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Der niedersächsische Weg zum CRU als Auftakt zu didaktischem Weiterdenken

von Silke Leonhard und Michael Balceris

 

Zur Entstehung

Im Umfeld der Entscheidungen der Kirchen, mit dem Land Niedersachsen zur Einführung eines neuen Religionsunterrichts in Verhandlung zu gehen, haben wir uns gegen Ende des letzten Jahres im Rahmen eines Thinktanks mit ersten Überlegungen zu religionsdidaktischem Denken angesichts des Aufbruchs zum CRU1 befasst. Wo kann, wie soll der schulische Religionsunterricht nun weitergehen? Im gemeinsamen Nachdenken einer Arbeitsgruppe kam ein Weg zum Tragen, der die Grundierungen des didaktischen Dreiecks (Schüler*innen, Lehrkräfte und Lerngegenstand bzw. -inhalte) vor Augen hat, die Kontextualität der gegenwärtigen Großwetterlage der Lehr-Lern-Situationen zum elementaren Ausgangspunkt nimmt und auf der Ziellinie eines Weges fünf Leitgedanken plankenartig benennt, an denen entlang ein Weg für Religionsunterricht weitergebaut werden kann.

Fünf Leitgedanken

1.     Anfangen, ansprechen: Resonanzraum aufbauen

Ansatzpunkte für religiöse Bildung, Lernen und Lehren im Sinne einer religiösen Weltbeziehungsbildung2 sind vielseitig. Gegenwärtig geht es darum, die Ausgangslage – in vielen Fällen ist der Religionsunterricht der Ort für Erstbegegnung mit Religion – als Chance zu begreifen und so zu gestalten, dass in verschiedenen Lehr- und Lernbewegungen konzentrierte Wahrnehmung, Deutung und Auseinandersetzung mit Religion in ökumenischer und zugleich differenzsensibler Weise aufgebaut werden kann.

In phänomenologischer Hinsicht geht es um ein Weltverhältnis: das Leben an sich und Hineingestellt-Sein in die Welt, Begegnungen mit ihr zwischen Vertrautheit und Fremdheit in Raum, Zeit, Leiblichkeit und Interaktion; diesem kommt man vor allem durch Fragen, Suchen und bewusstes Lernen nach. Nicht immer ist dieses Weltverhältnis ungebrochen und stark; es geht mit Entfremdungserfahrungen einher. Hierfür sind verschiedene Anknüpfungspunkte wie Lebensbezug, aber initiativ auch die Fremdheit gegenüber Teilen der Welt als Zugangsmöglichkeiten möglich. Unter dem Aspekt der Erstbegegnung sind „frische“ Wahrnehmungen des Weltverhältnisses ein Grund dafür, in religiöser oder auch nicht-religiöser Hinsicht spezifische Beziehungserfahrungen zwischen Menschen und Bildungsstoffen bzw. -gegenständen als Ausschnitte der Welt aufzubauen. Dies ist für eine religiöse Weltbeziehung, die mit Martin Buber als Ich-Du-Beziehung begreifbar wird, in mehrerlei Hinsicht wichtig.

Implizit wie explizit setzen auf Subjektwerdung ausgerichtete religiöse Lehr-Lernprozesse somit auch bei folgenden Grundfragen an, in denen sich grundlegende Lebenserfahrungen, -verhältnisse und -optionen spiegeln: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin gehe ich? Was kommt auf mich zu? Was ist der Sinn, und wo finde ich einen solchen? Was darf ich hoffen? Damit ist ein Fragehorizont aufgetan, der Raum für Begegnung mit Religion im konkreten Bezugsrahmen verfasster Religionen gibt – auch vor dem Hintergrund der Teilnahme nicht-religiöser Schüler*innen und Weltanschauungen – in dem aber auch der binnenkirchliche Bereich erkundet werden kann. Somit ergeben sich weitere Suchbewegungen und Kontakte, welche die religiösen Ausdehnungen des Lebens konkreter markieren: Warum gibt es in meinem Leben Krankheit, Tod, Leiden, Schmerz? Was kommt nach meinem Tod? Was ist menschliche Freiheit, habe ich einen freien Willen? Worauf hoffe ich als Menschen? Was ist mein Glück? Was ist meine Rolle im Universum? Wann ist mein Leben gut? Mit einem weiten Religionsverständnis, wie es Paul Tillich durch Lebensnähe und Existenzbezug des Unbedingten aufnimmt, werden Berührungsflächen für die eigene Lebensgestaltung geschaffen. Bei allem geht es um Kontaktaufnahmen und daher darum, auch gegenständlich mit der Welt und ihren Dingen in unterschiedlichen Resonanzachsen in Berührung zu kommen und dabei die Tiefe der Weltbeziehung aufzubauen. Am Grund der Welt ist bei all diesen Fragen die von Hartmut Rosa so bezeichnete vertikale Resonanzachse zu Religion: eine Antwortbeziehung, auf deren Basis Ansprüche und Fragen bearbeitet werden können, was identitätsfördernd und zugleich auf Religion in Dingen, Personen und Gehalten bezogen ist.3

