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Die globale Dimension einer Bildung für nachhaltige Entwicklung

von Annette Scheunpflug

Dass „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ eine globale Perspektive haben muss, ist angesichts der weltumspannenden Perspektive des Klimawandels eine gemeinsam geteilte Überzeugung. Der Klimawandel kann nur global gemeinsam bewältigt werden, und die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) , die die Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2015 als „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ verabschiedet hat, sind Ziele für alle Staaten.

In diesem Beitrag soll zunächst beschrieben werden, was es bedeutet, Bildung für nachhaltige Entwicklung global zu denken, und was dabei die zentrale Lernherausforderung darstellt. Anschließend werden didaktische Anregungen gegeben und diese in den Horizont evangelischer Bildungserfahrungen gestellt.

Bildung für nachhaltige Entwicklung global denken

Die Herausforderungen der Nachhaltigkeit sind in ihrem Charakter her global bzw. weltgesellschaftlich zu verstehen: Das Plastik aus Fleecepullovern findet sich in Tieren im Polarmeer; das Ozonloch verursacht Sonnenbrände bei Menschen auf der Südhalbkugel, die nie FCKW in ihrem Leben verwendeten; eine elektrische Zahnbürste besteht aus Komponenten aus der ganzen Welt; der Kaffeepreis, den Verbraucher*innen im globalen Norden bezahlen, bestimmt die Lebensqualität vieler Kleinbauern im Globalen Süden; und der Krieg in der Ukraine wird Hungersnöte in armen Staaten auf dem ganzen Planeten verstärken. Das Auseinanderfallen von Betroffenheits- und Regelungsräumen  bringt spezifische Herausforderungen für das Zusammenleben in der Einen Welt mit sich. Der Soziologe Niklas Luhmann hat schon in den 1970er-Jahren beschrieben, dass heutige Gesellschaft von ihrem Charakter her als Weltgesellschaft zu verstehen ist. Seine zentrale These lautet, dass jede Gesellschaft heute Weltgesellschaft ist, weil sie immer auch Teil eines globalen Kontextes ist. Damit wird soziale Realität komplexer. Weltgesellschaft wird nicht verstanden als die Summe von Menschen oder als räumliche bzw. zeitliche Einheit, sondern als „Gesamthorizont alles sinnhaften Erlebens“  bzw. in systemtheoretischer Terminologie als „die Gesamtheit dessen (…), was für ein jedes System System-und-Umwelt ist“ . Entsprechend gibt es für Gesellschaften heute kein „Außen“ mehr, von wo aus die Welt als ein Ganzes beobachtet werden könne. Alles ist damit gleichzeitig global – und damit kann auch Bildung für nachhaltige Entwicklung nur mit einer globalen Dimension gedacht werden.

Die Lernherausforderung „abstrakte Solidarität“

Diese globale Dimension stellt für Bildung für nachhaltige Entwicklung eine besondere Lernherausforderung dar. Sie bedeutet nämlich, dass diese globale Dimension in allen diesbezüglichen Lernangeboten im Blick zu behalten ist und eine besondere Lernherausforderung darstellt. Die Lernherausforderung liegt darin, sich die globale Vernetzung vorstellen zu können und sich damit als Thema auseinanderzusetzen. Es bedeutet, gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Zusammenhänge in einem globalen Horizont vor der Perspektive globaler Verantwortung wahrzunehmen, zu beurteilen und in Handlung zu überführen.  Das heißt auch, sich die Bedürfnisse anderer Menschen vorzustellen und globale Solidarität zu üben, ohne dass man sich real begegnet oder miteinander vertraut wäre.

