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Das Thema Abendmahl im CRU

von Matthias Hülsmann

 

Die wichtigste Frage – Teil 1

Ich kann mich noch genau an die Situation erinnern. So etwas vergisst man nicht. Es war in meiner ersten Kirchengemeinde. Ich war noch ein ganz junger Pastor und wir feierten Gottesdienst mit Abendmahl. Die Gemeindeglieder hatten sich in einem Halbkreis vorne im Altarraum aufgestellt. Die Oblaten hatte ich bereits ausgeteilt. Jetzt ging ich mit dem Kelch herum und stand vor der Frau eines Kirchenvorstehers. Ich sagte: „Christi Blut, für dich vergossen“ und reichte ihr den Kelch. Die Frau in der weißen Bluse neigte den Kopf etwas vor und streckte die Hände aus, aber sie griff nicht richtig zu, denn sie wollte den Kelch nur etwas neigen, um besser trinken zu können. Fast hätte ich losgelassen, aber reflexartig griff ich wieder nach dem Kelch und der Rotwein schwappte auf ihre weiße Bluse. Die Frau murmelte nur trocken: „Macht nichts. Das geht wieder raus.“

Aber macht das wirklich nichts? Was hatte ich denn da gerade vergossen – Rotwein? Oder Christi Blut?!

Dies ist die zentrale Frage beim Abendmahl: Ist der Körper Jesu Christi wirklich in dem Stück Brot gegenwärtig? Und handelt es sich bei dem Rotwein wirklich um Christi Blut?

Erste Überraschung

Hier liegt die erste theologische Überraschung, denn die römisch-katholische und die evangelisch-lutherische Abendmahlslehre stimmen darin überein, dass die Gläubigen mit der Oblate den Leib Christi empfangen und körperlich in sich aufnehmen. Das ist mit dem Begriff Realpräsenz gemeint.

Zweite Überraschung

Die zweite theologische Überraschung besteht darin, dass die evangelisch-reformierte und die evangelisch-lutherische Abendmahlslehre in der Frage der Realpräsenz nicht übereinstimmen, denn die reformierte Tradition lehnt die Auffassung einer leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl ab. Römisch-katholische und evangelisch-lutherische Christenmenschen stehen sich also in der Frage der Realpräsenz näher als evangelisch-lutherische und evangelisch-reformierte Christenmenschen, obwohl die beiden evangelischen Konfessionen sich während der Reformationszeit gemeinsam von der römisch-katholischen Kirche distanziert haben. Die evangelisch-lutherische Konfession geht – wie der Name schon sagt – auf Martin Luther zurück; die evangelisch-reformierte Konfession geht auf die Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli und Johannes Calvin zurück.

Römisch-katholisch: die Wandlung

Die grundlegende theologische Übereinstimmung zwischen römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Abendmahlslehre besteht also in der Realpräsenz. Das ist erstaunlich, denn beide Kirchen gelangen auf völlig unterschiedlichen Wegen zu diesem Ergebnis.

Matthäus 26,26 erzählt, dass Jesus beim letzten Abendmahl das Brot nimmt und sagt: „Das ist mein Leib.“ Aber wie kann das Brot der Körper Christi sein?

Die römisch-katholische Theologie beantwortet diese Frage mit der sogenannten Transsubstantiation. Das Brot wird durch die vom geweihten Priester gesprochenen Einsetzungsworte in den Leib Christi gewandelt. Es ist jetzt kein Brot mehr, auch wenn es noch so aussieht und nach Brot riecht und schmeckt, sondern es wurde verwandelt in den Körper Christi. Dahinter steht eine alte philosophische Unterscheidung zwischen dem Wesen (lateinisch: substantia) und den Eigenschaften (lateinisch: accidentia) einer Sache oder Person.

Ein Beispiel: Ich bin 60 Jahre alt und komme in eine Fahrzeugkontrolle. DiePolizistin möchte meine Fahrzeugpapiere sehen. Ich gebe ihr meinen Führerschein. Sie guckt sich das Foto an, dann guckt sie mich an, dann wieder das Foto. Schließlich sagt sie: „Dann muss ich Ihren Personalausweis auch noch sehen.“ Wo ist das Problem? Ich habe meinen Führerschein mit 18 Jahren bekommen, und das Foto zeigt einen jungen Mann mit langen dunklen Haaren ohne Brille. Die Polizistin kann aber zwischen mir und dem alten Foto keine Übereinstimmung feststellen. Mein Personalausweisfoto dagegen ist ganz neu und zeigt einen knapp 60-jährigen Brillenträger mit kurzen grauen Haaren. Erst jetzt glaubt mir die Polizistin, dass der Führerschein wirklich mir gehört. Was ist in den vergangenen 40 Jahre passiert? Meine Akzidenzien haben sich verändert, die Haare, die Augen, die Haut, das Gewicht. Aber ich bin immer noch dieselbe Person (Wesen) wie vor 40 Jahren.