Resonanzorientierte, performativ-leibliche didaktische Zugänge knüpfen an dieses Interesse an, um Ausschnitte der Welt individuell anverwandeln und zuzueignen.4 Dies geschieht in mehrkanaligen Dimensionen von Religionsunterricht. Daraus folgt, dass Fragen in Begegnungsformen und kommunikativen Prozessen beantwortet und dass Antwortversuche und -angebote gemacht werden können. Da Religion gegenwärtig mit einer „Fremdsprache“ vergleichbar ist, die als vertraute Muttersprache eher selten gesprochen wird und „mühsam“ erlernt werden muss5, ähnelt der Religionsunterricht auch in gewisser Hinsicht einem Fremdsprachenunterricht, in dem es zu einem systematischen (Erst-)Kontakt kommt. Diese Weise des Antwortens ist u.E. eine wichtige, subjektorientierte Richtung der Resonanzfindung. Der Beziehungsaufbau zur Welt geschieht auch in materialer Weise durch die Begegnung mit Lehr- und Werkstücken, Kernthemen, -szenen, und -anliegen. Das ist für einen nachhaltigen Bezug zu und Umgang mit der Welt unerlässlich und bietet auch für differenz- und konfessionssensible Wege buchstäblich Kontaktflächen.

2.    Konzentriert, intensiv: Inhalte elementar und exemplarisch auswählen

Ein resonanzorientiertes Konzept schärft durchweg neu die Frage, was wesentlich und fundamental ist, was wichtig ist für die Glaubenden, für ein Leben in christlicher Perspektive und seine Gemeinschaft als Kirche-Sein in den Bezügen der Gegenwart. Hinsichtlich der grundlegenden religiösen Beziehungen der vertikalen Resonanzachse werden verschiedene Modi der Antwortbeziehungen wichtig unter der Frage, wie ein Leben mit einer Bindung an einen Urgrund in dieser Welt möglich ist.
Woran wird Religion greifbar? Es braucht u.E. eine Theologie, die das tastende, intuitive, spürende Denken erlaubt, die den kultischen und kulturellen Umgang mit unverfügbarem Leben in der Nähe Gottes zur Sprache bringt.

Nicht nur die Relevanz und Lebensbedeutsamkeit von Religion, sondern auch die in der Öffentlichkeit gewachsene Fraglichkeit von Religionsunterricht ist eine mitzudenkende Tür für Resonanzräume religiösen Lernens. Deswegen kann man auch funktional überlegen: Welche Fragen des Lebens, und buchstäblich: welche Lern-Gegenstände erscheinen vor diesem Horizont unverzichtbar, im Laufe der Schulzeit anverwandelt zu werden?

