Gelesen: Anne und Nikolaus Schneider: Vom Leben und Sterben

Von Kirsten Rabe

Anne und Nikolaus Schneider im Gespräch mit Wolfgang Thielmann

 

Das Ehepaar Anne und Nikolaus Schneider – sie Religions- und Mathematiklehrerin, er Pfarrer, ehemaliger Präses der Kirche im Rheinland und von 2010 bis 2014 Ratsvorsitzender der EKD – sind seit vielen Jahren privat wie öffentlich im Dialog über „Sterbehilfe, Tod und Ewigkeit“. 2005 verloren die beiden ihre Tochter Meike, die mit 22 Jahren ihren Kampf gegen die Leukämie verlor. 2014 erkrankte Anne Schneider an Brustkrebs. Nikolaus Schneider legte daraufhin sein Amt als Ratsvorsitzender der EKD nieder. Heute gilt Anne Schneider als geheilt. 

Im März 2019 erschien das Buch „Vom Leben und Sterben. Ein Ehepaar diskutiert über Sterbehilfe, Tod und Ewigkeit. Im Gespräch mit Wolfgang Thielmann“. Im Zentrum steht die Frage nach assistiertem Suizid – die Anne und Nikolaus Schneider unterschiedlich und begründet mit ihrem jeweiligen Gottes- und Menschenbild beantworten.

Als dieser umfassende und sehr lesenswerte theologische Dialog zwischen Wolfgang Thielmann, Autor der Wochenzeitung DIE ZEIT, Publizist und Pastor der Ev. Kirche im Rheinland, erschien, galt noch das 2015 vom Bundestag beschlossene Verbot der Beihilfe zum Suizid. Im Februar 2020, nach Erscheinen des Buches, wurde dieses Gesetz vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.

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Wolfgang Thielmann: Frau Schneider, Sie haben […] angemerkt, dass Ihr biblisch orientiertes Menschenbild auch Ihre liberale theologische Haltung zu einem assistierten Suizid prägt. Nun haben Sie mehr als vier Jahre gegen Ihren aggressiven Krebs gekämpft. Sie, Herr Schneider, haben Ihrer Frau beigestanden. Hat sich Ihre Einstellung in den Jahren geändert?

Anne Schneider: Die vergangenen vier Jahre haben mich bestätigt und bestärkt in dem, was meine liberale Einstellung zur Verantwortung des Menschen für den eigenen Todeszeitpunkt betrifft – sowohl im Blick auf meine theologische als auch auf die politische Argumentation. 

Ich stand nach meiner Krebsdiagnose im Juni 2014 vor Entscheidungen, die ich zuvor allenfalls theoretisch erwogen hatte: Sollte ich mich in meinem vorgerückten Alter der massiven Behandlung durch Chemotherapie, Operation und Bestrahlung stellen, um gegen den Krebs zu kämpfen? Als mir der Arzt und eine Pharmazeutin beschrieben, welche Art von Chemotherapie sie für das kommende halbe Jahr für mich planten, waren mir die zwei Jahre mit unserer Tochter Meike wieder ganz präsent, die ich mit ihr auf der Krebsstation verbracht habe und in denen ich das Elend von Chemo-Patientinnen gesehen hatte. Viele Mitpatientinnen von Meike sind dann auch wie Meike während der qualvollen Zeit der Chemotherapie gestorben. Zudem hatte ich gelesen, dass Statistiken bei Brustkrebsbehandlungen keine wesentliche Lebensverlängerung versprechen, wenn man sich auf eine Chemotherapie einlässt. Und ich war mir sicher: Lebensqualität bedeutet mir mehr als Lebensquantität. Als Arzt und Pharmazeutin mir die Therapie erklärten, habe ich damals spontan gedacht: Ich mute mir dieses Elend nicht zu. Und habe geantwortet: Ich weiß nicht, ob ich das will. 

