„Opium fürs Volk“ – Verheißene Traumzeit im Fun-Punk der Toten Hosen

von Thomas Klie

 

Als sich die deutsche Punkrockband „Die Toten Hosen“ 1982 in Düsseldorf formierte, hatte die Punk-Welle ihren Höhepunkt bereits deutlich überschrit­ten. Dessen ungeachtet ist die fünfköp­fige Gruppe um ihren Sänger Andreas Frege (alias Campino) mittlerweile nach mehreren Millionen verkaufter CD‘s, einem Dutzend Gold- und Platinplatten zu einer der erfolgreichsten Bands im deutschen Sprachraum geworden.

Mit ihrer CD „Opium fürs Volk“ (1995) legten sie ein Album vor, das sich explizit mit Religiösem ausein­andersetzt. „Die Texte lesen sich über weite Strecken wie eine Auseinander­setzung ehemaliger Konfirmanden mit ihrem Katechismus“, kommentiert Udo FEIST. 1 „Ein Meisterwerk, musikalisch spritzig und diskursiv, ein fulminanter Sprint zwischen Sinn und Zweifel.“ Und er folgert: „Also, ihr aufgeschlossenen Christenleute, kauft: Hier lassen sich Gespräche beginnen!“

Das Bemerkenswerte ist, daß in diesem Album Religion nicht karikiert wird. In seinem musikalischen Arran­gement dokumentiert sich keine Religi­onskritik (wie etwa in den 70ern), son­dern eine spezifisch spät- oder nach­christliche Spiritualität. Die „Toten Ho­sen“ greifen mit großer Selbstverständ­lichkeit auf christliche Religion zurück, sie bedienen sich ihres Zeichenrepertoi­res und ihrer Ausdrucksformen. Und dies ohne bissige Ironie und Kirchen­häme – es scheint, als begegne hier eine tiefe Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition, mit den eigenen Wurzeln. Die „Toten Hosen“ nehmen ihre Wurzeln wahr und rütteln an ihnen, lassen sie aber da, wo sie sind. Natür­lich wird hier nicht so etwas wie  „Punk-Mission“  betrieben – das hieße, diese Musik und ihr Anliegen überzuin­terpretieren. Die Musik dieser Gruppe ist Teil einer Pop-Kultur, der es um Anderes geht. Nicht zuletzt um Kom­merz und Kaufen.

Dieses Amalgam aus Religion, Life-style-Inszenierung und Konsum soll hier anhand eines Titels aus der Vorgänger-CD mit dem programmati­schen Titel „Kauf mich!“ rekonstruiert werden.
Mit dieser CD präsentierten die „Hosen“ 1993 ihr zweites Album, das in den LP-Charts auf Platz eins notiert wurde. Der Titel „Wünsch DIR was“ ist eine der   drei Single-Auskoppelungen von dieser CD.

 

„Wünsch DIR was

Refr.(Chor):Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft (2x)
In der das Wünschen wieder hilft  (2x)
Wünsch Dir was  (3x)

Ich glaube, daß die Welt sich nochmal ändern wird
Und dann Gut über Böse siegt
Daß irgendjemand uns auf unser‘n Wegen lenkt
Und unser Schicksal in die Hände nimmt

Ja, ich glaube an die Ewigkeit
Und daß jeder jedem mal vergibt
Alle werden wieder voreinander gleich
Jeder kriegt, was er verdient

Ich glaube, daß die Menschheit mal in Frieden lebt
Und es dann wahre Freundschaft gibt
Und der Planet der Liebe wird die Erde sein
Und die Sonne wird sich um uns drehn

Das wird die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft (2x)
In der das Wünschen wieder hilft (2x)

Es wird einmal zu schön, um wahr zu sein
Habt ein letztes Mal Vertrau‘n
Das Hier und Heute ist dann längst vorbei
Wie ein alter böser Traum

Es wird ein großer Sieg für die Gerech­tigkeit
Für Anstand und Moral
Es wird die Wiederauferstehung vom heiligen Geist
Und die vom Weihnachtsmann

Es kommt die Zeit, in der das Wün­schen wieder hilft (2x)
In der das Wünschen wieder hilft
Es kommt die Zeit, in der das Wün­schen wieder hilft
In der das Wünschen wieder hilft  (2x)
Komm und wünsch Dir was.“

„Wünsch DIR was“ gliedert sich nach klassischem Vers-Refrain-Schema. Der Song setzt ein mit dem a capella von einem Kinderchor intonierten hymni­schen Refrain („Es kommt die Zeit...“ ). In ihm klingt leitmotivisch an, was die folgenden fünf Strophen inhaltlich be­stimmt: die Verheißung einer endzeitli­chen Wende, mit der ein neuer Äon heranbricht. Die „Toten Hosen“ erzäh­len also keine Geschichte, sondern sie verkünden eine Botschaft.

