pelikan

„Aus zwei mach eins“ oder inhaltliche Transformation?

von Günter Nagel und Kirsten Rabe

 

Die Frage nach der Gestalt von Schulreligion

Die Einführung des gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterrichts (RU) kommt ein Vierteljahrhundert zu spät. Das ist den Initiator*innen nicht vorzuwerfen – ganz im Gegenteil. Ihnen ist zu danken, dass sie diejenigen Menschen, die sich unter schwierigen Bedingungen bemühen, zentrale Motive des Christentums zu plausibilisieren, zumindest von den organisatorischen und juristischen Kautelen befreien, die diesen Bemühungen zuwiderlaufen.

Die viel wichtigere Frage lautet nun allerdings: Was soll eigentlich Inhalt des zukünftigen RU sein? Soll so weitergemacht werden wie bisher? Oder wird zur Kenntnis genommen, dass nicht nur eine organisatorische Form von RU, sondern auch eine didaktische Struktur der Weiterentwicklung bedarf? Gegenwärtig arbeiten wir noch immer mit einer adaptierten Version universitärer Traktate (Gott, Jesus Christus, Kirche etc.) als Grundlage für die Kommunikation mit agnostischen Schüler*innen. Das kann nicht gutgehen.

Notwendig ist eine curriculare Transformation, die sich verabschiedet von der Vorstellung, die Schüler*innen seien überwiegend Christ*innen, würden dem Christentum nahestehen und christliche Inhalte lernen können wie Vokabeln.

Innovative Ansätze zu einer solchen Transformation hat es im vorletzten Jahrzehnt durchaus schon gegeben. So hatte etwa das evangelische Comenius Institut 2006 im Zuge der Formulierung von Kompetenzstandards den kirchlich-christlichen Religionsbegriff ersetzt durch einen „gesellschaftlich-pädagogischen“ und zugleich – das war übrigens eine Grundidee der Kompetenzorientierung – den Gedanken des Nutzens, also des praktischen Bildungsbenefits, herausgestellt. Die Planungskategorie der „Anforderungssituation“ war eine Frucht dieses Denkansatzes. Leider passte diese neue Planungskategorie nicht zu den etablierten binnenchristlichen Strukturen des Religionsunterrichts. Die Anforderungssituationen wirkten deshalb häufig gekünstelt und hölzern; sie bildeten oftmals nicht lebensnahe Situationen ab, sondern phantasierte Kontexte.

An der Zeit ist deshalb ein didaktischer Perspektivenwechsel der Lehrplaner*innen. Die Blickrichtung kann nicht mehr von den christlichen Strukturen und Inhalten auf das Individuum und die gesellschaftlichen Kontexte zielen, um irgendwie die Lebensanbindung „hinzubekommen“. Der Korrelationsprozess hat in umgekehrter Richtung zu laufen. Bedeutsame Entwicklungen der im weitesten Sinne als Kulturzusammenhang verstandenen Gegenwart müssen aufgenommen und in den Horizont christlicher Denkansätze und Lebenspraxis gestellt werden. Es gilt also einen Unterricht zu denken, der die fachuniversitäre Systematik zurückstellt zugunsten einer Fachsystematik, welche vorrangig die „Zeichen der Zeit“ deutet. Dabei wird nicht alles, was bislang in den Lehrplänen verzeichnet ist, herausgenommen werden müssen, wohl aber werden die Curricula eine neue Zentrierung erfahren müssen. Versuche, in diese Richtung zu gehen, sind übrigens nicht neu.

Ein Beispiel: Ökologie und Umweltschutz galten bis in die späten 1980er Jahre hinein nicht als „richtiges RU-Thema“. Erst als es Theologie und Religionspädagogik gelang, die damit verbundenen Anliegen als Schöpfungsspiritualität zu reformulieren, erfolgte auf breiter Basis die Integration in die schulische Praxis. Heute fehlt das Thema nicht nur in keinem Lehrplan mehr, sondern es gilt vielen Lehrkräften und auch den Kirchen selbst als zentrales Anliegen des Christentums. Liegt darin vielleicht ein Muster? Kirche und Christentum sind zu Lernenden geworden; sie lernen von der Kultur, ihre eigenen vergessenen Traditionen neu zu entdecken und mit Relevanz auszustatten.

Und weiter: Der Loccumer Pelikan kuratiert seit Jahren spannende und lebensnahe Themen, die in den Curricula nicht abgebildet sind, aber gleichwohl theologisch eingeordnet, religionspädagogisch legitimiert und didaktisch-methodisch aufbereitet werden. Im Unterricht stehen diese Themen nicht selten hintenan – zunächst gilt es die Pflichtthemen abzuhandeln. Schade eigentlich! Kann es sein, dass die Curricula in ihrer jetzigen Gestalt unsere Lehrkräfte ausbremsen?

Um es einmal auf eine simplifizierende Formel zu bringen: In den zu erstellenden Lehrplan gehören viele der sogenannten „Exkursions-, Projekt- und Präsentationsthemen“ hinein, da in ihnen der praktische Nutzen von religionsfachlicher, existenzerhellender Kulturhermeneutik sichtbar wird. Diese „Randthemen“ gilt es für den Klassenraumunterricht aufzubereiten. Ein Beispiel: Wieso lernen junge Menschen aus Netflixserien mehr über das Wirken des Bösen als im Religionsunterricht? War das nicht einmal ein zentrales Thema des Christentums?
Man wird gespannt sein, was die beiden Kirchen in der ersten Phase der Curriculum-Entwicklung als Essentials des Christlichen fixieren werden. Es sind erste ermutigende Signale gesendet worden, von vornherein didaktisch denken zu wollen und nicht „papierdogmatisch“. Protestantische und katholische Differenzen sind im öffentlichen Schulwesen in der Tat nur dann von Interesse, wenn sie sich kulturell manifestieren, allgemeinbildend und von Relevanz sind.

Fazit: Ein Religionsunterricht der Zukunft muss raus aus der Komfortzone der „bewährten Strukturen“. Nur so wird er sich als Alternativfach zu Werte und Normen behaupten können.