Werden wir bei unserem Namen gerufen, kehrt unser im Vagen herumtreibendes Ich, das unablässig in Aufflug- und Unterwindungsgeschäften unterwegs ist, augenblicks zu uns zurück. Beim Namen gerufen, sind wir in der innersten Substanz berührt, die uns zusammenhält. … Bei Namenszuruf werden wir erkannt und fühlen uns erkannt“1; so hat es einmal Sibylle Lewitscharoff ausgedrückt. Und in Bezug auf die biblischen Namen führt die Wortkünstlerin weiter aus, dass diese immer ahnungsvoll sind: „Niemals war der Name Schall und Rauch, niemals nur ein leicht obenauf sitzendes Häubchen, zufällig und ephemer, immer war zwischen dem Namen und dem, der ihn trägt, eine innige Beziehung gestiftet.“2
Luther als ein Mensch, der sich ganz aus der Bibel verstand, wusste um die Bedeutung des Namens. So war es keine Laune, dass Luther mit Beginn seines öffentlichen Wirkens seinen Geburtsnamen „Luder“ fallen ließ. Der Brief, mit dem er die 95 Thesen gegen den Ablass am 31. Oktober 1517 an Albrecht von Mainz schickte, unterschrieb er erstmals mit „Luther“. Und vom November 1517 bis zum Januar 1519 unterschreibt er Briefe an seine engen Freunde nach humanistischer Manier mit „Eleutherios“ – der Befreite, der Freie, der zugleich Befreier ist. Die gräzisierte Form legte er dann wieder ab. Aber das „th“ aus Eleutherios begleitete ihn von da an. Es erinnerte Luther zeitlebens an sein Befreiungserlebnis, das ihm aus seinem neu gewonnenen Gottesverhältnis erwuchs. In diesem Sinne sehe ich „Freiheit“ als das Zentralthema lutherisch inspirierter Theologie an. Es ist freilich ein Freiheitsverständnis, das nicht nahtlos an einen modernen Autonomiebegriff anknüpft, sondern seine emanzipatorische Kraft gerade daraus bezieht, dass es sich im Gottesverhältnis gegründet weiß.
Bevor ich auf den Entdeckungszusammenhang des lutherischen Freiheitsverständnisses aus dem Rechtfertigungsglauben sowie dessen spätmoderne Transformation weiter eingehe, möchte ich in aller Kürze drei hermeneutische Vorbemerkungen machen, die die folgenden Ausführungen begleiten und für den Umgang mit Luther und seiner Theologie nicht nur im Rahmen des Christlichen Religionsunterrichts (CRU) zu beachten sind. Analoges gilt übrigens auch für den Umgang der anderen Konfessionen mit ihren Traditionsbeständen, was hier aber außer Acht bleiben muss.
Hermeneutische Vorbemerkungen
„Evangelisch“ und „katholisch“ – oder einfach „christlich“?
Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass die Relevanz von lutherischer als lutherischer Theologie in der spätmodernen Gesellschaft sich nicht von selbst versteht. Das Gegenteil ist der Fall. Die letzte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt, dass sich konfessionelle Profile abschleifen und die Unterschiede zwischen „evangelisch“ (nicht „lutherisch“ oder „reformiert“!) und „katholisch“ selbst bei Kirchenmitgliedern verwischen. Es gibt keine signifikanten konfessionellen Unterschiede mehr bei der Frage, was man für wesentlich „christlich“ hält (vgl. Abb. 1). Aus dieser Beobachtung muss nun nicht folgen, wie manchmal zu hören ist, dass uns konfessionelle Profile egal sein können und daher z. B. auch im CRU keine Rolle mehr spielen müssten. Das wäre zu kurz gesprungen. Es stellt sich demgegenüber m.E. die Frage, wie lutherische Einsichten, Haltungen und Praktiken wieder ins Bewusstsein zu heben sind und wie diese für die spätmoderne Gesellschaft – systemtheoretisch gesprochen – anschlussfähig sein können. Anschlussfähigkeit meint dabei nicht, dass nur das relevant ist, was die gesellschaftlichen Tendenzen affirmiert, sondern Anschluss kann ebenso im Modus kritischer Reflektion geschehen.