Der Text wird weniger gesun­gen als sprachlich skandiert. Der Sprechrhythmus gibt den Takt an, die musikalischen Elemente treten deutlich in den Hintergrund. In den Strophen dominiert die den meisten Rocksongs eigene auf engen Tonraum reduzierte Melodiebildung. Die Relation zwischen der Vertikalen (Harmonik) und den Horizontalen (Melodik) ist hier aufgelöst zugunsten einer stringenten Rhythmi­sierung.2 Die Verdoppelung des klassi­schen Vier-Vierteltaktes durch das Achtelmetrum in der Begleitgitarre verleiht dem Sound einen pulsierenden, treibenden Charakter. Das unterstreicht den motorischen Effekt dieser Musik. Sie vermittelt in ihrer Bezogenheit auf den Text den Eindruck einer immer schneller sich wiederholenden, linear ablaufenden Zeit, die ihr eigenes Ende in hektischer Agonie selbst produziert. Gleichzeitig animiert sie nachgerade zu körperlichem Mitvollzug. Das weist auf die Rock’n Roll-Ursprünge des Punk-Rock hin. Die vielfältigen religiösen Anspielungen im Text finden also in der musikalischen Gestalt ihre Entspre­chung.

Diese Korrespondenzen lassen sich auch im Rahmen der Gesamtkom­position festmachen. Das dreimalige „ich glaube“  bzw. „Ja, ich glaube“ jeweils zu Beginn der ersten drei Stro­phen stilisiert die Aussagen zu einem individuellen Bekenntnisakt (Solo-Ge­sang), an den der Refrain (Band-Tutti) kollektiv-bekräftigend anschließt. In der vierten Strophe wird das Credo-Ele­ment von einer auffordernden Sequenz abgelöst („Habt ein letztes Mal Ver­trau‘n“). Und in der letzten Zeile des Songs heißt es dann:„Komm und wün­sch DIR was“. Musikalisch verbreitert sich der Sound im Refrain bis hin zur Mehrstimmigkeit und fächert sich im Schlußrefrain in eine improvisierte Polyphonie auf. Sowohl der Text als auch die Komposition adressieren also die Botschaft an ein kollektives Subjekt; die Verheißung erfährt eine universale Weitung.

Die „Toten Hosen“ entwerfen ihre eschatologische Vision als eine Mixtur aus allgemein-religiösen Jen­seitsphantasien und biblischen Anlei­hen. Ohne Gott ausdrücklich zu benen­nen, beinhaltet doch die Anspielung auf die Vorsehung in der ersten Strophe ein personales Gegenüber als Herr über (Lebens-)Zeit und Endzeit („daß irgend jemand uns auf unser’n Wegen lenkt und unser Schicksal in die Hände nimmt“). Das offenbarungsledige Zeit­kontinuum kulminiert in einer Nach- und Übergeschichte, in einer Zeit, „in der das Wünschen wieder hilft“. Die hier besungene Spielart des Determi­nismus kommt jedoch ohne Christolo­gie bzw. explizite Aufer­stehungshoff­nung aus. Der Glaube an die bevorste­hende Heil schaffende Zeitenwende ist nicht Folge einer Offenbarung, sondern er legitimiert sich allein dadurch, daß er in emphatischem Gesangsvortrag sich selbst behauptet. Alles menschliche Leben verdankt sich einer voraus­schauenden Fügung und erfährt am Ende der Zeit, auf das die Weltge­schichte und damit auch die Individual­geschichte zuläuft, letztgültige Gerech­tigkeit.

