Wer oder was ist „vorbildlich humanistisch“?

Von Lutz Renken

 

Was ist humanistisch? Unter Humanismus wird hier eine Weltanschauung verstanden, also eine Haltung von Menschen, die sich der Menschlichkeit und der Vernunft verpflichtet fühlen und sich nicht an religiösen Vorstellungen orientieren. Antworten auf die Sinnfragen des Lebens finden sie nicht in einer übernatürlichen, jenseitigen Welt, sondern im Hier und Jetzt. Sie wollen ein selbstbestimmtes und verantwortliches Leben führen und fordern dies ein. Humanist*innen verstehen ihre Haltung als eine positive Kraft neben religiösen Anschauungen – und weniger als eine bloße Negation von Gott und Glauben.

Die Ideengeschichte, auf die sich der heutige weltanschauliche Humanismus bezieht, geht auf Ideen der Antike, auf den Renaissance-Humanismus und die Aufklärung zurück. Er hat aber auch Wurzeln im außereuropäischen Bereich, wie beispielsweise in der Lehre von Konfuzius in China, oder der Chavarka in Indien. Hier wird hoffentlich deutlich, dass es keine ultimativen humanistischen Vorbilder gibt, die es mit Jesus oder Mohammed aufnehmen könnten.


Vorbilder

Wenn Humanist*innen an Vorbilder im Sinne der Entwicklung humanistischer Ideen denken, dann fallen ihnen Sokrates oder Epikur ein, aus der Zeit der Aufklärung Immanuel Kant („Sapere aude!“), die schottischen Moralphilosophen Locke, Hobbes und Hume und natürlich Charles Darwin, der die (göttliche) Sonderstellung des Menschen endgültig zu Fall brachte.

Als sich im 19. Jahrhundert viele Vereinigungen, Parteien und Gesellschaften gründeten, kamen auch die ersten modernen Weltanschauungsgemeinschaften auf, wie Freireligiöse Gemeinden, philosophische Gesellschaften und die Freidenker. Auf diese Traditionen und Organisationen geht übrigens der Humanistische Verband Niedersachsen zurück.

Unter den „Freireligiösen“ waren Menschen, die es dank ihrer Vorbildfunktion später sogar auf Briefmarken der Deutschen Bundespost brachten, wie Carl Schurz und Käthe Kollwitz. Schurz war radikaldemokratischer Revolutionär, der zunächst im deutschen Vormärz aktiv war, dann in die USA ging, dort gegen die Sklaverei kämpfte und schließlich Innenminister wurde.

Käthe Kollwitz notierte zu ihrem Plakat „Nie wieder Krieg!“ 1924 in ihr Tagebuch: „Wenn ich mich mitarbeiten weiß in einer internationalen Gemeinschaft gegen den Krieg, hab‘ ich ein warmes, durchströmendes und befriedigendes Gefühl […] Ich bin einverstanden damit, daß meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.”

Auch der britische Mathematiker, Philosoph und Nobelpreisträger Bertrand Russell schaffte es auf eine Briefmarke, eine indische, und zwar zwei Jahre nach seinem Tod, 1972 zu seinem 100. Geburtstag. Als einer der einflussreichsten atheistischen Denker des 20. Jahrhunderts war er bis zum Schluss Mitglied des Beirats der Britischen Humanisten und auch – gemeinsam mit seinem Freund und Humanisten Albert Einstein – in der Friedensbewegung sehr aktiv. Das folgende Zitat aus seiner Autobiografie „Wofür es sich zu leben lohnt“ fasst seine humanistische Haltung sehr gut zusammen:
„Drei einfache, doch übermächtige Leidenschaften haben mein Leben bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein unerträgliches Mitgefühl für die Leiden der Menschheit.“

An diesen Beispielen wird deutlich, dass einige Humanist*innen sich durchaus gesellschaftlich und politisch engagierten, d.h. ihre Haltung auch offensiv vertraten und wirksam werden ließen.

Doch eigentlich wollten wir hier weniger auf bekannte Vorbilder zurückgreifen. Unhinterfragbare Leitfiguren oder gar Heilige kennt der Humanismus ja nicht. Viel interessanter und wichtiger sind die Menschen, die uns im Alltag begegnen, die das Leben annehmen, Fehler machen, diese eingestehen und an ihren Erfahrungen wachsen. Dazu ist kein Studium der Philosophie oder der der humanistischen Ideengeschichte nötig.