In diesem Fall ist damit zu erörtern: Was könnte das „gemein Christliche“ sein, an dem sich Ökumene darstellen, zeigen, lernen lässt? Spannend wird es hier, weil man an unterschiedlichen Punkten ansetzen kann. In jedem Fall meint das „Gemein“(-same) mehr als eine Synopse von evangelischen und katholischen Dogmen, vielmehr gemeinsame christliche Glaubensinhalte über (alle) konfessionellen Kulturen hinweg, wozu mindestens noch die von Orthodoxen und Freikirchen gehören.
Mögliche Inhalte könnten – wobei es nicht um kanonisches Wissen geht – dann sein:6

  • Bekenntnis zum dreieinigen Gott,
  • Vaterunser sowie weitere Gebete,
  • Heilige Schrift – von Gott geoffenbartes Wort,
  • von Christus begründete Sakramente (v.a. Taufe und Abendmahl / Eucharistie),
  • Feier des Kirchenjahres (nicht: Feiern des Kirchenjahres),
  • Christliche Sozialethik mit Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe sowie den Zehn Geboten.

Eine weitere Suchrichtung könnte, daraus oder daran anknüpfend, die Suche nach dem Elementaren, Grundlegenden sein, was „existenziell geprägt [ist] und in das Herz des Glaubens (trifft)“7. Elementare Theologie ist fachwissenschaftlich begründet, erfahrungsbezogen, subjektbezogen, wahrheitsorientiert und mitvollziehbar. Didaktisch spielt eine große Rolle, dass Wege „dichten Denkens“ mit Martin Wagenschein in den Dimensionen des Genetischen, Exemplarischen und Sokratischen und auf mehrkanaligen Wegen des Lehrens und Lernens im Religionsunterricht zu orientieren sind.8

3.     Begegnungen, Fragen, Perspektiven, Dialoge, Anverwandlung: Lernarrangements gestalten

Ausgehend von einer Grundannahme, dass es im Religionsunterricht darum geht, (sich) Fragen zu stellen und nach (eigenen) Antworten zu suchen, können Schüler*innen und Lehrer*innen als „gemeinsam Fragende, Suchende und Antwortende“ angesehen werden. Insbesondere im CRU werden sich aufgrund der unterschiedlichen (konfessionellen) Perspektiven sowohl Lehrkräfte als auch Schüler*innen gemeinsam auf diesen Prozess einlassen (müssen!).

Wie können nun Lernarrangements gestaltet werden, um diesen Prozess zu unterstützen? Zur Beantwortung bietet sich u.E. für diese Suchrichtung eine enge Verknüpfung von Kindertheologie (Bucher) und Jugendtheologie, dem didaktischen Prinzip des Dialogs sowie dem sprachsensiblen Religionsunterricht (Altmeyer) an.

Lehrer*innen und Schüler*innen sind beim Theologisieren „gleichberechtigte Dialogpartner auf Augenhöhe, die gemeinsam nach theologischen Bedeutungen und gültigen Antworten für heute suchen“.9 In diesem dialogischen Such- und Reflexionsprozess werden durch kontinuierliches An- und Befragen bestimmte (konfessionelle) Perspektiven und Positionen in den Blick genommen. Die Positionierungsfähigkeit10 der Lehrkräfte ist dabei in besonderem Maße gefordert, da Schüler*innen gerade bei ihnen nach „Klarheit und Gewissheit“11 suchen. Religionspädagogisch stellt sich daher die Frage, wie Perspektiven und Positionen von einer Lehrperson angemessen (re-)präsentiert werden können – insbesondere, wenn diese nicht der eigenen Konfession entsprechen.12

Antworten von Lehrpersonen können sich grundsätzlich zwischen den beiden Polen „persönliche Ansichten / Meinungen ohne fachwissenschaftliche Theologie“ und „systematisch-theologische bzw. exegetische Argumente ohne eigene Position“13 bewegen. Folglich müssen Religionslehrkräfte einerseits über eine reflektierte Theologie verfügen, andererseits ihre Positionalität transparent machen und diese selbst „dosieren“. Das bedeutet gleichzeitig aber auch, sich zu öffnen und den eigenen Schatz zu zeigen, wodurch man jedoch verletzbar wird. Den Schüler*innen wird durch dieses Spektrum an Verhaltensoptionen die Möglichkeit gegeben, sich an den Ansichten der Religionslehrer*innen zu reiben, „abzuarbeiten“, ihre eigenen Ansichten davon abzugrenzen, zu ergänzen oder weiterzuentwickeln.14