Den Umgang mit einer in dieser Form abstrakten Weltgesellschaft zu lernen, ist für das steinzeitliche Nahbereichswesen Mensch eine Herausforderung. Der Umgang mit diesen Problemen fällt aus zwei Gründen schwer, die beide mit der Entwicklungsgeschichte des Menschen zu tun haben. Menschen sind erstens in ihrer spontanen Problemlösefähigkeit auf Erfahrungen im Nahbereich spezialisiert – und diese ist für die Erfahrungen einer globalisierten Weltgesellschaft nicht besonders gut geeignet. Die Möglichkeiten, mit denen Menschen ihre Umwelt wahrnehmen und in ihr reagieren, haben sich menschheitsgeschichtlich in Anpassung an die unmittelbare Umwelt und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten entwickelt. Damit werden vornehmlich die Probleme gelöst, die sinnlich erfahrbar sind: Die eigene, sinnlich erfahrbare Erholung in einem Urlaubsland wie beispielsweise Spanien ist wichtiger als die u.a. durch Flugverkehr verursachten Klimaprobleme oder der Kaffeepreis wichtiger als die Verschuldung ganzer Kontinente. Menschen ist zweitens die Unterscheidung zwischen Ingroup und Outgroup angeboren, sie neigen zum Fremdeln und zur Xenophobie. Damit sind die, die man nicht kennt, erst einmal suspekt.

Gleichzeitig haben Menschen aber auch ein hohes abstraktes Reflexionsvermögen, das es möglich macht, diese abstrakte Sozialität zu lernen. Durch Sprache und abstraktes Denken ist es Menschen möglich, die spontane Problemlösefähigkeit im Nahbereich zu kompensieren. Globales Lernen – als eine Sozialkompetenz jenseits konkreter Begegnungen – wird vor diesem Hintergrund eine der Schlüsselfähigkeiten des 21. Jahrhunderts.

Empirische Evidenz:
Lernen von Weltgesellschaft über soziale Abstraktion

Untersuchungen zur empirischen Evidenz weltgesellschaftlichen Lernens  zeigen, dass die Bildungsangebote mit ihren didaktischen Zugängen auch das Verständnis von Globalität prägen.

  • Addition von Nahbereichen: Wer die globale Dimension so erfährt wie den eigenen Nahbereich, der versteht Weltgesellschaft letztlich als eine Addition von Nahbereichen. Anders gesagt: Wer Welt kennenlernt über Essensgewohnheiten hier und dort bzw. Alltagsleben hier und dort, der versteht Welt über verknüpfte Inseln des Gekannten. Dann spielt Authentizität der Erfahrung eine wichtige Rolle für das Weltverstehen. Gleichzeitig entsteht in dieser Konstellation mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Überordnungs- oder Unterordnungsmechanismus. Paternalismus oder Neokolonialität werden potenziell erlernt. Zudem erscheint globale Solidarität nur für die Bereiche von Relevanz, die bekannt sind, von denen man schon mal gehört hat oder aus denen anrührende Geschichten bekannt sind. Globale Kompetenz im Kontext von Nachhaltigkeit entwickelt sich unter diesen Bedingungen kaum.
  • Weltgesellschaft als Gemeinschaft: Häufig wird Weltgesellschaft in gemeinsamer Perspektive zu Gleichgesinnten erfahren – als Fußballer*innen mit anderen Fußballer*innen, beim Spielen von Musik und Theater oder im Austausch in kirchlichen Gemeinden und Kommunen. Wer Welt so kennenlernt, versteht Welt als Gemeinschaft. Über die Identifikation mit gemeinsamen Zielen entsteht potenziell Solidarität. Globale Kompetenz im Kontext von Nachhaltigkeit entwickelt sich unter diesen Bedingungen für diejenigen, die im weiteren Sinne dieser Gemeinschaft angehören.
  • Weltgesellschaft als abstrakter sozialer Raum: Vor allem über Partizipationserfahrungen an gesellschaftlicher Gestaltung entsteht eine Perspektive auf Welt, die sich als abstrakter sozialer Raum beschreiben lässt. Wichtig sind hierfür angeleitete Selbstreflexion und immer wieder Welterfahrungen, in denen die Strukturmomente von Entwicklungen thematisiert werden. Wer Welt so kennenlernt, nimmt potenziell Menschen als Gleichberechtigte wahr und lernt die Welt in ihren strukturellen Gegebenheiten zu beschreiben. Hier entsteht potenziell wahrscheinlich ein umfassendes weltgesellschaftliches Verständnis.


