„Dieser komische Vogel da vorne…“ – Eine Berufsschulklasse erlebt einen „Tag im Stift“ in Fischbeck

Von Michaela Veit-Engelmann

 

Eine Rallye quer durch die Kirche

„Habt ihr den Engel gefunden?“ – „Nein. Und uns fehlt auch noch dieses Holzding hier. Wo könnte das denn sein?“ – „Guck mal, da neben der Treppe!“ Solche und ähnliche Gesprächsfetzen hallen durch die mehrere Jahrhunderte alte Kirche des Stiftes Fischbeck. Knapp 20 Schüler*innen einer Berufsfachschulklasse mit dem Schwerpunkt Persönliche Assistenz der Elisabeth-Selbert-Schule Hameln wuseln zwischen den Kirchenbänken herum, werfen einen neugierigen Blick in den Damenchor, steigen in die Krypta hinunter oder erklimmen die Kanzel. Ihre Aufgabe ist es, 23 Detailaufnahmen aus der Kirche wiederzuentdecken und auf einem Grundriss einzutragen. Das (geheime) Ziel: schneller zu sein als die anderen Gruppen und also als Sieger*innen aus der Rallye hervorzugehen. Und die Chance dabei: Endlich einmal haben Schüler*innen die Gelegenheit, sich ganz ungezwungen in einem Kirchengebäude zu bewegen und ihrer Neugierde freien Lauf zu lassen. „Uns ist es wichtig, dass Schüler lernen: Eine Kirche ist nicht nur fremd und unnahbar, sondern kann als Gebäude und mit ihrer Geschichte auch für junge Menschen spannend und lebendig sein“, erklärt Äbtissin Katrin Woitack vom Stift Fischbeck die Absicht hinter dieser spielerischen Übung. 


Stift Fischbeck – ein Beispiel für einen außerschulischen Lernort

Die Foto-Rallye ist Auftakt eines ganzen (Schul-)Tages unter dem Titel „Tag im Stift“. Er findet statt im Stift Fischbeck, das Teil der Landkarte der außerschulischen Lernorte ist, die von der Hannoverschen Landeskirche entwickelt wurde.  Ziel dieses Lernorte-Projektes ist es, Religion für Schülerinnen und Schüler an dem Ort erlebbar zu machen, an dem die Religion auch tatsächlich gelebt wird. „Denn außerschulische Lernorte“, erklärt Dr. Christiane-Barbara Julius, Schulpastorin in Gifhorn und Beauftragte für Kirche und Schule im Sprengel Lüneburg-Süd, „ermöglichen unmittelbares Veranschaulichen und ‚Begreifen’ religiöser Orte und Begegnungen mit Menschen, die dafür einstehen. Aus solchen authentischen Primärerfahrungen lässt sich lernen: Spiritualität, diakonisches Handeln, Weltverantwortung, Friedensarbeit, jüdische und interreligiöse Begegnungsmöglichkeiten und anderes mehr.“


Gelebte Religion im Stift Fischbeck 

Das Stift in Fischbeck ist ein gutes Beispiel für eine solche „gelebte Religion“, denn hier wohnen nach wie vor acht Stiftsdamen in einer christlichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Geleitet wird dieses „Kapitel“, so der Fachausdruck, von Äbtissin Katrin Woitack, die früher selbst Schulpastorin war. „Gerade weil ich selbst lange mit jungen Menschen zum Thema Glauben und Religion gearbeitet habe, liegt es mir sehr am Herzen, hier in Fischbeck solche Begegnungen zu ermöglichen“, erklärt die Äbtissin. Gemeinsam mit dem Religionsteam der Elisabeth-Selbert-Schule hat sie deshalb die Idee für einen Tag im Stift entwickelt. Die dortige Schulleiterin, Gisela Grimme, begrüßt diese Kooperation sehr. Sie kann eigene Erfahrungen mit dem Stift Fischbeck beisteuern: „Mit Schüler*innen aus dem europäischen Ausland, die über das Erasmusprogramm bei uns zu Gast waren, habe ich selbst das Stift Fischbeck besucht“, so erzählt sie. „Wir hatten eine besondere Führung, die uns in die Zeit des Mittelalters versetzte. Bei Kerzenschein und Mondlicht konnten wir das Stift erleben und seine spirituelle Wirkung spüren. So konnten wir den hektischen Alltag mit seinen Sorgen und Ängsten schnell vergessen und in die besondere Atmosphäre des Stiftes eintauchen!“ Auch das Religionsteam der Elisabeth-Selbert-Schule weiß, welchen Schatz das Stift Fischbeck für die Region und die Schüler*innen dort bedeutet. Schulpastorin Bianca Reineke erklärt: „Viele junge Menschen, die eine Berufsbildende Schule besuchen, sind nicht mehr religiös sozialisiert. Hier in Fischbeck wird ihnen die Möglichkeit unmittelbarer religiöser Erfahrungen eröffnet.“ Und die Schüler*innen der Berufsfachschule Persönliche Assistenz haben an diesem Tag im Stift viel Spaß und erleben den einen oder anderen Aha-Effekt: „Ich hätte nie gedacht, dass man in einer Kirche so viel entdecken kann“, sagt einer der Teilnehmer. „Besonders krass finde ich diesen komischen Vogel hier vorne! Was die sich dabei wohl gedacht haben?“, fragt er und zeigt dabei auf das Adlerlesepult aus dem 14. Jahrhundert.