Käthe aus Oldenburg

Käthe Nebel beispielsweise ist ein langjähriges Mitglied der Humanisten in Oldenburg und nimmt dort regelmäßig an Gesprächskreisen und anderen Veranstaltungen teil. Ihre inzwischen 88 Jahre Lebenserfahrung bringt sie gerne in die Diskussionen und Gespräche ein. Sie ist wissbegierig, was Ansichten, Haltungen und Empfindungen anderer betrifft, offen gegenüber neuen Ideen, Erfahrungen und Erkenntnissen. Ihr macht die Begegnung mit Menschen Freude.

Sie scheut sich nicht, ihre eigene Meinung kundzutun, zu begründen und der Kritik durch andere auszusetzen. Dazu passt auch, dass ihre meinungsstarken Leserbriefe in Oldenburg legendär sind. Sie setzt sich jedoch nicht nur innerhalb vermeintlich gleichgesinnter Kreise mit anderen Ideen und Haltungen auseinander. Sie sucht den Austausch mit Menschen anderer Kulturen und Religionen, mit denen sie zum Teil freundschaftlich verbunden ist. Sie organisierte kritische Lesekreise, in denen die Bibel, der Koran und Hitlers „Mein Kampf“ gelesen wurde.

Doch so ein „Schnappschuss“ eines Menschen erzählt nur wenig über ihn. Zu einem Vorbild wird ein Mensch gerade dann, wenn man einige Stationen auf seinem Lebensweg betrachtet, mit allen Brüchen und Widersprüchen.

Käthe wird seit ihrem vierten Lebensjahr allein von ihrer Mutter, einer Köchin, in der Mark Brandenburg aufgezogen. Sie erzählt gern, dass sie etwa in diesem Alter einen Gottesbeweis erlebte, der sie eine Zeit sehr prägte. Damals entdeckte sie ein Radieschen in Nachbars Garten, dachte sich nichts dabei, nahm es und wusch es sauber. Als ihre Mutter das bemerkte, nahm sie Käthe zur Seite, und sagte ihr, dass das Diebstahl sei und der sei verboten. Gott sähe das alles und sei nun böse auf sie. In dem Moment blitzte es und donnerte. Die Mutter nutzte die Gunst des Augenblicks und sagte: „Siehst du, Käthe, das ist Gott, der ist nun sehr wütend!“
Als sie aber in der vierten Klasse der Volksschule von der Wissenschaft der Astronomie erfuhr, mit den Sternen und Planeten am Himmel, und von Gewitterblitzen als elektrische Entladungen, da wusste sie, dass das Reden von Gott und den Engelein nicht stimmen könne.

Allerdings nahm sie andere Ideen von ihrer Mutter und aus der Schule umso unkritischer an: Juden und damals so bezeichnete „slawische Untermenschen“ seien den „Ariern“ – der „Rasse“, der sie anzugehören glaubte – unterlegen und weniger wert. Sie glaubte, wie ihre Mutter, dass sie im Osten neuen Lebensraum und wirtschaftlichen Erfolg finden würden. Ihre Mutter nahm sie noch im November 1944 mit nach Osten über die Oder, um dort gutes Geld zu verdienen und eine Zukunft aufzubauen.

Doch es kam anders. Zu Käthes großer Überraschung waren die „slawischen Untermenschen“ siegreich, die Front kam näher und überrollte sie geradezu. Sie wurde unter Todesangst und -gewissheit Zeugin, wie die Männer im Dorf erschossen wurden und die Frauen vergewaltigt und ausgeraubt. Ihr Weltbild geriet ins Wanken.

Nach ihrer Vertreibung im Herbst 1945 in Oldenburg angekommen, las sie in der Nordwestzeitung den Fortsetzungsbericht „Das Lager von Treblinka“. Sie „fiel vom Olymp“ und war vom Glauben an die Naziideologie geheilt. Sie hat gelernt, wie schlecht Menschen sein können. Auch sie selbst.

Als junge Frau lernte und arbeitete sie in Oldenburg und ging dann als Volksschullehrerin ins Umland, nach Ahlhorn, wo sie mit ihrer Mutter wohnte. Sie adoptierte als alleinstehende Frau ein Baby, was sonst niemand haben wollte, weil es von einem „afrikanischen“ Vater stammte. Als es sich am Ende als nicht schwarz herausstellte, wie alle erwartet hatten, hat sie das nicht weiter gekümmert.

