Unwägbarkeiten und in seiner Kontingenz beherrschbar und die eigene Existenz mehr als bloßer Zufall. Gegen bleibende Unsicherheiten, die in der Tat schwer auszuhalten sind, wird hier eine innerweltliche Logik ins Feld geführt, die jedoch allzu oft versagt. Nicht jedem*r, der*die sich ethisch korrekt verhält, geht es auch persönlich gut – und nicht jedem*r, dem*der Leid widerfährt, hat vorher etwas getan, womit dieses Leid erklärt werden, ja sogar als gerecht klassifiziert werden könnte. Die sogenannte „Warum-Frage“ fordert heraus, weil sie einerseits vermeintliche Sicherheiten aufbricht und weil sie andererseits zwar gängige Antworten demaskiert, aber keine allgemeingültige oder gar endgültige Lösung zu bieten vermag.

Die Schüler*innenantworten auf die Theodizee-Frage sind so unterschiedlich wie die religiösen Prägungen. An Berufsbildenden Schulen wird Religionsunterricht häufig im Klassenverband erteilt. Dies führt dazu, dass Schüler*innen ganz verschiedener Religionszugehörigkeit gemeinsam den konfessionellen beziehungsweise konfessionell-kooperativen Religionsunterricht besuchen. Auch deshalb ist plötzlich die Frage nach Gott und dem Leid in der Welt wieder offen. Neben sich selbst als atheistisch bezeichnenden Jugendlichen, für die das Thema schon längst erledigt ist, nehmen auch solche jungen Menschen an diesem Religionsunterricht teil, die für sich einen Weg gefunden haben, die Theodizeefrage und ihren Glauben an Gott zusammenzudenken. Hierzu zählen oft muslimische Schüler*innen, aber auch solche, die selbst aktive christliche Gemeindeglieder sind – und schließlich Jugendliche, die sich fernöstlichen Konzepten zugeneigt fühlen und die bei dieser Frage auf ihren Glauben an eine ausgleichende Gerechtigkeit durch Wiedergeburt verweisen. Den Lösungen, die die Schüler*innen präsentieren, ist oft eines gemeinsam: Sie sind theoretisch, das heißt, sie zeugen in den allermeisten Fällen nicht von einer religiösen Reflexion selbst erlittenen Leids, sondern tragen den Blick von außen auf eine theoretisch konstruierte Leidsituation ein.

Das Thema „Theodizee“ unterrichten – Aber wie?

Um das Thema mit Gewinn für alle Beteiligten im Unterricht zu behandeln, muss aus der scheinbar akademischen Denkaufgabe eine Frage werden, die mitten hinein in die Lebenswelt derer führt, die am Religionsunterricht teilnehmen. Dabei gilt: Leid ist nicht etwas, über das man nur reden sollte; sondern die Thematisierung sollte dazu anregen, darüber nachzudenken, wie man selbst Menschen im Leid weniger durch Erklärungen als vielmehr durch praktische Hilfen beistehen kann. Nur so wird auch diese Frage, die viele Schüler*innen gerade an Berufsbildenden Schulen schon glauben, ad acta legen zu können, zu einer, die „unmittelbar angeht“ (so in Aufnahme einer bekannten Formulierung des Theologen Paul Tillich).

Weil dabei die Theodizeefrage eine ist, die mit den Mitteln dieser Welt nicht zu lösen ist, verlangt ihre Behandlung nach einem Unterricht, dem es gelingt, diese Offenheit nicht nur auszuhalten, sondern auch didaktisch fruchtbar zu machen: Schüler*innen sollen angeregt werden, sich zu positionieren – immer in dem Wissen, dass diese Position nie endgültig sein kann. Doch wenn dies gelingt, ist ein solch offener Diskurs auf Augenhöhe ein großer Gewinn für alle Beteiligten, weil er gerade aufgrund der bleibenden Unsicherheit zum Nachdenken anregt.