Mit Perspektiven und Positionen anderer Konfessionen sollen Lehrkräfte „differenzsensibel“ umgehen und ihnen „sachkundig Raum“ geben.15 Differenzsensibilität als Kompetenz der Unterscheidung (Bernhard Dressler), der Achtung des Anderen in Begegnung und Dialog ist zugleich als Konfessionssensibilität zu verstehen: In einer Haltung der Wertschätzung wird die andere Konfession als Geschenk und als Herausforderung angenommen, der mit Neugier und Respekt16 begegnet wird. Differenzen zwischen den Konfessionen werden dann in der Haltung des Beschenkt-Werdens dahingehend befragt, inwiefern sie auf ein gemeinsames christliches Moment verweisen – nebenbei bekommen Schüler*innen (und Lehrer*innen!) somit auch ein besseres Verständnis für die eigene und die andere Konfession.

Der aktuelle Diskurs zur Positionalität von Religionslehrer*innen17 sowie die Arbeiten zum sprachsensiblen Religionsunterricht18 lassen sich unseres Erachtens zu einem Modell verbinden, mit dessen Hilfe Eigenschaften und Ausprägungen unterschiedlicher Repräsentationsmodi von Sachverhalten durch Religionslehrkräfte beschrieben werden können (vgl. Abb. 1).

Die (Re-)Präsentation eines Sachverhalts kann sich einerseits über die Pole „Lebens- / Glaubensbiografie“ (subjektive religiöse Innenperspektive; persönliches Glaubensbekenntnis mit christlicher Identität) und „fachwissenschaftliche Theologie“ (objektive theologische Außenperspektive; kein persönlicher Bezug) erstrecken. Andererseits wird sie über die Pole „intra-konfessionell“ (Perspektive der eigenen kirchlich-institutionellen Konfession; Teilnehmer*inperspektive) und „extra-konfessionell“ (Perspektive der anderen kirchlich-institutionellen Konfession; Beobachter*inperspektive) aufgespannt.

Perspektiven und Positionen werden von der Lehrperson dabei in einem dialogischen Prozess und in einer differenzsensiblen Sprache (diskursorientiert, hermeneutisch, performativ oder kommunikationsorientiert) (re-)präsentiert, mit dem Ziel, den Schüler*innen Angebote und Hilfe im Glauben, Leben und Lernen zu geben.19

Beispielsweise könnte eine katholische Lehrperson den Lerngegenstand „Sakramente“ folgendermaßen sprachlich (re-)präsentieren:
Aufgrund ihrer Konfession ist eine katholische Perspektive auf Sakramente ihrer Lehrerrolle – ob gewollt oder nicht – inhärent, sodass sie grundsätzlich aus einer Teilnehmendenperspektive spricht (intra-konfessionell). Entspricht diese intra-konfessionelle Perspektive nicht ihrem eigenen persönlichen Bekenntnis bzw. gelebten Glauben, kann die katholische Sicht auf Sakramente überwiegend aus einer Außenperspektive in einer sachkundlich-fachlichen und distanzierten Sprache dargestellt werden. Durch einen dynamischen Wechsel zur eigenen „Lebens- / Glaubensbiografie“ kann die Lehrperson auch aus „evangelischer Perspektive“ (als Beobachter*in) über Sakramente sprechen (extra-konfessionell), die dem eigenen persönlichen Bekenntnis und der eigenen Lebens- und Glaubensbiografie näher ist (z.B. Ablehnung der Priesterweihe oder Eheschließung als Sakrament).

Mit einer wertschätzenden Haltung im Sinne des „Beschenkt-Werdens“ werden hier dann Schätze der anderen Konfession didaktisch geborgen und durch einen konfessionssensiblen Such- und Reflexionsprozess gemeinsame Momente christlicher Identität (z.B. Sakrament der Taufe als Annahme durch und Erlösung in Jesus Christus) deutlich. Von einer anderen Seite sind auch performative Zugänge sinneröffnend.

