Wenn Migration ein Gesicht bekommt – Das Deutsche Auswandererhaus präsentiert 300 Jahre Migrationsgeschichte und setzt dabei auf persönliche Begegnungen

Von Ira Sorge-Röder

 

Warum er sein Heimatland verließ? Wenn er das erklären will, muss er von seinem Glauben erzählen. Mit seiner Religion gehörte er zu einer unterdrückten Minderheit: Der politische Herrscher seines Landes wollte ihn und seine Glaubensgenossen zur Konversion zwingen, die Auswanderung in tolerantere Länder war unter schwerer Strafe verboten. Zunächst wollte er bleiben, nach der Geburt seines Sohnes floh er dann doch mit seiner Familie nach Berlin.

Was anmutet wie eine aktuelle Fluchtgeschichte, ereignete sich tatsächlich im 18. Jahrhundert: Philippé Connor, geboren 1660 im südfranzösischen Montelon, war nur einer von 150.000 Hugenotten, die während der Herrschaft Ludwigs XIV. heimlich und illegal Frankreich verließen. Seine Geschichte wird heute in der Dauerausstellung des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven erzählt, gemeinsam mit 32 weiteren Biografien von Aus- und Einwanderern. „Wer sich mit den Biografien der Migranten beschäftigt, der bemerkt schnell, dass die Motive für eine Auswanderung im Laufe der Jahrhunderte ähnlich geblieben sind“, erläutert Dr. Simone Eick, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses. Die oft genug verzweifelte persönliche und politische Situation, wirtschaftliche Nöte und religiöse Verfolgung, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft – all das bewog und bewegt Menschen zu den unterschiedlichsten Zeiten, ihre Heimat zu verlassen und in der Ferne ihr Glück zu suchen.

 

Geschichte erleben am authentischen Standort

Es gibt wohl kaum einen besseren Ort, ihre Geschichte zu erzählen, als Bremerhaven. Die Stadt an der Wesermündung ist geprägt von Migration: Zwischen 1830 und 1974 verließen von hier aus über sieben Millionen Auswanderer ihre Heimat. Das 2005 gegründete Deutsche Auswandererhaus beleuchtet ihre Geschichte anhand originalgetreuer Rekonstruktionen: An einer meterhohen Kaje des Jahres 1888 erleben Besucher den Abschied von Europa, auf drei verschiedenen Überfahrtsschiffen der 1850er-, 1880er- und 1920er-Jahre erkunden sie die Lebensbedingungen an Bord, bei der Einwanderungsstation „Ellis Island“ können sie sich selbst einem Einwanderungstest aus dem Jahr 1907 stellen, und im New Yorker Bahnhof „Grand Central Terminal“ aus dem Jahr 1921 erfahren sie, wie sich die Auswanderer ihren Weg in der Ferne bahnten. Doch damit nicht genug: Seit 2012 lädt das Erlebnismuseum in einem zweiten Teil außerdem dazu ein, die Biografien von Einwanderern nach Deutschland zu entdecken. In einer rekonstruierten Ladenpassage der 1970er-Jahre entdecken Besucher zwischen Kaufhaus, Antiquariat und Frisör, wie Einwanderer Deutschland prägten und weiterhin prägen.

Für sein innovatives Konzept wurde das Deutsche Auswandererhaus 2007 vom Europäischen Museumsforum (EMF) mit dem „European Museum of the Year Award“ als bestes Museum Europas ausgezeichnet. Seit der Eröffnung im Jahr 2005 haben über 2,5 Millionen Menschen das Museum besucht – damit ist es das meistbesuchte Museum im Bundesland Bremen und gehört zu den 3,4 Prozent der besucherstärksten Museen in Deutschland.

„Im Kontakt mit unseren Besuchern merken wir immer wieder, dass die Ausstellung die wenigsten unbeteiligt lässt“, erzählt die Migrationsforscherin Simone Eick. Die originalgetreuen Rekonstruktionen laden dazu ein, sich selbst in die Rolle der Auswanderer hineinzuversetzen - und sich dabei einige persönliche Fragen zu stellen: Wie hätte ich den Abschied von der Heimat erlebt? Hätte ich mich das getraut, die gewohnte Umgebung, Familie und Freunde zurückzulassen? Hätten mich die schwierigen Lebensbedingungen an Bord mancher Schiffe bereits an meinem Entschluss zweifeln lassen? Wäre ich am gigantischen Bahnhof „Grand Central Terminal“ voller Neugierde und Tatendrang aufgebrochen, um mir in den USA eine neue Existenz aufzubauen, oder hätte ich doch eher Angst gehabt vor all den bevorstehenden Veränderungen?


Geschichten entdecken – Geschichte begreifen

Vertieft wird diese persönliche Auseinandersetzung noch durch die Begegnung mit verschiedenen Aus- und Einwandererbiografien, die Besucher auf ihrem Rundgang durch das Museum begleiten. 18 Lebenswege von Auswanderern und 15 Lebenswege von Einwanderern werden derzeit in der Ausstellung gezeigt. Wessen Geschichte man selbst erlebt, das entscheidet sich bereits an der Kasse: Hier erhält jeder Besucher einen „Boarding Pass“ mit zwei Biografien sowie eine RFID-Karte, die Zugang zu Medienstationen mit Informationen zur Lebensgeschichte des „eigenen“ Aus- und Einwanderers liefert. Die Biografien der Auswanderer stammen aus der gesamten Zeitperiode der Bremerhavener Auswanderung von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Dabei unterscheiden sie sich stark hinsichtlich des Alters, sozialen Status und der Gründe für eine Migration: Die Geschichte des Schuhmachergesellen Karl Otto Schulz, der Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA eine eigene Farm kaufte, wird ebenso erzählt wie die von Carl Laemmle, der zu einem der Gründer von Hollywood wurde und während der Zeit des Nationalsozialismus mit über 300 Bürgschaftserklärungen Juden die lebensrettende Ausreise nach Amerika ermöglichte. Im zweiten Teil des Museums werden über 300 Jahre Einwanderungsgeschichte abgedeckt – vom bereits erwähnten Hugenotten Philippé Connor bis zu Khalil Koto, der 2014 mit seiner Familie von Syrien nach Deutschland flüchtete.