Modernitätstheoretische Perspektivierung
Sodann ist zu beachten, dass „lutherische Theologie“ nicht identisch ist mit „Luthers Theologie“. Der 500-jährige historische Graben der Auslegungsgeschichte ist beim Umgang mit Luther und seiner Theologie nicht zu überspringen. Wir lesen Luthers Schriften nicht als seine Zeitgenossen, sondern als spätmoderne Menschen, die die Auslegungs- und Forschungsgeschichte zu Luthers Theologie im Rücken haben. Das, was wir an lutherischer Theologie für relevant erachten, ist immer schon durch unsere – in einem umfassenden existenziellen Verhältnis verstandenen – biografischen Bildungsgeschichten hindurchgegangen. Mein Zugriff auf Luthers Theologie ist ein freiheitstheoretischer und damit modernitätsaffiner. Andere Zugriffe, die Luther und seine Theologie mehr dem Mittelalter als der Neuzeit zurechnen, wären aufgrund der Quellenbasis auch begründbar und sind Gegenstand fachwissenschaftlicher Debatten.
Der kontroverstheologische Charakter von Luthers Theologie
Schließlich noch ein Gedanke zu lutherischer Theologie im Rahmen vom CRU. Die Vereinbarung über die Einführung des CRU in Niedersachsen betont in Art. 3, „dass die konfessionellen Differenzierungen des 16. Jahrhunderts und die darauf beruhenden Konfessionskulturen heute für die beteiligten (Erz)Bistümer und evangelischen (Landes)Kirchen keine trennende Bedeutung mehr haben, insbesondere hinsichtlich der gemeinsamen Aufgaben und Arbeit der Kirchen im Verhältnis zum Land.“3 Auch wenn dieser theologischen Einsicht in gegenwartspraktischer Perspektive gelebter Ökumene zuzustimmen ist, so muss für den Umgang mit Luther im CRU hermeneutisch mitbedacht werden, dass Luthers Theologie sich wesentlich kontroverstheologisch formiert hat. Der antithetische Charakter von Luthers Theologie verdichtet sich in den vier Exklusivpartikeln – solus Christus, sola gratia, sola scriptura und sola fide –, die sich explizit gegen zentrale Aspekte der mittelalterlichen Gnadenlehre richten. Dieser herausfordernde Charakter von Luthers Theologie wurde früh erkannt. Der päpstliche Kardinallegat Cajetan, der 1518 Luther in Augsburg verhörte, erkennt die ekklesiologische Sprengkraft von Luthers Thesen, wenn er zu dessen Kritik an der römischen Sakramentenlehre hellsichtig notiert: „Hoc enim est novam ecclesiam construere“ – „Das heißt eine neue Kirche bauen“.4 Es ist kein Zufall, dass es bis heute bei den ökumenischen lehramtlichen Gesprächen vor allem beim Amts- und Kirchenverständnis hakt. Aber es dürfte auch kein Zufall sein, dass solch eine Vereinbarung zum CRU eben unter gegenwartspraktischer Perspektive möglich wird, wenn das Christentum sich in Richtung einer Minderheitenreligion bewegt (vgl. Abb. 2). Manchmal folgt die Lehre der Wirklichkeit. Wie steht es nun aber um die Gegenwartsrelevanz lutherischer Theologie?
Luthers Befreiungserlebnis
Der Nukleus lutherischer Theologie liegt, wie eingangs beschrieben, in Luthers Entdeckung des Rechtfertigungsglaubens. Ein eindrückliches Zeugnis, welche Lebensrelevanz Luther selbst dieser Entdeckung zuschrieb, gibt seine Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften von 1545. Die Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit Gottes keine Gerechtigkeit ist, die Gott vom Menschen – unerfüllbar – einfordert (iustitia activa), sondern eine Gerechtigkeit ist, die dem Menschen von Gott zugesprochen wird (iustitia passiva), erlebte Luther als ein religiöses Befreiungserlebnis: „Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein.“5 Selbst wenn hier mit einer zurückblickenden Selbststilisierung Luthers in Bezug auf dieses Durchbruchserlebnis zu rechnen ist – es ist wohl eher davon auszugehen, dass es sich um einen sukzessiven Erkenntnisprozess handelte –, so gibt es aber keinen Grund, an dem beschriebenen Erlebnisgehalt dieser Erkenntnis zu zweifeln. Davon zeugt das „th“, das er sich in seinen Namen eingeschrieben hat. Dieser Bedeutung der Entdeckung des Rechtfertigungsglaubens hat die lutherische Tradition so Rechnung getragen, dass der Artikel von der Rechtfertigung als der Artikel angesehen wird, mit dem die Kirche stehe und falle (lat.: articulus stantis aut cadentis ecclesiae). Nun hat sich in den letzten 500 Jahren die Welt verändert und die Voraussetzungen, unter denen Luther die Rechtfertigungsbotschaft entdeckte und selbst durchbuchstabierte, sind in der spätmodernen Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres vorauszusetzen. Konkret sind es die Vorstellung vom Weltgericht, das mittelalterliche Bußsakrament und Luthers radikaler Sündenbegriff, die in der aufgeklärten Moderne in die Krise geraten sind. Wenn dem aber so ist, stellt sich die Frage, ob die Rechtfertigungslehre heute überhaupt noch ein relevanter christlicher Topos sein kann. Es mehren sich in der Systematischen Theologie die Stimmen, die die Rechtfertigungslehre der Dogmengeschichte zur Aufbewahrung übergeben wollen.