Kirchenrallye und Kirchenführung

An die Fotorallye schließt sich eine kurze Kirchenführung an, bei der die Schüler*innen die von ihnen entdeckten Fotos präsentieren und kurze Informationen dazu erhalten. So erfahren sie, dass das Stift Fischbeck auf eine mehr als 1000-jährige Geschichte zurückblickt und dass auch die Kirche selbst bereits aus dem 12. Jahrhundert stammt. Sie lernen die Funktion der einzelnen Gegenstände in der Kirche kennen. Sie hören von dem Besuch Kaiser Wilhelms II, der 1904 nach Fischbeck kam und für den im Vorfeld die ganze Kirche renoviert wurde. Und sie tauchen dabei auch tief ein in die Vergangenheit. Denn an der Ausstattung der Kirche können die Schüler*innen die Spuren der verschiedenen Epochen und die wechselvolle Geschichte des Gebäudes und seiner Besucher*innen ablesen: Die noch immer sichtbaren Rauchspuren an den Säulen erinnern an den Brand von 1234, das weinende Engelchen in der Krypta schmückte einst einen Kindersarg. Der Tympanon über dem Eingangsportal wirkt nicht nur uralt – er ist es auch, stammt er doch schon aus dem 10. Jahrhundert. Und schließlich bestaunen die Schüler*innen die mittelalterliche Mode der Gräfin Heilwig von der Lippe mit ihrem finster blickenden Gemahl Adolf IV. in Rüstung, dargestellt auf einer Gedenktafel, einem sogenannten Epitaph: Und das soll mal als chic gegolten haben?


Mein Lieblingsort im Stift

Im zweiten Teil des Tages dürfen sich die Teilnehmer*innen bei diesem „Tag im Stift“ frei über das Stiftsgelände bewegen und haben Zeit, ihren ganz persönlichen Lieblingsort zu zeichnen. Dabei entstehen phantasievolle, detailreiche und überraschend realistische Bilder, die sich die Künstler*innen gegenseitig mit viel Stolz präsentieren. So erwachen die alten kirchlichen Traditionen dieses Ortes nochmal auf ganz neue Weise zum Leben. 


Das Fazit: Ein Besuch im Stift Fischbeck lohnt sich

„Es beeindruckt mich immer wieder, wie Kinder und Jugendliche neugierig und ohne Scheu die Kirche erkunden, Details entdecken und stolz sind, wenn sie aktuelle Bezüge herstellen können. Regelmäßig kommen die Schüler*innen der Grundschule Fischbeck zu uns. Sie erzählen selbst die Gründungslegende des Stiftes, die in dem berühmten Fischbecker Wandteppich dargestellt ist, oder erkennen das Wappen der Schaumburger Grafen, das bis heute Stadtwappen ist. Die Kinder, die im Sommer während der Aktion `Ferien(s)pass´ mitgemacht haben, zeigen anderen den Pilgerschritt im Kreuzgang, schildern den Nonnenschlafsaal, riechen miteinander die Kräuter den Kräutergarten und erklären, wie die Stiftsdamen heute leben. Denn: Wer weiß das schon? So begeistern sich Schüler*innen der Grundschulklassen, der weiterführenden Schulen und auch der Berufsbildenden Schulen für vergangenes und gegenwärtiges gelebtes Leben im Stift Fischbeck.

Der Tag im Stift der Berufsfachschule Persönliche Assistenz neigt sich langsam dem Ende zu. Beim Abschied äußern sich alle begeistert von diesem Ausflug – und von der Äbtissin. Eine Schülerin fasst es so zusammen: „Man denkt gar nicht, dass Sie Pastorin sind. Sie sind ja total normal.“ Und die Gruppe ist sich einig: „Hier im Stift Fischbeck ist es richtig schön! Der Besuch hat sich echt gelohnt.“