Das Thema „Theodizee“ in den Rahmenrichtlinien

Die Rahmenrichtlinien für den Evangelischen Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen (Gültigkeit seit Oktober 2014) fordern die Beschäftigung mit der Theodizeeproblematik explizit nur für die Niveaustufen 3 (3A3: „Die Schüler*innen setzen sich angesichts des Leids mit der Frage nach Gott auseinander und nehmen Stellung zu Antwortmöglichkeiten“) und 6 (6F4: „Die Schüler*innen setzen sich mit Leiderfahrungen und christlicher Hoffnung vor dem Hintergrund der Existenz Gottes auseinander“) ein, zeigen aber deutlich, dass die Grundfrage danach, wie der Glaube an einen allmächtigen Gott und die Existenz von Leid in der Welt zusammenzudenken sind, auch in anderen Zielformulierungen mitzubehandeln ist. Wenn zum Beispiel Schüler*innen auf Niveaustufe 2 aufgefordert sind, „Vorstellungen von Gott zu nennen und Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit aufzuzeigen“ (2B1), so ist dies nicht zu lösen von der Frage, wie Gott angesichts des Leids in der Welt zu denken ist. Dies gilt auch für weitere Zielformulierungen für alle Niveaustufen (z.B. 3B1; 4A1; 4B1; 4B2; 6F1; 6F2; 6F3).

Die von den Schüler*innen zu erwerbende Handlungskompetenz setzt sich zusammen aus Fachkompetenz und personaler Kompetenz. Bei der Beschäftigung mit der Theodizeefrage wird besonders die personale Kompetenz geschult: Es geht nicht nur um Vergewisserung und Reflexion der eigenen Position (Selbstkompetenz), sondern auch darum, diese Meinung im Diskurs argumentativ zu vertreten und dabei Ansichten, die man vielleicht nicht nachvollziehen kann, dennoch wertschätzend zu kommentieren (soziale Kompetenz).


Das Thema „Theodizee“ in der konkreten Unterrichtspraxis – Methodische Überlegungen und Materialbeschreibung

Die hier vorgestellten Ideen bilden keine Unterrichtsreihe zum Thema „Theodizee“ ab, sondern dienen als Materialpool und Ideenbausteine, die in verschiedenen Lernsituationen eingesetzt werden können und deren Lebensweltbezug das Thema den Schüler*innen auf verschiedenen Wegen nahebringen soll. Die Materialien sind möglichst vielfältig gestaltet, um den verschiedenen Niveaustufen und Zielformulierungen gerecht zu werden.

„Ich bin gefragt!“ – Meine Meinung zur Theodizeefrage (M 1)

Die in M 1 im Downloadbereich zur Verfügung gestellten kurzen Features bieten gängige Erklärungsmöglichkeiten, wie sie als Antworten auf die Theodizeefrage immer mal wieder geäußert werden. Sie offenbaren aber weniger eine tatsächliche Lösung für das Problem, wieso Gott, wenn er doch allmächtig, allgütig und allwissend ist, das Leid in der Welt nicht verhindert, sondern sind vielmehr Ausweis eigener Hilflosigkeit angesichts dieser Frage. Der Wunsch, alles rational erklären zu können, hat erkennbar Pate gestanden.

Ziel des Einsatzes dieser Materialien ist es, die Schüler*innen zu der Erkenntnis anzuleiten, wie offen diese Theodizeefrage ist, und sie dennoch zu einer Positionierung anzuregen. Die Features können in Einzelarbeit thematisiert werden (roter Daumen = Ablehnung, grüner Daumen = Zustimmung), sie können als DIN-A4-Ausdrucke für ein offenes Gespräch (im Sitzkreis) dienen – oder sie sind als digitales Tool (Padlet) in der Materialsammlung abrufbar; dort findet sich auch eine kurze Beschreibung zum Umgang damit.

Als Bearbeitungsalternative wäre auch vorstellbar, dass die Schüler*innen in Partnerarbeit jeweils nur ein Feature erhalten und das Pro und Kontra dieses speziellen Lösungsversuchs diskutieren sollen.

Anregungen zur Weiterarbeit: Der Austausch über die verschiedenen Features bleibt zunächst auf einer eher theoretischen Ebene; bekommt aber spätestens dann eine ganz existenzielle Dimension, wenn die Schüler*innen in einem zweiten Schritt aufgefordert werden: „Stellen Sie sich vor, Sie begegnen im Treppenhaus Ihrem Nachbarn, einem älteren Herrn, von dem Sie wissen, dass er sonntags regelmäßig in die Kirche geht und der vor wenigen Wochen seine Frau verloren hat. Sie grüßen und sprechen ihm noch Ihr Beileid aus. Ihr Nachbar nickt zu Ihren Worten und sagt dann völlig unvermittelt: »Warum? Warum nur musste das gerade mir passieren?« Wie reagieren Sie? Was antworten Sie?“ Die Schüler*innen werden dabei nicht nur dafür sensibilisiert, dass jeder Antwortversuch in existenziellen Lebenssituationen an Grenzen stößt, sondern erfahren auch, dass aus eigener Sicht hilfreiche Erläuterungen für einen Betroffenen zynisch sein können.