Bei der Transsubstantiation wird nun das Wesen einer Sache verwandelt, die Hostie wird zum Leib Christi, aber ihre Eigenschaften wie Geschmack, Gewicht und Geruch bleiben erhalten.

Dieses Wesen der vom Priester geweihten Hostie bleibt übrigens auch nach der Eucharistiefeier – so die katholische Bezeichnung für die Abendmahlsfeier – erhalten. Deshalb werden die Hostien im sogenannten Tabernakel bis zur nächsten Eucharistiefeier aufbewahrt. Und deshalb wird der in Christi Blut gewandelte Wein während der Feier vollständig und ohne Reste ausgetrunken.

Weil Jesus Christus selbst diese Wandlung beim ersten Abendmahl vollzogen hat, deshalb ist nach römisch-katholischem Verständnis diese Wandlung bis heute nur durch einen Bischof oder einen geweihten Priester möglich. Die schmerzliche Folge ist, dass die römisch-katholische Lehre die Oblate im evangelisch-lutherischen Abendmahl nicht als Leib Christi anerkennt, weil eine ordinierte evangelische Pfarrperson nicht das Sakrament der Priesterweihe empfangen hat. Die entscheidende Differenz liegt also nicht im Verständnis der Realpräsenz, sondern im Amtsverständnis.

Evangelisch-lutherisch: Eisen und Feuer

„Das ist mein Leib.“ An diesen Worten hing für Martin Luther alles. Für ihn stand damit unumstößlich fest: Im Abendmahl nehmen wir Christi Leib und Blut zu uns. Aber wie kann der Leib Christi im Brot sein, wenn dieser Leib Christi in den Himmel aufgefahren ist? Luther ging davon aus, dass der Körper Christi an beiden Orten gleichzeitig ist.

Er entwickelte als Erklärungsmodell für die Gegenwart Jesu im Abendmahl die Lehre von der communicatio idiomatum; das heißt wörtlich übersetzt „die Mitteilung der Eigenschaften“. Was verbirgt sich hinter dieser Lehre?

Luther nimmt die neutestamentliche Botschaft ganz ernst: Gott wird Mensch. Dieses Ereignis feiern wir an Weihnachten. Gott wird Mensch, das heißt, das Wesen Gottes und das Wesen des Menschen kommen in dem Menschen Jesus von Nazareth zusammen. Die Person Jesu bildet die Einheit, in der die göttliche und die menschliche Natur verbunden sind. Luther ging davon aus, dass diese Einheit der Person Christi so umfassend ist, dass die göttliche Natur ihre Eigenschaften wie zum Beispiel die Allgegenwart auch der menschlichen Natur mitteilt. Die menschliche Natur Christi bekommt also Anteil an diesen göttlichen Eigenschaften. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass der Leib Christi überall gegenwärtig sein kann. Konkret: Sein Leib ist sowohl bei Gott im Himmel als auch im Brot beim Abendmahl, und zwar gleichzeitig.

Umgekehrt bekommt auch die göttliche Natur Christi Anteil an den menschlichen Eigenschaften Christi, wie zum Beispiel der Sterblichkeit. Nur deshalb ist es möglich, dass in Jesus Christus Gott in seiner göttlichen Natur am Kreuz stirbt.

Luthers Verständnis dieser Mitteilung der Eigenschaften der beiden Naturen wird anschaulich, wenn man ein Stück Eisen beobachtet, das ins Feuer gelegt wird. Das Eisen nimmt die Eigenschaften des Feuers an, denn es wird heiß und rotglühend. Dennoch bleibt es Eisen. Umgekehrt gilt dasselbe: Die Feuersglut bekommt Form und Gestalt, denn sie verbindet sich mit dem Eisen. Dennoch bleibt es Feuer.

Dieses Ineinander von Brot und Leib Christi gilt nur für die Dauer der Abendmahlsfeier. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur Transsubstantiationslehre. Die Gläubigen vertrauen darauf, dass sie bei dieser gottesdienstlichen Handlung in, mit und unter Brot und Wein den Leib und das Blut Christi zu sich nehmen. Das kann auch beim Hausabendmahl im Wohnzimmer geschehen. Nach der Abendmahlsfeier ist die Oblate wieder eine schlichte Oblate und der rote Traubensaft nichts weiter als roter Traubensaft, der einfach ausgetrunken oder weggegossen werden kann.

Auf diese Weise versuchte Luther deutlich zu machen, dass der Leib Christi gleichzeitig in der Oblate beim Abendmahl und im Himmel sein kann. Natürlich wusste Luther, dass diese Ansicht jeder rationalen Logik und Vernunft widersprach. An diesem Punkt stimmte er mit der römisch-katholischen Lehre überein, die in der eucharistischen Wandlung ein „Geheimnis des Glaubens“ sieht.

