pelikan

Durch die evangelische Brille gesehen – Oder: Was ist eigentlich das Evangelische am evangelischen Religionsunterricht?

von Michaela Veit-Engelmann


Seit fast zwei Jahren wird niedersachsenweit über die Einführung eines christlichen Religionsunterrichts, kurz CRU, diskutiert. Im Mai 2021 waren die beiden großen christlichen Kirchen mit dem Vorhaben an die Öffentlichkeit gegangen, zukünftig gemeinsam Verantwortung für einen Religionsunterricht zu übernehmen, der weiterhin konfessionell gebunden sein und also „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ (Art 7.3 GG) erteilt werden soll. Die Zustimmung der leitenden Geistlichen beider Konfessionen im Dezember 2022 hat den Weg dafür endgültig freigemacht.

Viele Menschen sind der Aufforderung gefolgt, sich am Beratungsprozess zum CRU zu beteiligen, darunter Lehrkräfte aller Schulformen, Religionspädagog*innen aus Universitäten oder Kirche sowie andere Multiplikator*innen.1 Die Debatten haben gezeigt: Vieles, was in Bezug auf den konfessionellen Religionsunterricht eigentlich geklärt schien, ist es offensichtlich nicht. Plötzlich standen vermeintliche Selbstverständlichkeiten wieder auf dem Prüfstand, und scheinbar sicher geglaubte Antworten auf doch längst überflüssig gewordene Fragen mussten revidiert werden: Was ist eigentlich das Ziel von Religionsunterricht, welche Inhalte sind zu vermitteln, welche Bedeutung hat die Person der Lehrkraft und welche Rolle spielen die nichtchristlichen Schüler*innen in diesem Unterricht? Und schließlich die Frage, was eigentlich das Evangelische am evangelischen Religionsunterricht ist – und damit also das, was es unbedingt zu bewahren gilt.


„In Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ – was bedeutet das?

Der Religionsunterricht ist das einzige Schulfach, das im Grundgesetz ausdrücklich erwähnt wird. Die Festlegung, dass dieser Unterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ (Art 7.3 GG) zu erteilen ist, nimmt eine Formulierung auf, die sich bereits in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 149 WRV) findet. 1987 hat das Bundesverfassungsgericht dazu geurteilt: Grundgesetzkonform ist ein Religionsunterricht, der „in konfessioneller Positivität und Gebundenheit“ erteilt wird und der „Glaubenssätze […] als bestehende Wahrheiten“ vermittelt2 – ein Gedanke, der zu diesem Zeitpunkt religionspädagogisch allerdings bereits überholt war.3

Entscheidendes Kriterium für den grundgesetzkonformen (evangelischen) Religionsunterricht ist seine Nicht-Neutralität – oder positiv gewendet: sein Bezug auf eine (lebendige) religiöse Tradition und damit die Anbindung an die Lehren der evangelischen Kirche. Dies bildet sich formal in der Zugehörigkeit der Religionslehrkraft zu dieser Kirche ab. Von dieser erhält sie deshalb die Zusage der kirchlichen Rückenstärkung in Form einer Vokation beziehungsweise bei Kolleg*innen aus einer Freikirche in Form einer sogenannten widerruflichen Unterrichtsbestätigung. Die evangelische Lehrkraft trägt dafür Sorge, dass die Inhalte des Unterrichts im Horizont dieser konkreten Tradition vermittelt werden. Durchaus treffend bringt dies das Bild der „evangelischen Brille“4 zum Ausdruck, mit der eine Lehrkraft auf das Unterrichtsgeschehen blickt. Das Evangelische ist also nicht – oder nicht in erster Linie – die Inhalte selbst, sondern der besondere Blick auf diese Inhalte5 und die Schüler*innen.6


Was sieht man durch eine „evangelische Brille“? – Die vier reformatorischen Exklusivpartikel als Horizont des evangelischen Religionsunterrichts

Eine prägnante Zusammenfassung der reformatorischen Grundeinsichten bilden die vier sogenannten Exklusivpartikel: sola scriptura (allein durch die Schrift), sola gratia (allein durch die Gnade), sola fide (allein aus Glauben) und solus Christus (allein durch Christus). Dieser Text wagt den Versuch, diese vier Schlagworte für den gegenwärtigen evangelischen Religionsunterricht fruchtbar zu machen und an ihnen das Eigentliche seiner konfessionellen Bindung aufzuzeigen.7 Dabei werden diese Begriffe einer vergangenen Epoche für das 21. Jahrhundert neu kontextualisiert und also durchaus ein wenig gegen den Strich gebürstet; dies geschieht in aller evangelischer Freiheit zugleich theologisch verantwortet und rückgebunden an Zeugnisse aus Schrift und Tradition.