Aufgabe der Umformung
Ich möchte einen anderen Weg einschlagen. Mit der Unterscheidung von Rechtfertigungslehre und Rechtfertigungsglauben, die auf Albrecht Ritschl zurück geht, möchte ich für eine Umformung des Zentraltopos lutherischer Theologie werben.6 Die Rechtfertigungslehre, wie sie dann im konfessionellen Luthertum ausbuchstabiert worden ist, hat in der Tat ihre Zeit gehabt. Kurz gesagt: Luthers Frage nach dem gnädigen Gott ist nicht mehr die Frage unserer Zeit. Damit ist aber nicht gesagt, dass eine Reformulierung des existenziellen Gehaltes der Rechtfertigungserfahrung – also jenes befreienden Durchbruchserlebens – obsolet geworden ist. Und genau darauf rekurriert der Ansatz beim Rechtfertigungsglauben. Die Frage lautet also: Wie kann der Rechtfertigungsglaube unter spätmodernen Bedingungen reformuliert werden?
Singularisierung als Sehnsucht nach Sinn und Anerkennung
Andreas Reckwitz hat mit seiner Theorie der Singularisierung, die er in Bezug auf die modernen Verlusterfahrungen jüngst weiter ausbuchstabiert hat,7 die spätmodernen Dynamiken beschrieben, auf die hin der Rechtfertigungsglauben m.E. reformuliert werden muss, wenn dieser in der Gegenwart noch Anspruch auf lebenserhellende Relevanz erheben möchte. Die Spätmoderne, so Reckwitz, ist dadurch geprägt, dass die soziale Logik des Besonderen alle Gesellschaftsbereiche prägt. Es reicht demnach nicht mehr aus, zu sein wie alle, sondern es herrscht ein gesellschaftlicher Imperativ der Einmaligkeit und Besonderheit vor. Diese Tendenz lässt sich besonders gut in den Selbstinszenierungen auf den sozialen Netzwerken studieren, geht aber weit darüber hinaus. Es geht wesentlich darum, im Prozess sozialer Wertzuschreibung als einzigartig anerkannt zu werden. Für unsere Fragestellung ist es essenziell zu sehen, dass diese Prozesse der Singularisierung selbst einen religiösen Charakter haben.8
Max Weber hat in seinem berühmten Essay „Wissenschaft als Beruf“ von 1919 pointiert darauf hingewiesen, dass die Rationalisierungsprozesse der Moderne zu einer „Entzauberung der Welt“9 geführt haben. Die Welt verliert so an Tiefe und Sinn. Die entzauberte Moderne hinterlässt daher eine von Reckwitz so genannte Sinn- und Motivationslücke, in die hinein die spätmodernen Singularisierungsprozesse ihre Dynamik entfalten. Es gehe daher in den Singularisierungsprozessen um nicht mehr und nicht weniger als um das „Wozu der Lebensformen“10. Das Streben nach Einmaligkeit und Besonderheit folgt der Sehnsucht, als Person gesehen, wertgeschätzt und anerkannt zu werden. In diesem Sinne kann die Sehnsucht nach Singularisierung in einer religionstheoretischen Perspektive als eine Sehnsucht nach einem letzten Sinn und nach unbedingter Anerkennung verstanden werden.
Es gibt nun allerdings ein Dilemma: Genau dieses Ziel, wofür die Singularisierungsprozesse in Anspruch genommen werden – Stiftung eines letzten Sinns und unbedingter Anerkennung –, können diese Prozesse nun nicht nur nicht garantieren, sondern sie können es grundsätzlich nicht erreichen. Sie können es nicht garantieren, weil die Aufmerksamkeitsökonomie nun einmal davon lebt, dass nur einige wenige im Rampenlicht stehen und nicht alle. Sie können es aber auch grundsätzlich nicht erreichen, weil auch jene, die aktuell in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit durch ein Publikum prämiert werden, immer in Gefahr stehen, dass ihnen diese Anerkennung von demselben Publikum wieder entzogen wird. Anerkennung kann sich in der spätmodernen Gesellschaft der Singularisierung immer nur dynamisch stabilisieren. Daher kann sich in der Logik der Singularitäten kein letzter Sinn und keine unbedingte Anerkennung einstellen – alles steht bleibend unter dem relativierenden Vorbehalt des Performanzerfolgs. Es ist mithin immer nur eine Anerkennung und ein Sinn unter Vorbehalt. Religiös gesprochen: Die Logik der Singularitäten kennt keine Erlösung.