Didaktische Anregungen

Wie lässt sich diese Erkenntnis für Bildungsangebote fruchtbar machen? Im Folgenden sollen einige didaktische Erkenntnisse formuliert werden.

Anstatt vom Nahem zum Fernen der Blick auf globale Verwobenheit

Die beschriebenen Befunde deuten darauf hin, dass das über Jahrhunderte bewährte didaktische Prinzip der räumlichen und sozialen Nähe zur Ferne mit Blick auf die globale Dimension nachhaltiger Entwicklung seine Funktionalität verloren haben dürfte. Die Addition von Nahbereichen eröffnet nicht den Blick auf das, was globales Zusammenleben und globale Gerechtigkeit ausmachen. Vielmehr ist das Verständnis dessen von Bedeutung, was das menschliche Zusammenleben zusammenhält: die Sicht auf den Menschen als freies menschliches Wesen, seine Würde und seine grundlegenden Bürgerrechte, egal wo er sich auf diesem Planeten befindet, sowie die daraus abgeleiteten Regeln des Zusammenlebens und der Aushandlung von Differenzen. Damit geht es nicht darum, die Dinge erst im Vertrauten und dann im Fremden wahrzunehmen, sondern von vornherein die globale Verwobenheit auszuloten und zu entdecken.

Selbstreflexion lernen und eigene Normalitätskonstruktionen reflektieren

Die empirischen Befunde lassen den Schluss zu: Menschen mit einer weltgesellschaftlichen Orientierung haben Lernerfahrungen mit angeleiteter Selbstreflexion sammeln können. Nicht das Lernen alleine durch Erfahrung, durch Wissen oder Kenntnisse, sondern deren Verbindung mit der eigenen Biografie und dem eigenen Ich sind von zentraler Bedeutung. Aus der Verbindung von Erfahrung, Wissen und Biografie wird die globale Dimension der Bildung für Nachhaltigkeit ohne Paternalismus und auf Augenhöhe erfahrbar. Der biografische Nexus ist für die Selbstreflexion der eigenen Normalitätskonstruktionen und -annahmen offensichtlich von hoher Bedeutung.

Teilhabe an sozialer Komplexität – Beziehungs- und Selbstzuordnungskompetenz

Komplexe Gesellschaften zeichnen sich – im Gegensatz zu Gemeinschaften – dadurch aus, dass man sich ihnen zuordnen und durch Arbeit, Engagement und Partizipation den eigenen Platz in ihnen finden muss. Dies ist für die globale Gesellschaft besonders wichtig. Partizipation gelingt immer weniger dadurch, dass man in Angebote hineingestellt wird, sondern dadurch, dass man sich ihnen zuordnet, d.h. selbst aktiv wird, indem man auf andere Menschen zugeht und sich beteiligt. Von dieser Selbstzuordnung hängt der gesellschaftliche Wandel ab. Vor diesem Hintergrund ist es eine wichtige Aufgabe von Bildungsfachkräften, die Bildung für nachhaltige Entwicklung in ihrer globalen Dimension fördern zu wollen, diese Selbstzuordnung zu ermöglichen und Freiräume dafür anzubieten. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch niedrigschwellige Angebote, die kurzfristiges Engagement ermöglichen.