Mein Arzt fragte ganz erschrocken: „Wollen Sie denn jetzt sterben?“ Als ich ihm dann meine Ängste erklärte, antwortete er mir: „Warten Sie mal ab. In den letzten zehn Jahren hat sich viel getan an guter Begleitmedizin. Sie werde nicht so leiden wie Ihre Tochter vor zehn Jahren.“

Das hat sich dann Gott sei Dank bewahrheitet. Doch es gab Tage und Zeiten während der Chemotherapie, an denen ich dachte: Wenn der Rest meines Lebens so aussieht, möchte ich es verkürzen. Ich war gar nicht mehr bereit und willens zur Kommunikation, wollte nur in mich verkrümmt auf dem Sofa liegen und in Ruhe gelassen werden. Und ich konnte es auch nicht genießen ja, es war mir geradezu unangenehm, wenn liebevolle Menschen mich berührten oder streichelten. […] Die Erfahrungen der vergangenen vier Jahre haben meine Zuversicht und meinen Willen gestärkt, nicht schon bei einer Diagnose an Selbsttötung zu denken. […] Mir wurde im Durchleben meiner Krebsbehandlung und auch jetzt im Rückblick deutlich: Die anderthalb Jahre Behandlung waren eine sinnvolle Lebens-Zeit, auch wenn ich reduziert gelebt habe. 

Wolfgang Thielmann: Und wenn sich die Zeit hinzieht?

Anne Schneider: Ich weiß nicht, wie lange ich so ein Leben in Behandlung ertragen möchte und könnte. Ich würde es wohl auf mich zukommen lassen. Aber hätte eben gern die Möglichkeit zu sagen: Jetzt ist genug.

Nikolaus Schneider: Auch meine zurückhaltende Einstellung im Blick auf das Recht des Menschen zur Selbsttötung und auf die gesetzliche Freigabe eines von Ärzten assistierten Suizids hat sich in den vergangenen Jahren bestätigt. Mir liegt aus theologischer Überzeugung daran, dass unser Menschenbild nicht undeutlich wird: Demut und Selbstvertrauen zugleich sollen den Menschen prägen. Dieses Bild beschreibt den Menschen nach meiner Überzeugung in angemessener Weise. Und zur menschlichen Demut vor Gott, dem Schöpfer und Herrn alles Lebens, gehört für mich die grundsätzliche Einschränkung menschlicher Autonomie. Daraus leite ich ab, dass der Todeszeitpunkt des Menschen im Machtbereich Gottes liegen soll. In diesen Machtbereich will ich nicht durch einen Suizid gewaltsam reinpfuschen. Außerdem befürchte ich schädliche Konsequenzen, wenn das Bild vom Menschen unklarer wird: etwa für das Selbstverständnis von Menschen oder für das Zusammenleben und nicht zuletzt für das Normengefüge unserer Gesellschaft. 

Dabei war und ist mir bewusst, dass zu der Eindeutigkeit auf der Normebene, die ich hier vertrete, auf der Ebene des gelebten Lebens noch einmal andere Dimensionen hinzutreten können. In unseren theoretischen Urteilen und Entscheidungen können wir nicht wirklich vorwegnehmen, wie es sein wird, wenn wir eine tödliche Krankheit haben, wie wir in der Situation einer schmerzhaften und unser Leben reduzierenden Behandlung empfinden und was dann für uns lebenswert ist und was nicht. […] Im Blick auf das Leben-Wollen und das Sterben-Wollen von Menschen möchte ich in diesem Zusammenhang auch auf Erfahrungen meiner Sterbebegleitung in meiner Zeit als Gemeindepfarrer hinweisen. Wenn sich das Sterben länger hinzog, sagten mir manche Menschen: „Herr Pastor, ich möchte sterben, ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr, ich bin irgendwie übrig geblieben.“ Zwei Tage später waren sie voller Lebensfreude und genossen das Leben und erzählten von Plänen für die nächste Zeit. Ein Mensch ist nun einmal ein Ensemble an Einstellungen und Möglichkeiten. Und unser Erleben und unser Wollen sind unbeständig.