Die 2. Strophe läßt die Vorstel­lung eines endzeitlichen Gerichts erah­nen, ohne daß jedoch dafür ein Wel­tenrichter namhaft gemacht wird. Wichtig erscheint allein das Resultat: „Und dann Gut über Böse siegt“. Die (moralisch) Guten werden ins Recht gesetzt, es wird ein „großer Sieg ... für Anstand und Moral“. In der dann ange­brochenen „Ewigkeit“ werden alle ein­ander vergeben, ja sogar „wieder (!) voreinander gleich“. Das Neu-Werden der Welt ist also weniger Neuschöp­fung, als vielmehr Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands. Die dann eingetretenen paradiesischen Zustände nehmen sogar kosmische Dimensionen an, denn „die Sonne wird sich um uns drehn“.

Das vieldeutige „Jeder kriegt, was er verdient“ läßt allerdings offen, ob hier (womöglich im Sinne eines atl. Tun-Ergehen-Zusammenhangs) eine Bestrafung vorgesehen ist oder sich vielmehr eine Art ausgleichende Ver­söhnung ereignen mag. Bezeichnend für die Zukunftsvision ist, daß hier nicht wie im frühen Punk-Rock eine Gesell­schaftsutopie entworfen wird, sondern sie nimmt vielmehr in prophetischer Schau als Bild eines universellen Friedensreiches Gestalt an. Die feste Hoffnung darauf kommt im Refrain in einer eigentümlichen Verschränkung von Verheißung und Aufforderung zum Ausdruck. Der Zusage „Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft“ folgt unmittelbar das eindringliche Ansuchen „Wünsch DIR was“. Fast klingt es so, als sei die verheißene Zukunft durch eigenes Wünschen im Hier und Jetzt bereits im Hier und Jetzt einzuholen.

Die Sehnsucht nach Gerech­tigkeit speist sich hier nicht aus der Kritik an bestehenden gesellschaftli­chen Verhältnissen, sondern sie mani­festiert sich ganz unvermittelt als ge­wißmachende Verheißung. Die hoff­nungslose Vergangenheit ist in der neuen Welt abgetan „wie ein alter bö­ser Traum“ . Paulus formuliert in 2.Kor 5, 17: „Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist ver­gangen, siehe, ich mache alles neu.“

Der säkularisierte Chiliasmus der „Toten Hosen“ vereinigt in sich zumindest zwei Traditionslinien, die untereinander eine Fülle von Verwei­sungszusammenhängen aufweisen. Zum einen wird hier auf die christliche Reich-Gottes-Hoffnung angespielt, wenn auch ohne messianische bzw. christologische Zuspitzung. Zählt Pau­lus z.B. in Rö 14, 17 Gerechtigkeit, Frieden und Freude zu den Merkmalen des Gottesreiches – so nennen die „Toten Hosen“ Gerechtigkeit, Frieden und Freundschaft.

Ausgleichende Gerechtigkeit und endzeitlicher universaler Frieden etablieren sich auf dem „Planet der Liebe“, jedoch ohne Zutun eines Heilsmittlers. (Im Video- Clip3 zum Song erscheint jedoch an mehreren Stellen eine Christus-Figur!) In der für den Fun-Punk der „Toten Hosen“ typi­schen Form ironischer Zitation er­scheint die Endzeit als „die Wiederauf­erstehung vom Heiligen Geist und die vom Weihnachtsmann“. Die Mehrfach­kodierungen verwischen hier bewußt die feine Linie zwischen Ironie und Affirmation, wobei motivgeschichtlich das Glaubensbekenntnis deutlich anklingt: „die Auferstehung der Toten und das Ewige Leben“.  Sowohl „heiliger Geist“ als auch „Weihnachtsmann“ firmieren hier als Phänomene des alten Äon. Die Zeiten­wende wird durch eine schicksalswirk­same, göttliche Macht zwar herbeige­führt, sie löst sich aber dann in auto­nomer Selbstorganisation freier und gleicher Individuen auf.