Die (Re-)Präsentation wird durch reflektierte Lernprozesse (Lernhilfe) gestaltet: Im Dialog mit den Schüler*innen über Sakramente bekommen diese Hilfen, ihren eigenen Lebens- und Glaubensweg finden, gehen und gestalten zu können (Was ist mir in religiöser Hinsicht / im Glauben heilig? Wann und in welchen Situationen nimmt Gott mich bedingungslos an?). Und sie werden unterstützt, ihren Lebensweg zu finden und ihr eigenes Leben zu gestalten (Was ist mir im Leben heilig / wertvoll? In welchen Situationen bin ich für andere Menschen heilig?).

4.    Intuitiv, nachschmeckend: Ins spürbare (Nach-)Denken kommen

Als unterrichtspraktische Grundimplikationen für ein resonanzorientiertes, ökumenisches Lernen, das an einer Didaktik der Gaben ausgerichtet ist, ergibt sich:
Lerngegenstände sind nicht vorbestimmt, sie bringen aber selbst eine Beschaffenheit und einen Wert mit sich, mit denen ein Lehr-Lern-Weg vom Interesse (inter-esse) über Wahrnehmung, Deutung, Auseinandersetzung, Positionierung – kurz: Gestaltung – zugänglich und „durchdringlich“ bereitet werden kann und sollte. Die Schätze des Christentums in ihren konfessionellen Gestalten im Sinne differenter Wert-Schätzung didaktisch zuzueignen, heißt: Sinn und Geschmack für den religiösen Mehr-Wert konfessioneller Gaben entdecken. Dazu gehören multiperspektivische Aufbereitung und die Verschränkung dieser Perspektiven miteinander. Methodisch kann dies z.B. mit geeignet anregenden Lernaufgaben gestaltet werden.20

Für eine hohe Unterrichtsqualität geht es darum, dass Schüler*innen durch Impulsgebungen in ein Denken, Lernen, Gestalten und Positionieren kommen, welches kognitiv aktiviert ist, die ureigenen Intuitionen als Berührt-Werden in das Denken hineinnimmt und dabei das Nach-Schmecken als Lernwirkung erinnert. Nachhaltiges ökumenisches Lernen geschieht nicht nur durch Nachdenken, sondern durch das Nachschmecken, was darauf setzt, mit dem Eigenen und Anderen christlicher Religion in konfessioneller Gestalt in eine nachwirksame Berührung zu kommen.21 Die Gestaltqualität des Lernprozesses hängt also an der Frage, inwieweit das Christliche – gemein wie differenziell – in Prozessen spürenden Denkens zur Geltung kommt.

Deutlich ist, dass die Rolle von christlicher Praxis nicht zu unterschätzen ist im Lernprozess: Angesichts des häufigen Primärbegegnungscharakters mit Religion im RU liegt eine hohe Plausibilität und Lernchance darin, an Praxisvollzügen gelebte christliche Religion in Gemeinschaft und Differenz zu zeigen, um die Reflexivität von Theologie reflexiv erden zu können.

5.    Religionssensibel, konfessorisch, ökumenisch: Lehr-Lern-Horizont aufspannen

Wie auch im bisherigen Religionsunterricht wird im CRU die zentrale Aufgabe in der Förderung der religiösen Dialog- und Urteilsfähigkeit der Schüler*innen bestehen. Dazu gehören die Vermittlung von Grundwissen über den christlichen Glauben und andere Religionen sowie die reflexive Erschließung von Formen gelebter Religion und gelebten Glaubens.22 Ausgehend von dieser Kernaufgabe bietet der CRU die Möglichkeit, neue Akzente im Wirkungsbereich religiöser Bildung zu setzen, um den Herausforderungen einer religiösen Heterogenität lernend zu begegnen und den Religionsunterricht somit „unmissverständlich als identitäts- und dialogförderndes Bildungsangebot in einer pluralitätsfähigen Schule [auszugestalten]“.23

Unseres Erachtens lassen sich die drei Zieldimensionen religionssensibel, konfessorisch und ökumenisch herleiten, die im Prozess des gemeinsamen Suchens, Fragens und Antwortens einen dreidimensionalen Lehr-Lern-Horizont aufspannen. Diese drei Dimensionen sind nicht als Lernziel-Taxonomie bzw. Hierarchie zu verstehen, sondern als querliegende Bezugspunkte, die im Sinne eines harmonischen Dreiklangs bei religiösen Lehr-Lernprozessen stets mitzudenken sind. Im musikalischen Bild des Akkords gesprochen, gibt die Dimension religionssensibel dabei den Grundton an, an dem sich die Dimensionen konfessorisch und ökumenisch orientieren. Jede Dimension beschreibt zwar eine andere Ebene – ähnlich wie unterschiedliche Tonhöhen in einem Akkord –, ihre Klangkraft entfalten sie jedoch erst im abgestimmten und übereinstimmenden Zusammenspiel.