Sola scriptura – Anleitung zu religiöser Mündigkeit und zum Ökumenisch-Sein

Aus evangelischer Sicht ist die Bibel alleinige Grundlage des Glaubens. Den Reformatoren war es deshalb wichtig, dass jede*r Christ*in fähig ist, selbst die Bibel zu lesen und zu einem eigenen Urteil in Glaubensfragen zu kommen – es ging um nicht weniger als um die Ausbildung einer eigenen evangeliumsgemäßen Hermeneutik. Dies greift der gegenwärtige evangelische Religionsunterricht insofern auf, als dass er die Schüler*innen zu religiöser Mündigkeit befähigen und sie darin unterstützen möchte, sich in Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition begründet positionieren zu können.8

Die Heilige Schrift aus beiden Testamenten ist ein Glaubenszeugnis, das in sich viele verschiedene Stimmen vereint. Dies gilt auch für das Neue Testament in sich. Dieses Ursprungsdokument des Christentums erinnert daran, dass sich die eine Wahrheit Jesu Christi in unterschiedlichen menschlichen Stimmen äußert. Die Reformation weiß außerdem darum, dass die eine Kirche Jesu Christi stets Glaubensgegenstand bleibt und deshalb nicht in menschlichen Strukturen abgebildet werden kann.9 Indem der evangelische Glaube dies bejaht, bekennt er sich zugleich dazu, seinem Wesen nach ökumenisch zu sein. Dies führt im evangelischen Religionsunterricht gleichsam folgelogisch zu einer ökumenischen Öffnung hin auf Pluralität und Vielfalt.

Sola gratia – Orientierung am Maß des Menschlichen

Kein Mensch kann sich Gottes Gnade verdienen, sondern jede*r ist als „Sünder und Gerechtfertigter zugleich“ (simul iustus et peccator) bleibend auf das Geschenk der Gerechtigkeit Gottes angewiesen. Die Reformation nennt dies Rechtfertigungslehre und bezeichnet diese als den „Glaubensgrundsatz, mit dem die Kirche steht und fällt“ (articulus stantis et cadentis ecclesiae). Im evangelischen Religionsunterricht rücken deshalb die Schüler*innen als Menschen in den Blick, denen Gottes Gnade unabhängig von jeglicher Leistung gilt und die deshalb nicht festzulegen sind auf das, was sie tun oder können. Die protestantische Tradition spricht von der Trennung von Person und Werk und die EKD-Bildungsdenkschrift von 2003 hat dies unter dem Titel „Maße des Menschlichen“ zu einem Programm gemacht, das im Religionsunterricht und im Kontext von Schule insgesamt gilt.10

Sola fide – Offen für alle Schüler*innen

Die reformatorische Tradition weiß, dass Glaube ein unverfügbares Geschenk ist (vgl. Joh 3,8); ob und wie er geweckt wird, bleibt deshalb menschlichem Willen und Wissen entzogen. Evangelischer Religionsunterricht ist deshalb programmatisch offen für alle Schüler*innen, egal ob sie einer Glaubensgemeinschaft angehören. Es ist ein zutiefst evangelischer Gedanke, nicht nur für die Freiheit im Glauben einzustehen, sondern eine solche Freiheit des Glaubens allen Menschen zu eröffnen.11  Der evangelische Religionsunterricht leistet dazu einen unverzichtbaren Beitrag, indem er einübt, wie man innerhalb dieser Freiheit Orientierung gewinnt.

Solus Christus – Eine Erinnerung daran, dass Wahrheitsansprüche stets relativ sind

Die christlichen Kirchen bekennen die Einzigkeit des Heilsmittlers Jesus Christus (vgl. 1Tim 2,5). Doch können sie dies nur tun, indem sie um die Relativität dieser Aussage wissen: Ein solcher Wahrheitsanspruch kann in seiner Absolutheit immer nur als Teil eines individuellen Bekenntnisses zum Ausdruck gebracht werden. Deshalb erinnert dieser Exklusivpartikel daran, dass es theologisch geboten ist, verschiedene Wahrheitsansprüche nebeneinander stehen zu lassen. Weil der evangelische Religionsunterricht dies weiß, leistet er einen Beitrag zur Dialogfähigkeit der Schüler*innen, indem er dabei hilft, einen reflektierten Umgang mit (religiöser) Pluralität zu finden.12


Ein persönliches Credo zum Schluss: „Wir sind nicht Herren über euren Glauben, sondern Gehilfen eurer Freude“ (2Kor 1,24)

Die Beziehung zwischen dem Apostel Paulus und der korinthischen Gemeinde war, höflich ausgedrückt, schwierig. Und dennoch fällt im 2. Korintherbrief ein Satz, der auch Motto evangelischen Religionsunterrichts schlechthin sein könnte: „Wir sind nicht Herren über euren Glauben, sondern Gehilfen eurer Freude!“ (2Kor 1,24) Denn: Eine evangelische Religionslehrkraft vermittelt nicht, was vermeintlich „richtig“ ist. Sie ist also nicht „Herrin“ über den Glauben der Schüler*innen, sondern unterstützt sie dabei herauszufinden, was sie selbst in aller religiösen Freiheit glauben, was in ihrem Leben trägt und was ihnen also, um es mit den Worten des Neuen Testaments zu sagen, zur Freude verhilft.