Gedankenexperiment: Gott unter Anklage? (M 2)

(Hinweis: Das hier vorgestellte Gedankenexperiment ist als Gruppenarbeit angedacht, kann aber auch, zumindest in niveaustarken Klassen, als schriftliche Einzelarbeit durchgeführt werden.)

Unter Gültigkeit der Arbeitshypothese „Es gibt einen Gott!“ setzen sich die Schüler*innen in Kleingruppen mit möglichen Anklagepunkten gegenüber Gott angesichts des Leids in der Welt auseinander. Dazu ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt mithilfe einer Mindmap die verschiedenen Arten und Weisen zu sammeln, in denen sich Leid äußern kann. Bereits Leibniz unterschied zwischen natürlichen Übeln (z. B. Naturkatastrophen oder Krankheiten) und moralischen Übeln (von Menschen verursachte Katastrophen); eine Differenzierung, die gemeinsam mit den Schüler*innen durchaus noch verfeinert werden kann: Wer ist denn verantwortlich, wenn der eine Raucher jung an Lungenkrebs erkrankt, die andere starke Raucherin aber hochbetagt an Altersschwäche stirbt? Und sind die Waldbrände, die immer heftiger zu toben scheinen, wirklich ein „natürliches Übel“ oder eher eine Folge des von Menschen gemachten Klimawandels? Und schließlich: Wer ist verantwortlich, wenn jemand bei einem nicht selbst verschuldeten Verkehrsunfall schwere Behinderungen zurückbehält oder gar ums Leben kommt?

Ist damit der thematische Horizont eröffnet, sind die Schüler*innen aufgefordert, in Kleingruppen möglichst viele Anklagepunkte gegen Gott zu sammeln und auszuformulieren, gerne als offene Fragen „Wieso …?“, „Wie kann Gott …?“ Im Anschluss werden diese Anklageschriften eingesammelt und an jeweils andere Gruppen ausgeteilt. Die Schüler*innen schlüpfen nun, nachdem sie vorher als Ankläger*innen Gottes fungierten, in die Rolle des*r Verteidiger*in. Ihre Aufgabe ist es jetzt, möglichst viele Anklagepunkte möglichst gut begründet zu widerlegen; für niveauschwächere Schüler*innen kann dabei Differenzierungsmaterial in Form von Tippkarten zur Verfügung gestellt werden. Für dieses Gedankenexperiment ist es wichtig, dass der Gottesbegriff im Vorfeld möglichst offengeblieben ist – wenn z.B. nicht festgelegt ist, dass Gott als allmächtig oder allgütig zu gelten hat, dann könnte eine Anklage-Wiederlegung lauten: Gott konnte oder wollte das Leid nicht verhindern… Den Abschluss des Experiments bildet eine Würdigung der verschiedenen Verteidigungsreden im Klassenverband sowie eine Sammlung und Gewichtung der unterschiedlichen Argumente: Welche tragen aus je individueller Sicht, welche nicht – immer unter der Prämisse, dass es Gott gibt.

Wichtig ist hierbei noch: Es handelt sich zwar nur um ein Gedankenexperiment, dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass schon die Vorstellung, ein Mensch dürfte in dieser Weise Gott anklagen, gelegentlich bei [muslimischen] Schüler*innen die Sorge erweckt, etwas Blasphemisches zu tun. Hier ist dann gegebenenfalls Fingerspitzengefühl gefragt.

Anregungen zur Weiterarbeit: Die Vorstellung eines menschlichen Tribunals über den himmlischen Weltherrscher findet sich auch bei Elie Wiesel, der von einem solchen Erlebnis im Konzentrationslager berichtet. Hier wird Gott nicht nur angeklagt und verteidigt, sondern sogar schuldig gesprochen – und dennoch steht am Schluss die Aufforderung zum Gebet zu diesem schuldigen Gott.5

Gottesbilder im Test: Welchem Gott kann ich eher vertrauen? (M 3)

Die Schüler*innen sind aufgefordert, die beiden „Gottesbilder“ zu betrachten und anschließend miteinander zu vergleichen. Dabei stehen sich zwei Gottesdarstellungen gegenüber, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Zum einen ein „Power-Gott“, Typ Herkules, der kraftvoll, trainiert und stark (und irgendwie auch ein wenig gelangweilt) wirkt, zum anderen der gekreuzigte Gott des christlichen Glaubens, der sich schwach, geschunden und leidend zeigt.