Ziel eines religionssensibel ausgerichteten Lehr-Lern-Prozesses ist es, dass Schüler*innen Religiosität und die vielfältigen Vorstellungen von Religion in der Gegenwart wahr- und ernstnehmen, d.h. sie finden bei existenziellen und wertorientierten Fragen religiöse Zugänge. Auf einer performativen Ebene bedeutet dies, „sensibel zu werden für die existenzielle Dimension des Menschseins in allen seinen Facetten“.24
Erweitert wird diese Grunddimension durch eine konfessorische Dimension, innerhalb derer eine Standpunktfähigkeit zu religiösen und konfessionellen Sachverhalten gefördert wird, welche die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel bzw. zur Perspektivenübernahme enthält.25

In harmonischer Abstimmung mit diesen beiden Dimensionen wird der dreidimensionale Lehr-Lern-Horizont durch eine ökumenische Dimension aufgespannt: Durch eine konfessionssensible, kritische, aber auch wertschätzende Auseinandersetzung sollen Antworten auf Fragen der christlichen Lebensdeutung und Lebensführung „im Lichte der ökumenischen Verheißung“26 entdeckt werden.

Weiterdenken. Ein kurzer Ausblick

Damit liegen erste Markierungen vor, anhand derer ein Weg für den CRU weiter ausgebaut werden kann. Innerhalb unserer Leitgedanken eröffnen sich weiterführende und zu diskutierende (auch Forschungs-)Fragen und -ansätze:

So ist z.B. ausgehend von einem resonanzorientierten Ansatz zu untersuchen, wie Kontaktflächen über alle (zukünftigen) KC-Inhalte hinweg konkret(!) gestaltet werden können, welche die Schüler*innen in einer verständlichen Sprache ansprechen. Eng verbunden ist damit die Frage, worin sich das „Gemein-Christliche“ konkretisiert – ohne eine Engführung auf dogmatische Inhalte vorzunehmen.

Für mögliche Repräsentationsmodi von (konfessionellen) Sachverhalten wurde von uns ein erster Aufschlag gemacht. Fragen der Position(alität) bzw. Positionalisierung und möglicher sensibler Sprachstile konnten hier nur ansatzweise angerissen werden. Auch sind Fragen der (inneren) Haltungen, Einstellungen und Dispositionen von Religionslehrer*innen für eine „ökumenische Hermeneutik der Gaben“ weiterzu(be)denken. Mit Bezug auf Lehr-Lern-Horizonte ist dann zu diskutieren, inwiefern die aufgeführten Zieldimensionen Modelle zur religiösen Kompetenz27 erweitern, ergänzen oder in diese integriert werden können.

Für alles religiöse Lernen sind neben dem Religionsunterricht auch Resonanzzonen wie Schulkultur, Schulseelsorge bzw. -pastoral, Schulgottesdienste und -feiern nicht aus dem Auge zu verlieren. Wie wirkt sich eine ökumenische Schul(feier)kultur auf gemeinsamen Religionsunterricht aus – wie färbt sie den Blick auf Ökumene?

Herausgefordert ist nicht mehr und nicht weniger als die Didaktik eines neuen Unterrichtsfaches für religiöse Bildung in Niedersachsen. Es wird wichtig sein, diese im Interesse eines gemein-christlichen religiösen Lernens (weiter) zu entwickeln, wobei bei allen differenzsensiblen Blickwinkeln nicht aus dem Blick geraten darf, dass es letztendlich immer um das gemeinsame Anliegen einer religiösen Bildung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kontext von Schule geht – und nicht um akademisch-spitzfindige Unterschiede, Spezifika oder unbedeutende Gemeinsamkeiten.