In einer globalisierten Welt wird es immer wichtiger zu lernen, sich auf die Welt und ihre Bewohner*innen zu beziehen. Es geht darum zu lernen, sich mit anderen in Beziehung zu setzen und einen „schwingenden Draht zur Welt“  zu entwickeln, von anderen angerührt zu werden, Selbstwirksamkeit, Interesse und Motivation zu spüren. Diese Wahrnehmung ist nicht durch Mitleid oder die Sensationslust einer Katastrophenpädagogik geprägt, sondern getragen vom Interesse am Anderen und der Wahrnehmung des eigenen Ichs mit der Frage, was diese Berührung in einem selbst ausmacht. Hartmut Rosa nennt diese Form der Bildung auch „Weltbeziehungsbildung“ , durch die eine „Öffnung und Herstellung von Resonanzachsen“  möglich wird. Globales Lernen ermöglicht als Lernen durch Engagement Partizipationserfahrungen und reflektiert diese so, dass sie zur Selbstaneignungskompetenz der Lernenden sowie zur Öffnung von Beziehungen und damit zur Resonanz beitragen. Der faire Handel, entwicklungspolitische Kampagnen oder Freiwilligendienste sind Beispiele für entsprechende Lernorte.

Überwältigungsverbot bei gleichzeitiger Positionalität

Die Mitgestaltung von Nachhaltigkeit bedingt eine deutliche Positionalität im entschiedenen Eintreten für die damit verbundenen Ziele. Im Beutelsbacher Konsens ist seit den 1970er-Jahren für das schulische Lernen jedoch darauf hingewiesen, dass es nicht angemessen ist, Lernende „mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils’ zu hindern“ . Dies ist auch für die Nachhaltigkeit und deren globale Dimension von Bedeutung: Die Mündigkeit des lernenden Subjekts und dessen selbständige Urteilsbildung, um im Kontext gesellschaftlich kontroverser Themen eine eigene Stellung zu beziehen, muss im Blick bleiben, will man Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht als Marketing oder Werbung für Klimafragen missverstehen. Gleichzeitig müssen jedoch der demokratische Pluralismus, das Überleben des Planeten und die Einhaltung der Menschenrechte unhintergehbare normative Grundpositionen darstellen. Bildung für nachhaltige Entwicklung muss sich also daran messen lassen, wie sie einerseits unmissverständlich Positionalität gegen den Klimawandel und für Demokratie sowie globale soziale Gerechtigkeit einnimmt und gleichzeitig entlang der Bedürfnisse der Lernenden Möglichkeitsräume für die Entwicklung individueller Urteilsfähigkeit eröffnet.

Literatur

  • Bundeszentrale für politische Bildung: Beutelsbacher Konsens (2011); www.bpb.de/die-bpb/ 51310/beutelsbacher-konsens
  • Lang-Wojtasik, Gregor (Hg.): Globales Lernen für nachhaltige Entwicklung, Stuttgart 2022
  • Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt am Main 1997
  • Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, [Resonance. A Sociology of the Relationship to the World], Berlin 2016
  • Scheunpflug, Annette: Bildung faces globalization: theoretical reflections, empirical findings, and conceptual considerations for didactics, erscheint in: Krogh, Ellen, Qvortrup, Arne & Graf, Stefan Ting Graf (Ed.): Bildung, Knowledge, and Global Challenges in Education. Didaktik and Curriculum in the Anthropocene Era, London 2022
  • Scheunpflug, Annette: Global Learning – Educational Research in an Emerging Field, in: European Educational Research Journal, EERJ 20 (2021), 1, 3-13, DOI 10.1177/1474904120951743
  • Scheunpflug, Annette: Lehren angesichts der Entwicklung zur Weltgesellschaft. In: Sander, Wolfgang /Scheunpflug, Annette (Hg.): Politische Bildung in der Weltgesellschaft – Herausforderungen, Positionen, Kontroversen. Perspektiven Politischer Bildung Bd. 2, Bonn 2011, 204-215
  • Singer-Brodowski, Mandy: Über die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen hin zu einer Weltbeziehungsbildung. [On the transformation of self- and world-relations towards world-relations education.], in: VENRO (Ed.): Globales Lernen. Wie transformativ ist es? Impulse, Reflexionen, Beispiele. Diskussionspapier, Bonn 2018, 27-33
  • Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt am Main 1998