Rechtfertigung als Ideologiekritik
Genau in diese Dilemmasituation hinein kann die lutherische Einsicht der Rechtfertigung allein aus Glauben neu sprachfähig gemacht werden. Die religiöse Befreiungserfahrung Luthers müsste unter spätmodernen Bedingungen so reformuliert werden, dass deutlich wird, dass die Anerkennung einer Person und der Sinn ihres Lebens nicht in den Werken der gesellschaftlichen Singularisierungsperformance zu suchen ist. Weder Erfolg noch Misserfolg entscheiden über den letzten Wert einer Person. Unbedingte Anerkennung seiner Person und letzten Sinn für sein Leben bekommt der Mensch – lutherisch betrachtet – nur vermittels seines Gottesverhältnisses im Modus des Zuspruchs (extra nos). Wirklich einmalig ist der Mensch nur im Gegenüber zu Gott. Gott ist der finale Singularisierer des Lebens, der unbedingte Anerkennung und letzten Sinn schenkt allein aus Gnade, ohne Werke. In diesem Sinne wäre dann auch die Christologie zu reformulieren: Christus als das Urbild, der aus dem Geist göttlicher Singularisierung lebt und damit frei wird gegenüber allen weltlichen Ansprüchen und Ideologien. Damit wäre die ideologiekritische Dimension des Glaubens in der Christologie selbst verortet.
Aus solch einem Gottesverhältnis in einer Haltung als freier Christenmensch zu leben, hat weitreichende Folgen: Der Mensch wird frei, sich zu den gesellschaftlichen Imperativen der Leistungslogik und der Selbstoptimierung zu verhalten. Ich schreibe bewusst „sich verhalten“. Denn es geht nicht darum, dass der Mensch nicht auch Lust und Freude daran haben kann, Leistung zu erbringen oder sich in verschiedenen Feldern zu verbessern. Sondern es geht darum, dass er sich zu diesen gesellschaftlichen Ansprüchen in dem Sinne frei verhalten kann, dass er lernt zu unterscheiden, wo diese Ansprüche lebensdienlich sind, wo sie aber auch selbst- und lebenszerstörerisch sein können und in einen Strudel der Selbstrechtfertigung führen. Leben aus der Rechtfertigung bedeutet, in eine souveräne Haltung gegenüber Fremdansprüchen und verinnerlichten Selbstansprüchen zu kommen. Oder kürzer: Aus dem Geist der Rechtfertigung zu leben, bedeutet Freiheit – „th“.
Anmerkungen
- Lewitscharoff, Vom Guten, 7.
- A.a.O., 8f.
- Vgl. https://kurzlinks.de/7w52 (13.05.2025).
- Zitiert nach Schwarz, Luther, 73.
- Vgl. Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, 507.
- Vgl. zum Folgenden ausführlich Cordemann, Lutherische Theologie in einer Gesellschaft der Singularitäten, 272-305.
- Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, sowie Ders., Verlust.
- Vgl. hierzu ausführlich Cordemann, Die Religion der Singularitäten, 77-89.
- Weber, Wissenschaft als Beruf, 488.
- Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 86.
Literatur
- Cordemann, Claas: Lutherische Theologie in einer Gesellschaft der Singularitäten. Überlegungen zur Transformation des Lutherischen in der spätmodernen Gesellschaft, in: Lutherjahrbuch 86/2019, 272-305
- Cordemann, Claas: Die Religion der Singularitäten, in: Michael Kühnlein (Hg.): Singularitäten? Im interdisziplinären Gespräch mit Andreas Reckwitz, Baden-Baden 2025, 77-89
- Lewitscharoff, Sibylle: Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Züricher Poetikvorlesungen, Berlin 2012
- Luther, Martin: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 2, Christusglaube und Rechtfertigung, hg. v. Johannes Schilling, Leipzig 2006
- Schwarz, Reinhard: Luther, 4. Aufl. Göttingen, 2014
- Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017
- Reckwitz, Andreas: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin 2024
- Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, in: ders., Schriften 1984 – 1922, Stuttgart 2002