Anmerkungen

  1. Christlicher Religionsunterricht in gemeinsamer Verantwortung, vgl. Positionspapier.
  2. Vgl. Rosa, Resonanz.
  3. Vgl. Leonhard, Resonanzorientierte Religionsdidaktik.
  4. Vgl. dazu auch Leonhard, Resonanzorientierte Religionsdidaktik; Kumlehn, Dinge zum Sprechen bringen; Roth/Gilly, Positionierung der Dinge.
  5. Vgl. Altmeyer, Zum Umgang sprachlicher Fremdheit, 193; Altmeyer u.a., Sprachsensibler Religionsunterricht.
  6. Vgl. Leimgruber, Ökumenisches Lernen.
  7. Rupp, Elementare Theologie, 46.
  8. Vgl. dazu auch Leonhard, Wofür braucht die Schule Religion?; Hanusa, Von der Resonanzpädagogik zum Religionsunterricht.
  9. Stögbauer-Elsner, Studienbuch, 278.
  10. Vgl. Fabricius, Positionalität.
  11. Rupp, Elementare Theologie, 44.
  12. Zur Beantwortung dieser Frage tragen neben interkonfessionellen und ökumenischen Perspektiven ebenso Erkenntnisse der interreligiösen Didaktiken (vgl. etwa Karlo Meyer; Clauß Peter Sajak) bei. Grundsätzlich ist es natürlich wünschenswert, dass eine Begegnung mit dem authentischen Ureigenen stattfindet!
  13. Rupp, Elementare Theologie, 45.
  14. Vgl. Woppowa / Schröder, Theologie.
  15. Positionspapier, 34.
  16. Kuld, KoKoRU, 57; Rupp, Elementare Theologie, 54.
  17. Vgl. ausführlich Fabricius, Positionalität.
  18. Vgl. ausführlich Altmeyer, Sprachsensibler Religionsunterricht.
  19. Die Dimensionen Glaubenshilfe, Lebenshilfe und Lernhilfe können als essenziell für ein Anforderungsprofil von Religionslehrer*innen angenommen werden (Vgl. Ritter, Religionslehrer/in.).
  20. Dazu kann bereits auf fundierte Vorarbeiten aus den Disziplinen der Allgemeinen Didaktik („lernprozessanregende Aufgaben“ in Form von Entscheidungsaufgaben, Gestaltungsaufgaben, Beurteilungsaufgaben und Problemaufgaben, vgl. Tulodziecki, Gestaltung) und der aktuellen religionsdidaktischen Diskussion zurückgegriffen werden (vgl. Käbisch / Woppowa, Perspektiven)
  21. In Anlehnung an eine ignatianische Spiritualität.
  22. Vgl. DKB, 12 und Positionspapier, 24.
  23. Schröder/ Woppowa, Theologie, 24.
  24. Knoblauch, Bildung.
  25. Vgl. Woppowa, Religionsdidaktik, 187.
  26. Woppowa/ Schröder, Theologie, 57.
  27. Vgl. Übersicht bei Lindner/ Simojoki, Was RU erreichen will, 78ff.

