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Vergebung muss den Ansprüchen der Gerechtigkeit genügen

von Maria-Sibylla Lotter


Worauf hofft die Mörderin? Was bedeutet es zu vergeben? Und was ist dafür erforderlich? Hier gibt es beträchtliche kulturelle Unterschiede in den Praktiken.

Die Etymologie des Begriffs Vergebung bedeutet „etwas geben” oder „aufgeben”. Es wird nicht gesagt, was genau aufgegeben wird: Gefühle wie Zorn oder Groll? Das Recht auf Rache? Strafrechtliche Anklage und Verurteilung? Gemeinsamer Nenner der Vorgänge, die wir mit den heute nahezu synonym gebrauchten Begriffen Vergeben und Verzeihen verbinden, ist jedenfalls ein Verzicht auf bestimmte negative Reaktionen auf ein Fehlverhalten: Man klagt die Täterin nicht mehr an, zieht evtl. auch den Anspruch auf Wiedergutmachung oder Rache zurück, man wirft ihr das Unrecht nicht mehr vor und hört evtl. sogar ganz auf, ihr zu grollen.

Wie geht das? Ein Mord richtet seelische und soziale Schäden an, die nicht ohne Weiteres von selbst heilen. Es sind beträchtliche soziale Anstrengungen erforderlich, um die Überlebenden von Gewalttaten von Zorn und Verzweiflung zu befreien und das zerstörte soziale Vertrauen wiederaufzubauen. Zudem verlangt es in vielen Kulturen der Respekt vor dem Opfer, dass seine Angehörigen – je nach Art der Beziehung zum Täter – auf Rache oder ersatzweise Wiedergutmachung dringen. Dann ist der Verzicht auf Rache an Vorleistungen gebunden, die einerseits die durch das Verbrechen Geschädigten entschädigen, andererseits dem Opfer Respekt erweisen und der Gemeinschaft signalisieren, dass der Täter sich in Zukunft an die Gesetze halten wird. In vielen kulturellen Kontexten wird dafür eine Bekundung von Reue und eine Bitte um Verzeihung erwartet, in Verbindung mit einer angemessenen materiellen Entschädigung. In traditionellen Gesellschaften ist das Verzeihen somit eingebunden in eine Ökonomie der Schuld, die eine universale Regel des menschlichen Zusammenlebens darstellt: Wer eine andere Person geschädigt, verletzt oder getötet hat, muss nach einem bestimmten Code dafür zahlen. In den meisten Fällen ist nur so die Reparatur der zerstörten sozialen Beziehungen möglich.

Während das Verzeihen in traditionellen Gesellschaften ebenso wie die Rache in die Ökonomie der Schuld eingebunden ist, hat sich seine moderne westliche Bedeutung davon emanzipiert. Das kommt besonders eindrücklich bei Hannah Arendt zum Ausdruck. In Vita Activa bezeichnet sie die menschliche Fähigkeit des Verzeihens als das „Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit“ schlechthin. Zwar kann auch die Vergebung die Schuld als Tatsache nicht aus dem Bereich der Geschichte oder aus dem Gedächtnis der Menschheit entfernen. Sie kann jedoch die gegenwärtigen Menschen von der geistigen Versklavung durch vergangenes Unrecht befreien: „Nur durch dieses dauerhafte gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben.“ Für Arendt ist das Verzeihen daher die Grundlage für eine freie Gestaltung der Zukunft schlechthin.

Dieses Verständnis von Vergebung, das an eine christliche Tradition anknüpft, die Vergebung teilweise nach dem Modell der göttlichen Gnade als ein freies Geschenk deutete, ist wohl das heute auch global vorherrschende, das sich mit der westlichen Kultur ausgebreitet hat. Es hat sich dabei zumindest der Idee nach weit von der Einbindung in die Ökonomie der Schuld entfernt. Darin liegen seine besonderen Möglichkeiten, aber auch Risiken. Denn der moderne Begriff des Verzeihens ist in sich widersprüchlich, wie der französische Philosoph Jacques Derrida gezeigt hat, und daher anfällig für illusionäre Erwartungen. Vergebung wird heute einerseits als eine menschliche Möglichkeit verstanden, die nicht der reziproken Ökonomie von Schuld und Gegengabe folgt. Sie soll vielmehr als ein freies Geschenk ohne Gegengabe und Vorbedingung möglich sein. Andererseits verbinden wir Verzeihen mit einer Reihe von psychologischen und moralischen Bedingungen, die die schuldige Person erst einmal erfüllen muss, damit ihr verziehen werden kann. Dazu gehört nicht unbedingt eine materielle Wiedergutmachung, aber – zumindest in der jüdisch-christlichen Tradition – eine Reihe von „geistigen Leistungen“ wie ein Geständnis, ehrliche Reue und Zerknirschung und nicht zuletzt eine innere moralische Wandlung. Der Begriff des Verzeihens umfasst also im Einflussbereich der westlichen Kultur zwei sich gegenseitig ausschließende Vorstellungen: einerseits eine bedingungslose Vergebung, die den Schuldigen ohne Gegenleistung gewährt wird, auch denen, die nicht bereuen oder um Vergebung bitten, und andererseits eine bedingte Vergebung, die in dem Maße gewährt wird, als ihr auf der Seite der Schuldigen Reue, Buße und innere Transformation entspricht.