Für niveaustarke Klassen wäre als Zwischenschritt eine Weiterarbeit denkbar, die nach dem göttlichen Selbstbild – Wie könnte ein solcher Gott sich selbst sehen und über sich selbst denken? – und nach der Fremdbetrachtung fragt – Welche Erwartungen und Hoffnungen sind damit verbunden, wenn Menschen sich ihren Gott auf die eine oder die andere hier dargestellte Weise vorstellen? Weil diese Fragen jedoch theoretisches Gedankenkonstrukt bleiben, sind gerade niveauschwache Klassen damit leicht überfordert.

Die Betrachtung der beiden Gottesbilder wird um ein drittes Bild erweitert, auf dem ein kranker oder leidender Mensch zu sehen ist. Zur Diskussion steht nun die Frage: Welchem Typ Gott würde „ich“ mich anstelle dieses Menschen eher anvertrauen wollen? Wer würde mir helfen können? Wer würde eher verstehen, was es heißt, zu leiden und schwach zu sein? Die Antworten, egal ob schriftlich oder mündlich, geben sehr viel Persönliches preis und sollten entsprechend wertgeschätzt werden. Aus christlicher Sicht läge die Vorstellung nahe, dass ein Gott, der selbst Leid und Schmerz kennt, eher zum Helfer und Tröster werden kann. Doch müssen Schüler*innen dies anders sehen dürfen.

(Wenn eine Lehrkraft gerne auf den allzu theologischen Einstieg über die Betrachtung der Gottesbilder verzichten möchte, wäre auch ein diametral entgegengesetzter Zugang denkbar: Die Schüler*innen überlegen zunächst, ohne jeden Transzendenzbezug, wie ein*e Freund*in sein müsste, dem*der sie sich in einer hypothetischen Leidsituation anvertrauen würden – und schließen erst nach einer Auswertung ihrer Antworten darauf, welche Charakteristika ein Gott haben müsste, damit sie ihm vertrauen können.)

Anregungen zur Weiterarbeit I:
In dem Roman „Oskar und die Dame in Rosa“ findet sich ein sehr aufschlussreicher Dialog zwischen dem todkranken Jungen Oskar und seiner Freundin Oma Rosa, die ihn regelmäßig im Krankenhaus besucht: Die beiden machen sich eines Tages auf, um Gott zu treffen – doch als Oma Rosa Oskar in die Krankenhauskapelle führt und ihm ein Kruzifix zeigt, ist er zunächst entsetzt. Erst nach und nach öffnet er sich für den Gedanken, dass auch ein Gott Leid und Tod erfahren kann und ihm deshalb vielleicht sogar besonders nahe kommt.6 Auch die Verfilmung (Film zur Ausleihe oder als Download bei www.medienzentralen.de) setzt diese Szene in Kapitel 8 kongenial um.

Anregungen zur Weiterarbeit II:
Das Lied „Wo bist du, Gott?“ spürt ebenfalls dem Gedanken nach, inwiefern der Verweis auf den Gott, der leidet und deshalb Menschen im Leid zur Seite steht, eine Antwort auf die „Warum“-Frage bietet. Der Text ist im Downloadbereich verfügbar, dort ist auch das Hörbeispiel verlinkt.