Literatur

  • Altmeyer, Stefan: Zum Umgang sprachlicher Fremdheit in religiösen Bildungsprozessen, in: Schulte, Andrea (Hg.): Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 191-205
  • Altmeyer, Stefan: Sprachsensibler Religionsunterricht – Grundlagen und konzeptionelle Klärungen, in: ders. u.a. (Hg.): Sprachsensibler Religionsunterricht. Jahrbuch der Religionspädagogik. Bd. 37, Göttingen 2021, 14-29
  • DBK (Hg.): Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts, Bonn 2016
  • EKD (Hg.): Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit, Leipzig 2020
  • Fabricius, Steffi: Art. Positionalität, Lehrende, in: Wissenschaftlich Religionspädagogisches Lexikon im Internet (www.wirelex.de), 2022
  • Hanusa, Barbara: Von der Resonanzpädagogik zum Religionsunterricht. Grundlinien der Resonanzpädagogik, in: Leonhard, Silke / Hanusa, Barbara (Hg.): Kompetenz, Performanz, Resonanz. Konzeptionelle Perspektiven zu Religionsdidaktik im Streitgespräch. Rehburg-Loccum 2021, 67-86
  • Käbisch, David / Woppowa, Jan: Perspektiven verschränken und Lernaufgaben konstruieren. Eine religionsdidaktische Annäherung, in: dies. (Hg.): Religion unterrichten, Heft 1/2020, 10-18
  • Kraft, Friedhelm: Theologisieren mit Kindern – zwischen Empathie und Strukturierung, in: Büttner, Gerhard u.a. (Hg.): Handbuch Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden, München 2014, 19-25
  • Knoblauch, Christoph / Weber, Judith: Art. Bildung, religionssensible. In: Wissenschaftlich Religionspädagogisches Lexikon im Internet (www.wirelex.de), 2018
  • Kuld, Lothar: Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht – Mögliche Konsequenzen für die Ausbildung der Religionslehrerinnen und Religionslehrer, in: Rendle, Ludwig (Hg.): Beobachtung und Teilnahme. Perspektivenwechsel im Religionsunterricht. 11. Arbeitsforum für Religionspädagogik. Dt. Katecheten-Verein e.V., München 2015, 43-54
  • Kumlehn, Martina u.a. (Hg.): Dinge zum Sprechen bringen. Performanz der Materialität, Berlin/ Boston 2022
  • Leimgruber, Stefan: Ökumenisches Lernen, in: Hilger, Georg u.a. (Hg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München 2015, 453-461
  • Leonhard, Silke: Wofür braucht die Schule Religion? Thesen zur Diskussion um eine zeitgemäße Orientierung des Religionsunterrichts?, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 70(2018)2, 153-166
  • Leonhard, Silke: Resonanzorientierte Religionsdidaktik mit Herz, Kopf, Hand und Fuß, in: Loccumer Pelikan. Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde. Heft 3/2021, 22-27
  • Leonhard, Silke: Resonanzorientierte Religionsdidaktik, in: Grümme, Bernhard / Pirner, Manfred L. (Hg.): Religionsunterricht weiterdenken. Innovative Ansätze für eine zukunftsfähige Religionsdidaktik, Stuttgart 2023, 240-254
  • Lindner, Konstantin / Simojoki, Henrik: Was Religionsunterricht erreichen will – Bildungsstandards und Kompetenzen, in: Hilger, Georg u.a. (Hg.): Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, München 2014, 78-91
  • Positionspapier der Schulreferentinnen und Schulreferenten der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Niedersachen: Gemeinsam verantworteter christlicher Religionsunterricht, Hannover 2021
  • Ritter, Werner H.: Religionslehrer/in Sein – zwischen Glaubens-, Lebenshilfe und Lernfach, in: Hilger, Georg u.a. (Hg.): Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts. München 2014
  • Rosa, Hartmut: Resonanz, München 2016
  • Roth, Ursula/ Gilly, Anne (Hg.): Die religiöse Positionierung der Dinge. Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis, Stuttgart 2021
  • Rupp, Hartmut: Der Bedarf einer elementaren Theologie im konfessionell-kooperativen Religionsunterricht – Mögliche Konsequenzen für die Fortbildung der Religionslehrerinnen und Religionslehrer, in: Rendle, Ludwig (Hg.): Beobachtung und Teilnahme. Perspektivenwechsel im Religionsunterricht. 11. Arbeitsforum für Religionspädagogik, München 2015, 55-62
  • Schröder, Bernd / Lübking, Hans-Martin: Religion unterrichten. Praktische Theologie konkret, Göttingen 2022
  • Schröder, Bernd / Woppowa, Jan (Hg.): Theologie für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Ein Handbuch, Tübingen 2021
  • Stögbauer-Elsner, Eva u.a. (Hg.): Studienbuch Religionsdidaktik, Bad Heilbrunn 2021
  • Tulodziecki, Gerhard u.a.: Gestaltung von Unterricht, Bad Heilbrunn 2017
  • Woppowa, Jan: Religionsdidaktik, Paderborn 2018