Die Beschäftigung mit Einzelbiografien lässt nicht nur abstrakte geschichtliche Entwicklungen lebendig werden, sie setzt auch einen Gegenpol zu Debatten über „Flüchtlingswellen“ oder „Massenmigration“, in denen die Lebensgeschichten einzelner Migrant*innen bewusst ausgeblendet werden. „In unserer museumspädagogischen Arbeit beobachten wir immer wieder, dass Schüler*innen durch ihren Besuch nicht nur zur langen europäischen Aus- und Einwanderungsgeschichte, sondern auch zu aktuellen migrationspolitischen Fragestellungen einen persönlicheren Zugang gewinnen“, so Simone Eick. Im Deutschen Auswandererhaus erfahren Schüler außerdem, dass auch Deutsche in der Vergangenheit oft genug Auswanderer waren, dass ihre Schicksale häufig auf verblüffende Art den Biografien von heutigen Einwanderern nach Deutschland ähneln.


Vom Einzelschicksal zum „Meilenstein“

Eines ist allerdings klar, trotz aller Vorteile eines auf Biografien basierenden Ansatzes: Die individuelle Entscheidung für eine Auswanderung ist immer auch eingebettet in größere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge. Es sind diese großen Entwicklungen, die sich in den Lebenswegen Einzelner niederschlagen – und umgekehrt formen unzählige einzelne Lebenswege oft das Bild eines bestimmten geschichtlichen Zeitraums. Der Ausstellungsraum „Galerie der 7 Millionen“ zeigt das auf besonders anschauliche Weise: Vielen Einzelschubladen, in denen die Lebensgeschichten der Auswanderer mit Zahlen und Daten, Hörtexten und persönlichen Erinnerungsobjekten erzählt werden, stehen die sogenannten „Meilensteine“ gegenüber. Hier erfahren Interessierte mehr über die historischen Hintergründe für eine Auswanderung, von Missernten und Kriegen bis zu religiöser oder politischer Verfolgung.


Lernen mal anders – mit Podcasts und Poetry Slam

Nicht zuletzt bietet außerdem das umfangreiche Veranstaltungsprogramm des Deutschen Auswandererhauses Interessierten die Möglichkeit, zu verschiedenen Aspekten europäischer Migrationsgeschichte mehr zu erfahren – bei wissenschaftlichen Vorträgen, in Sonderausstellungen, thematischen Führungen und Workshops. Die Möglichkeit, sich mit speziellen historischen und gesellschaftlichen Themen besonders intensiv auseinanderzusetzen, nehmen auch Schulklassen häufig wahr: Seit der Museumsgründung haben rund 300.000 Schüler*innen im Klassenverbund die pädagogischen Angebote des Museums genutzt. Dazu zählen Führungen zu unterschiedlichen Schwerpunkten wie etwa dem „American Dream“, Industrialisierung und Migration oder jüdischer Flucht und Vertreibung, aber auch Diversity-pädagogische Workshops, bei denen die Schüler*innen nach einer Kurzführung zu den Themen „Einwanderung und kulturelle Vielfalt in Deutschland“ oder „Flucht und Vertreibung“ einen eigenen Podcast produzieren. Doch was sind eigentlich die persönlichen Gedanken und Auffassungen der Jugendlichen zum großen Thema „Migration“? „Als Museum, das individuelle Lebensgeschichten erzählt, haben wir auch ein Interesse daran, individuelle Erfahrungen und Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen mit Aus- und Einwanderung darzustellen“, erläutert Simone Eick. Und das geschieht auf vielerlei Art und Weise: So veranstaltete das Deutsche Auswandererhaus mit Unterstützung der Bremerhavener Dieckell-Stiftung in den letzten Jahren wiederholt Poetry-Slam-Schreibwerkstätten, in denen Schüler*innen zu Themen wie „Heimat“ oder „Flucht und Migration“ ihre eigenen Texte erarbeiten und sie anschließend der Öffentlichkeit präsentieren. Von März bis August 2019 zeigte das Museum außerdem die Sonderausstellung „Ich packe meinen Koffer“, die in Kooperation mit dem Magazin GEOlino entstand. In einem Wettbewerb waren Kinder und Jugendliche eingeladen, kreativ zu werden und ihr eigenes Reisegepäck für eine Auswanderung zusammenzustellen. Die besten Ergebnisse präsentierte das Deutsche Auswandererhaus mit Erinnerungsobjekten ausgewanderter Kinder aus seiner Sammlung.

Und in der Tat ist es ja gar nicht so unrealistisch, dass einige der teilnehmenden Kinder in Zukunft ganz real ihre Koffer für eine Auswanderung packen, angesichts flexibler und grenzüberschreitender Arbeits- und Lebensverhältnisse in einer globalisierten Welt. Ob ihre Geschichten eines Tages auch im Deutschen Auswandererhaus erzählt werden? In jedem Fall sind sie mit ihren Biografien dann ebenfalls Teil der langen und wechselhaften „Migrationsgeschichte“ Deutschlands.


Informationen zum Auswandererhaus: www.dah-bremerhaven.de