Wer Evangelische Religion unterrichtet, tut das, indem er oder sie sich als Lehrkraft mit dem eigenen Glauben, eigenen Zweifeln und den persönlichen (An-)Fragen an Theologie und Kirche in diesem Unterricht zeigt. Wer als Christin oder Christ für eine Hoffnung einsteht, die über diese Welt hinausreicht, hält gleichsam stellvertretend für alle den Himmel offen. Evangelischer Religionsunterricht wird damit zu einem Raum der Verheißung, in dem die Schüler*innen ausprobieren können, wie es wäre, wenn eine solche Realität auch für sie gelten würde.

Wenn eine Lehrkraft in theologischen Fragen Position bezieht und ihr eigenes Ich in den Unterricht einbringt, ermöglicht das den Schüler*innen für sich zu klären, welche dieser Äußerungen auch ihre eigenen sein könnten. Es ist Ziel evangelischen Religionsunterrichts insgesamt, Schüler*innen zur Ausbildung einer religiösen Ich-Identität oder reflektierten Positionalität zu verhelfen. Und vielleicht ist es besonders typisch evangelisch, dass diese wiederum nicht unbedingt evangelisch sein muss.

Anmerkungen

  1. Zum Positionspapier der Schulreferent*innen zum CRU, dem Rechtsgutachten, der sogenannten Roadmap für den weiteren Fahrplan sowie zur Darstellung aller Stimmen des Beratungsprozesses vgl. www.religionsunterricht-in-niedersachsen.de/christlicherRU (30.12.22).
  2. Das erste Zitat stammt von Gerhard Anschütz (1867–1948), der einen der bedeutendsten Kommentare zur Weimarer Reichsverfassung geschrieben hat, und wird im BGV-Urteil wieder aufgegriffen. Vgl. zum Urteil insgesamt BVerfGE Bd. 74 (1987), 244-256.
  3. Man denke nur an die 1994 erschienene EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“, die von einem Religionsunterricht ausgeht, an dem auch nichtchristliche Schüler*innen teilnehmen und der die beiden Substantive des Denkschrifttitels als dessen Horizont ausweist.
  4. Vgl. Krause/ Schweitzer, „Wo evangelisch drin ist, muss Freiheit rauskommen“, 118.
  5. Vgl. dazu programmatisch den Titel des o.g. Aufsatzes, a.a.O., 107-143.
  6. Vgl. Etzelmüller, Was ist evangelische Haltung?, 166-179.
  7. Wenn im Folgenden zentrale Theologumena der protestantischen Tradition entfaltet werden, soll damit nicht ausgesagt werden, dass diese nicht auch in der katholischen Theologie eine Rolle spielen können; man denke u.a. nur an die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre aus dem Jahr 1999. Würde man jedoch das „Evangelische“ in diesem Artikel ausschließlich auf all das reduzieren, was „nicht katholisch“ wäre, würde dies einem problematischen Konfessionalismus Vorschub leisten, der keiner der beiden Konfessionen gerecht werden würde.
  8. Vgl. dazu zugleich grundsätzlich und konkret: EKD, Freiheit digital, passim.
  9. Vgl. dazu: EKD, Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit, 100f, sowie grundsätzlich: EKD, Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive.
  10. So in: EKD, Maße des Menschlichen.
  11. Vgl. EKD, Identität und Verständigung, 62.
  12. Vgl. EKD-Texte 131, Religiöse Bildung in der migrationssensiblen Schule, 19 und passim.

Literatur

  • EKD (Hg.): Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive, Ein Grundlagentext des Rates der EKD, Gütersloh 2015
  • EKD (Hg.): Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels, Eine Denkschrift des Rates der EKD, Leipzig 2021
  • EKD (Hg.): Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, Eine Denkschrift der evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994
  • EKD (Hg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2003
  • EKD (Hg.): Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit. Aufgaben und Chancen. Ein Grundlagentext der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend, Leipzig 2020; 100f
  • EKD (Hg.): Religiöse Bildung in der migrationssensiblen Schule. Herausforderungen und Ermutigungen der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend, Hannover 2018
  • Etzelmüller, Gregor: Was ist evangelische Haltung?, in: Evangelische Theologie 78 (2018) 3, 166-179
  • Krause, Christina/Schweitzer, Friedrich: „Wo evangelisch drin ist, muss Freiheit rauskommen.“ Eine Delphi-Studie zur Konfessionalität im BRU, in: Matthias Gronover u.a. (Hg.), Offene Konfessionalität. Diskurse mit Expertinnen und Experten zum Profil des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen. Glaube – Wertebildung – Interreligiosität, Münster 2021, 107-143