Dort sah sie Anfang der 1970er-Jahre die Umwelt von den Abgasen einer Erdgasaufbereitungsanlage beeinträchtigt. Sie gründete einen Verein, bildete sich fort, damit sie die chemischen Prozesse besser verstehen konnte, um bei den Anhörungen gute Sachargumente vorbringen zu können. Sie hat gegen große Widerstände und persönliche Angriffe kämpfen müssen. Am Ende sorgten sie und ihre Vereinskamerad*innen schließlich dafür, dass dieser Betrieb mit einer Entschwefelungsanlage zu einem weltweiten Vorbild wurde, der Ingenieure und Politiker aus Japan in die Oldenburger Provinz reisen ließ.

In den 1980er- und 1990er-Jahren setzte sie sich dann ebenso beherzt in der Antiatomkraftbewegung ein, einschließlich der Blockierung von Bahnschienen und Verhaftungen. Vom Richter nach ihrer Motivation gefragt, erwiderte sie, dass sie sich in der Nazizeit für dumm verkaufen ließ, alles guthieß und mitmachte. Nun sei sie aber aufgewacht und wolle genau hinschauen und dafür sorgen, dass es anders läuft.

In ihrer Tätigkeit als Volksschullehrerin bemerkte sie schon in den 1960er-Jahren, dass einige ihrer Schüler*innen keine angemessene Kleidung oder Schulzeug hatten. Sie organisierte, dass man ihnen etwas schenkte – denn Überfluss an guter, gebrauchter Kleidung und anderen Dingen gab es eben auch. Daraus entwickelte sich dann der „Tag des offenen Kellers“, an dem Käthe die von ihr gesammelten Dinge an alle verschenkte, die sie benötigen konnten.

Als sie nach dem Tod ihrer Mutter, die sie bis zuletzt pflegte und beim Sterben begleitete, als Rentnerin schließlich wieder nach Oldenburg zog, eilte ihr der Ruf als Verschenke-Organisatorin voraus. Sie sammelte auch dort und verschenkte alles aus ihrem Fahrradanhänger heraus – zunächst auf Flohmärkten, später dann als Vereinsgründerin des vermutlich ersten Verschenkmarktes im Rahmen der „Agenda 21“. Wieder einmal hatte sich aus praktischem, beherztem Tun etwas Vorbildliches entwickelt, das die Aufmerksamkeit von Presse und Fernsehen erweckte. Für dieses Engagement wurde ihr dann später, im Jahr 2008, das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Doch zuvor wurde sie Ende der 1990er-Jahre auf ein Fortbildungsangebot der evangelischen Kirche in Oldenburg aufmerksam, welches sich mit der Begleitung von Sterbenden beschäftigte. Da sie ihre Mutter gepflegt und begleitet hatte, wollte sie nun lernen, wie es „richtig geht“. Es war eine gute und lehrreiche Erfahrung. Am Ende wurde auch sie als Absolventin des Kurses gefragt, ob sie sich vorstellen könne, im ambulanten Hospizdienst ehrenamtlich tätig zu sein. Sie tat es gerne und mit Freude. Die Tatsache, dass sie als bekennende Atheistin nicht mit den Menschen beten könne, störte niemanden.

Sieben Jahre später hatte sie dann in einem öffentlichen Vortrag der Humanisten von ihrer Erfahrung berichtet, wie sie ihre Freundin Eva in die Schweiz zu Dignitas nach Zürich begleitete, wo diese dann ihr Leben beendete. Der Vortrag stieß auf ein großes öffentliches Interesse und sorgte aber auch dafür, dass sie nicht weiter ehrenamtlich für den Hospizdienst arbeiten durfte. Für Käthe war die Begleitung ihrer Freundin jedoch kein Widerspruch zu ihrem ehrenamtlichen Einsatz, sondern nur eine konsequente Begleitung eines Menschen, der von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen will.

Heute setzt sie sich vehement für die Abschaffung des Paragrafen 217 ein, der die sogenannte geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellt und damit Hilfe und Beratung leidender Menschen am Lebensende erschwert. Für Käthe Nebel ist dies ein unzumutbarer und grundgesetzwidriger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Sie will selbst entscheiden dürfen, wann sie geht.

Doch noch ist es nicht so weit. Trotz erheblicher Einschränkung ihres Sehvermögens und dem Angewiesen-Sein auf die Hilfe anderer versprüht sie Lebensfreude. Die bewusste Art, wie sie ihr Leben führt und zu schätzen weiß, inspiriert weiter alle, die mit ihr diskutieren, staunen und lachen.