Evangelisch-reformiert: Erinnerung und Gemeinschaft

Der Schweizer Reformator Ulrich Zwingli widersprach dieser unlogischen und unvernünftigen Deutung des Abendmahls aufs Schärfste. Für ihn war klar: Jesus Christus sitzt im Himmel zur Rechten Gottes; folglich kann er nicht leiblich in den Elementen Brot und Wein anwesend sein. Das war aber auch gar nicht nötig, denn der Satz „Das ist mein Leib“ muss seiner Auffassung nach als bildlicher Hinweis auf den Leib Christi verstanden werden.

Kehren wir noch einmal zurück zur Polizistin bei der Fahrzeugkontrolle. Ich gebe ihr meinen alten Führerschein, sie fragt mich: „Sind Sie das?“ und ich antworte mit „Ja“. Dann gebe ich ihr meinen Personalausweis mit dem aktuellen Foto von mir und sage: „Das bin ich.“ Genau genommen sind beide Fotos aber nur Abbildungen von mir. Die Bilder sind Hinweise auf mich und repräsentieren mich zeichenhaft, aber sie sind nicht ich selbst. Das wird spätestens dann deutlich, wenn mein alter Führerschein samt Foto zerrissen wird, denn nicht ich werde zerrissen, sondern der bildliche Hinweis auf mich.

In diesem zeichenhaften Sinn verstand Zwingli den Satz „Das ist mein Leib“. Für ihn war bei den Einsetzungsworten ein anderer Satz Jesu wichtig: „Das tut zu meinem Gedächtnis.“ Bei der Abendmahlsfeier geht es primär um die Erinnerung an Jesus Christus und seine Erlösungstat. Diese gemeinsame Erinnerung und dieser gemeinsame Glaube an den auferstandenen Herrn verbinden alle Glaubenden bei der Abendmahlsfeier.

Das Problem der Abendmahlsgemeinschaft

Der krasse Gegensatz zwischen dem evangelisch-lutherischen und dem evangelisch-reformierten Abendmahlsverständnis ist deutlich. Dennoch ist es 1973 in der Leuenberger Konkordie gelungen, diese gravierenden Unterschiede zu überbrücken und die Abendmahlsgemeinschaft zwischen diesen reformatorischen Kirchen zu ermöglichen.

Die Abendmahlsgemeinschaft zwischen der römisch-katholischen und den reformatorischen Kirchen steht noch aus. Zum Abendmahl der reformatorischen Kirchen sind zwar auch die römisch-katholischen Gläubigen eingeladen; ihnen ist aber die Teilnahme nach römisch-katholischem Kirchenrecht untersagt. Da die Abendmahlsfeier nicht von geweihten Priestern, sondern von ordinierten Pfarrpersonen geleitet wird, findet nach römisch-katholischem Verständnis keine Wandlung und keine legitime Eucharistiefeier statt.

Umgekehrt sind die evangelischen Gläubigen – außer bei Todesgefahr – von der Eucharistiefeier ausgeschlossen, denn laut römisch-katholischem Kirchenrecht dürfen römisch-katholische Priester nur römisch-katholischen Gläubigen die Sakramente spenden.

Eine weitere theologische Überraschung besteht darin, dass die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und die Selbstständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) zwar eine identische Abendmahlslehre vertreten, dass es aber keine Abendmahlsgemeinschaft zwischen Christenmenschen aus der Landeskirche und der SELK gibt. Beide Kirchen gehen – wie der Name schon sagt – auf Martin Luther und seine Theologie zurück; beide Kirchen stimmen in der Frage der Realpräsenz und der Abendmahlslehre völlig überein; trotzdem feiern sie nicht gemeinsam Abendmahl.

Aus der Sicht der SELK hängt die Abendmahlsgemeinschaft sehr eng mit der Kirchengemeinschaft zusammen. Die SELK lehnt eine Gemeinschaft mit denjenigen Kirchen ab, die das Abendmahlsverständnis der evangelisch-reformierten Kirche anerkennen wie zum Beispiel die Landeskirche Hannovers.

Die wichtigste Frage – Teil 2

Bleibt noch die Frage nach der Frau mit der weißen Bluse und dem Rotweinfleck. Habe ich ihr wirklich Christi Blut auf die Bluse geschüttet? Die lutherische Antwort lautet: Nein. Im Gegensatz zur katholischen Transsubstantiationslehre findet beim Abendmahl keine Wandlung statt. Blut und Leib Christi werden nur da empfangen, wo sie bei einer Abendmahlsfeier in der Absicht, dass es sich um Blut und Leib Christi handelt, ausgeteilt und im Glauben empfangen werden. Deshalb darf nach einer evangelisch-lutherischen Abendmahlsfeier der übriggebliebene Wein weggegossen werden.

Offen bleibt also lediglich die Frage, ob die Frau den Rotweinfleck aus ihrer weißen Bluse wirklich wieder rausbekommen hat.