Das bestärkt mich in meiner Grundposition: Seien wir vorsichtig mit Festlegungen, wann und wie lange das Leben lebenswert ist. Für uns selbst, aber vor allem für andere. Ich möchte dazu ermutigen: Lasst uns mit Vertrauen und Zuversicht in schwierige Krankheits- und Altersphasen hineingehen. Vielleicht erschließen sich uns ganz neue Sinnerfahrungen für unser Leben.

Anne Schneider: Diese Ermutigung finde ich richtig und wichtig. Aber gerade deshalb plädiere ich für die gesetzliche Freiheit im Blick auf einen assistierten Suizid. Es kann nämlich im konkreten Erleben das eine wie das andere passieren. Es mag Menschen geben, die ganz unerwartet auch in einem von Krankheiten, Altersbeschwerden und schmerzhaften medizinischen Behandlungen reduzierten Leben Lebenssinn und Lebensfreude empfinden. Aber es mag Menschen geben, die – wie Nikolaus – jetzt die Überzeugung haben, sie würden und wollen auf Gottes Entscheidung im Blick auf ihren Todeszeitpunkt warten. Und die dann, in einer unheilbaren Krankheit, in der auch ihre Schmerzen nicht ausreichend gelindert werden können, nach Suizid-Assistenz verlangen. Dann finde ich es für unsere liberale Demokratie eigentlich unzumutbar, wenn der Gesetzgeber Wege zur assistierten Selbsttötung versperrt. Oder wenn die Ärzte, die helfen wollen, Angst haben müssen, ihre Zulassung zu verlieren. 

Im weiteren Verlauf des Dialogs wird die Problematik eines Bilanzsuizids angesprochen:

Nikolaus Schneider: Für mich bleibt ein Bilanzsuizid problematisch. Wenn Menschen nicht mehr leben wollen, kann man sie nicht zum Leben zwingen. Zwang zum Leben ist ebenfalls problematisch! Aber der Bilanzsuizid geht auf etwas sehr Archaisches zurück, nämlich das Gefühl, dass meine Lebensbilanz ins Negative kippt, wenn ich nichts Produktives mehr in meiner Gesellschaft beitragen kann und ich dadurch zur Belastung für die Gemeinschaft und für die Menschen werde, zu denen ich gehöre. […]

Wolfgang Thielmann: Wie erhält man in der Gesellschaft ein lebensbejahendes Klima, das dem Gedanken entgegentritt, jemand sei überflüssig, weil er die ökonomische Bilanz belastet? Der frühere Sozialminister Norbert Blüm hat das Problem einmal mit dem Satz karikiert: Alle Probleme der Krankenversicherung wären gelöst, wenn wir den Menschen das letzte Lebensjahr streichen.

Nikolaus Schneider: Das ist genau der Punkt. Wir müssen uns davor hüten, alten und auf Hilfe angewiesenen Menschen das Gefühl zu geben, dass es ihre moralische Pflicht sei, im Interesse ihrer Angehörigen und im Interesse unserer Gesellschaft jetzt den Freitod zu wählen.

Anne Schneider: Um dieser Gefahr zu wehren, ist wohl das vierte Gebot entstanden: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest auf Erden.“ Aber ich glaube, darum geht es nicht bei dieser Frage in der Schweiz. Es geht darum, zu akzeptieren: Es gibt so etwas wie eine innere Gewissheit bei Menschen, dass es Zeit ist zu sterben. Wenn Menschen diese Gewissheit haben, sollten wir ihnen nicht theologische oder gesetzliche Steine in den Weg legen.


Auszüge aus: Anne und Nikolaus Schneider, Vom Leben und Sterben. Ein Ehepaar diskutiert über Sterbehilfe, Tod und Ewigkeit. Im Gespräch mit Wolfgang Thielmann. 
© 2019 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 48-54. 67f.

Nikolaus Schneider und Anne Schneider 
Vom Leben und Sterben
Ein Ehepaar diskutiert über Sterbehilfe, Tod und Ewigkeit.
Herausgegeben von Wolfgang Thielmann 
Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2019
ISBN 978-3-7615-6533-9
153 Seiten, 14,99 €.