In der christlichen Tradition wird das Verzeihen zudem mit dem Gedanken der Liebe assoziiert, die sich gegen die Rachsucht durchsetzt und Vorrang vor der Gerechtigkeit beansprucht. Der Liebe werden ungeheure Kräfte der Transformation zugeschrieben. Mit ihr verbinden sich Hoffnungen auf eine Verwandlung von Feindschaften, die aus historischem Unrecht und Gewalt herrühren, in emphatische menschliche Beziehungen. Dabei werden Übeltäter zu mitfühlenden und reuevollen Mitmenschen. Zornige Menschen, die vom Wunsch nach Rache getrieben sind, entwickeln liebevolles Verständnis für ihre Feinde und die Mörder ihrer Angehörigen. Im optimalen Fall ist dies ein wechselseitiger Prozess: Die Liebe der verzeihenden Person soll es der Übeltäterin ermöglichen, sich zu verwandeln. Das involviert einen bedingungslosen Akt des Verzichts auf Groll und Rache an der Täterin, die im Akt des Verzeihens als eine nunmehr andere Person anerkannt wird. In der Praxis kollidiert ein solcher bedingungsloser Verzicht auf Strafe und Vergeltung jedoch mit dem Bedürfnis vieler Menschen nach Gerechtigkeit und kann daher selbst zum Ursprung von spontaner und unkontrollierter Gewalt werden.

Das zeigte sich beispielsweise im weiteren sozialen Kontext der 1996 und 1998 in Südafrika unter Leitung von Bischof Tutu eingesetzten Truth and Reconciliation Commission (TRC), die ursprünglich zum Ziel hatte, eine tiefgehende gesellschaftliche Spaltung durch die öffentliche Vergebung von geständigen Tätern zu überwinden. Die Angehörigen der Opfer wurden in den Sitzungen der Kommission ermutigt, den Folterern und Mördern des Regimes öffentlich zu verzeihen. Dabei folgte die Kommission der Regel, dass den Tätern auch Straffreiheit garantiert wurde, wenn sie ihre Verbrechen vollständig und wahrheitsgemäß gestanden. In seinem Buch Wounds not Healed by Time hat Solomon Schimmel die Reaktion eines Rabbiners beschrieben, der an einer Sitzung der Kommission teilgenommen hatte. Schimmel berichtet:

So wurde ein weißer Polizist, der zwölf Menschen ermordet hatte, indem er ihre Häuser in Brand setzte, von jeder rechtlichen Verpflichtung gegenüber den Familien seiner Opfer befreit. Als er beklagte, wie sehr er seine Tat bedauerte, begannen die Zuhörer zu weinen und gaben ihm stehende Ovationen. Der empörte Rabbiner meldete sich zu Wort: „Es tut mir leid, aber das ist grotesk! Man kann nicht zwölf unschuldige Menschen sadistisch ermorden, indem man sie bei lebendigem Leib verbrennt, und dann einfach sagen: ‚Es tut mir leid!‘” Er sah in der Umarmung des Offiziers durch die Christen eine grobe Ungerechtigkeit, während die Christen es als ihre Pflicht oder Tugend empfanden, „ihn in brüderlicher Liebe zu umarmen”.

Auch Martha Minow und Robert Wilson hatten damals eingewendet, dass die Aufforderung der TRC an die Angehörigen der Opfer, öffentlich den Personen zu vergeben, die ihre Angehörigen ermordet und gefoltert hatten, noch keine wirkliche Versöhnung in weiteren gesellschaftlichen Kontext herbeiführen konnte. Und in der Tat belegten die Gewalttaten im Anschluss an die Kommission, dass eine zu leicht gewährte Vergebung, die nicht auf breite soziale Zustimmung stößt, zur zusätzlichen Triebfeder gewalttätig ausgetragener sozialer und politischer Konflikte werden kann. Da die öffentlichen Szenen der Vergebung außerhalb des begrenzten Einflussgebietes der Kommission nicht akzeptiert wurden und die Täter straffrei blieben, kam es anschließend in den Homelands zu äußerst brutalen und unkontrollierten Racheaktionen insbesondere gegenüber Tätern, die mit dem Apartheitssystem kollaboriert hatten oder rivalisierende politische Gruppen vorgegangen waren.

Darf ein Mörder also auf Vergebung hoffen? Ich spreche hier nicht von göttlicher Gnade. Menschliche Vergebung, das zeigen die Erfahrungen, ist kein Wundermittel, das jederzeit eingesetzt werden kann, wenn bei den unmittelbar von einem Mord Betroffenen anscheinend der gute Wille da ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Weder ist die Fähigkeit zu vergeben schon mit der guten Absicht vorhanden, noch kann sie immer das soziale Umfeld überzeugen; noch ist es immer angebracht zu vergeben, denn Vergebung kann auch dazu dienen, ungerechte Machtverhältnisse zu stabilisieren oder den Widerstand gegen sie zu demotivieren. In der Antike wurde retributiven Gefühlen wie Zorn, Rachsucht und Groll daher auch eine positive und sogar unverzichtbare ethische Funktion für die eigene Selbstachtung zugeschrieben. Die Gerechtigkeit in die eigene Hand zu nehmen, kann allerdings auch in die von Hannah Arendt beschriebene Gefahr führen, im eigenen Leben durch die Vergangenheit versklavt zu werden. Gleichwohl ist Verzeihen kein leichter Akt, der ohne Weiteres Gerechtigkeit ersetzen kann, sondern eine Arbeit, die Umsicht erfordert und auch stets den Ansprüchen der Gerechtigkeit genügen muss. Sonst gilt, was Arendt an einer anderen Stelle in ihrem Denktagebuch schreibt: „Verzeihen, oder was gewöhnlich so genannt wird, ist in Wahrheit nur ein Scheinvorgang, in dem der eine sich überlegen gebärdet, wie der Andere etwas verlangt, was Menschen einander weder geben noch abnehmen können. Der Scheinvorgang besteht darin, dass dem einen scheinbar die Last von den Schultern genommen wird durch einen anderen, der sich als unbelastet darstellt.“