„Zeig dich!“ – Das Thema Theodizee bei der Band Rammstein

Das Lied „Zeig dich“ von Rammstein spielt bewusst mit religiösen Traditionen. Die eröffnenden Zeilen in (falschem!) Latein erinnern an gottesdienstliche Hymnen und deuten so schon an, dass es hier um ein kirchliches Thema geht. Das Lied selbst generiert sich als Abrechnung mit den (vermeintlichen oder realen) Vergehen der Kirche, u.a. mit falschen Versprechungen und dem vielfachen Kindesmissbrauch. Dazwischen findet sich im Refrain immer wieder die – direkt an Gott gerichtete – Aufforderung „Zeig dich!“ Denn wenn Gott dies nicht tue, so die explizite Begründung des Liedes, verlören die Menschen das Licht, wäre kein Engel mehr in Sicht, bliebe also der Himmel leer und die Menschheit sich selbst überlassen. Aus Sicht von Rammstein ist Gott der moralische Garant gesellschaftlichen Zusammenlebens. Doch Gott, so sagt es das Lied, zeigt sich eben nicht. Ist der Himmel also wirklich leer? Dass Gott in diesem Lied immer weiter angeredet wird, spricht eine andere Sprache, setzt doch die Anrede Gottes als „Du“ voraus, dass der Sprecher durchaus davon ausgeht, dass er da ist – und sich also vielleicht nur nicht zeigen will. (Der Liedtext ist online auf verschiedenen Plattformen verfügbar, verschiedene Mitschnitte [z.B. von Livekonzerten] finden sich ebenfalls im Netz.)

Dass die Band Rammstein aufgrund ihrer vermeintlichen Nazi-Optik und des entsprechenden Sprachduktus polarisiert, ist Schüler*innen einer BBS in jedem Fall bekannt; ob die Band wirklich rechte Gedanken verbreiten will, wird immer wieder diskutiert. Es bietet sich an, mit den Schüler*innen zunächst über die Inhalte des Liedes ins Gespräch zu kommen sowie (zumindest bei niveauschwächeren Klassen) zu klären, wer hinter dem angeredeten „Du“ sowie hinter denen steht, über die hier gesprochen wird. Im Zentrum der Beschäftigung mit diesem Lied sollten dann die beiden folgenden Fragen stehen:

  1. Wenn Rammstein feststellt, dass sich Gott nicht zeigt: Welche Folgen hat das aus Sicht der Band?
  2. Schreiben Sie den Liedtext weiter: Was würde passieren, wenn Gott sich zeigen würde? Entwerfen Sie, der Struktur von Rammsteins Text folgend, eine eigene Utopie!

Anregungen zur Weiterarbeit:
Das Thema Theodizee wird auch von anderen Popsängern aufgegriffen: Aus dem Jahr 2010 stammt „Prayer in C“ von Robin Schulz, das bis heute regelmäßig im Radio läuft und das auch die Schüler*innen in der Regel noch kennen. Etwas neuer ist „Heart upon my sleeve“ von AVICII, das der berühmte schwedische DJ kurz vor seinem Freitod 2016 mit weiteren namhaften Künstler*innen eingespielt hatte.

Anmerkungen:

  1. Nipkow, Gott, 52–78, zählt dazu neben der Theodizeefrage den Konflikt um Glauben und Naturwissenschaft, die Religionskritik sowie die Kritik an der Institution Kirche.
  2. Sölle, Leiden, 183.
  3. Moltmann, Gott, 262.266.
  4. Im Blick sind hier Schüler*innen an Berufsbildenden Schulen, vor allem solche in Klassen der Niveaustufen 2–4, die also entweder ihren Haupt-, Real- oder Fachoberschulabschluss erreichen wollen oder eine dreijährige Berufsausbildung absolvieren.
  5. Wer mit diesem Text weiterarbeiten möchte, findet ihn in Schwenke, Erinnerung, 117–119; der Text von Elie Wiesel ist auch online verfügbar
  6. Schmitt, Oskar, 63–68

Literatur (in Auswahl):

  • Adam, Gottfried: Religionslehrerin / Religionslehrer: Beruf – Person – Kompetenz, in: Rothgangel, Martin / u.a. (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 82013, 292–309
  • Gerber, Uwe: Gegenwärtige und zukünftige Problemfelder des Berufsschulreligions-Unterrichts, in: ders. / u.a. (Hg.): Religion und Religionsunterricht. Eine Untersuchung zur Religiosität Jugendlicher an Berufsbildenden Schulen, Darmstädter Theologische Beiträge zu Gegenwartsfragen 7, Frankfurt a.M. 2002, 19-64
  • Moltmann, Jürgen: Der gekreuzigte Gott, München 1972
  • Nipkow, Karl Ernst: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, München 1987
  • Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie. Bd. 3, Göttingen 1993
  • Schmitt, Eric-Emmanuel: Oskar und die Dame in Rosa, Frankfurt a.M. 2012
  • Schwenke, Olaf (Hg.): Erinnerung als Gegenwart. Elie Wiesel in Loccum, Evangelische Akademie Loccum, Loccum 1987
  • Sölle, Dorothee: Leiden, Stuttgart 1973