Zum anderen werden hier natürlich geradezu „klassisch“ zu nen­nende Punk-Ideale zitiert. Der Sozio­loge Thomas LAU4 definiert: „Punk kennt keine Person oder keinen Perso­nenkreis, der innerhalb der Gemein­schaft eine exponierte Stellung innehat oder diese einzunehmen bereit ist. Alle auf einen einzelnen oder einen über­schaubaren Personenkreis zurückführ­baren Aktivitäten geschehen im Dienste der Gemeinschaft.“ Punk stellte sich immer schon als eine lose Gemein­schaft dar, in der Autonomie, gegensei­tige Toleranz und allgemeine Anarchie als von allen geteilte Lebenshaltung aufrecht gehalten werden. In „Wünsch DIR was“ werden diese Maximen in ein „goldenes Zeitalter“ hineinprojiziert.

Das Phänomen Punk (engl.: Müll, Schund, Zunder) umfaßt von An­beginn an weit mehr als nur eine Art und Weise, Musik zu produzieren bzw. zu rezipieren; es steht für ein ästheti­sches Ensemble, bei dem provozie­rende Normverstöße als expressives Ideal firmieren. Musik ist dabei das Medium, die gesellschaftliche Normali­tät als „schlechten Scherz“ zu entlar­ven, Punk demgegenüber als „besseren Scherz“ in Szene zu setzen. Es gilt, Duldungsgrenzen durch Über­tretungen kenntlich zu machen und dadurch sich des Gegenstands seines Protestes zu vergewissern. „Die Musik wirkte wie ein Nein, das zu einem Ja wurde, dann wieder zum Nein und erneut zum Ja: Nichts ist wahr außer unserer Überzeugung, daß alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist. Wenn nichts wahr war, war alles möglich.“5

Punk-Rock ist laut, schnell, aggressiv und unprätentiös – er wirkt durch seine schnörkellos-zynischen Texte und vor allem in der aktuellen Inszenierung als Bühnenshow („Gig“). Er artikuliert sich in erster Linie als Live-Musik und lebt von der Interaktion mit dem Publikum. Seine provokante Unprofessionalität gilt musikalisch als bewußte Absage an die Rocklegenden der 60er und frühen 70er Jahre, aber auch als schrille Negation kultureller Normen. Der Musikwissenschaftler MARCUS stellt darum den Punk in eine Reihe mit den wichtigsten Avantgarden des 20. Jahrhunderts. In seiner Musik, aber auch in seinen außermusikali­schen Äußerungen gelangten gesell­schaftliche Problemkonstellationen beispielhaft zur Darstellung. Punk stellte dafür eine Sprache zur Verfü­gung, die treffsicher und mit beeindruc­kender Ausdruckskraft formulierte, was in der übrigen Popmusik ausgespart blieb. So ließen die Medien gängige Punk-Metaphern wie „No future“ und „Null Bock“ zu Signaturen einer gan­zen Jugendkultur zu Beginn der 80er Jahre werden.

Aus seinem sozialen Kontext gelöst, gerieten in der Folge die Radi­kalität und das Morbide dieses jugend­lichen Protests in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem durchschnittli­chen Medienereignis. Zum bloßen Spektakel mutiert konnte Punk ver­marktet und auf (austauschbares) Outfit und Musikkonsum reduziert wer­den. „Der radikale Widerstand gegen alle Regeln des Establishments wurde von ebendiesem genüßlich aufgeso­gen.“6 Die ursprüngliche Anti-Mode wurde zur Modeerscheinung, rebelli­sche Attituden zu Accessoires, und Punkmusik erlebte in Deutschland als „Fun-Punk“ ein unerwartetes Come­back.

Der Paradigmenwechsel in der Thematisierung von Zeit und Endzeit könnte kaum deutlicher markiert wer­den als gerade mit dem „Wünsch DIR was“ der „Toten Hosen“. Kommt hier (1993) Zukunft wieder als verheißungs­volle in den Blick, skandierten die engli­schen „Sex Pistols“ (1977) noch kate­gorisch ihr programmatisches „There‘s no future for you“(in „God save the Queen“). In den frühen Texten des Punk waren schroffe Ressentiments gegenüber kollektiven und sinnstiften­den Zukunftsentwürfen gang und gä­be. Es zählte allein das Hier und Jetzt bzw. die anarchische Kritik am gegen­wärtigen System. Freiheit und Selbst­verwirklichung werden dabei nicht auf eine ferne Zukunft projiziert, sondern je aktuell autonom in Szene gesetzt.

Mit der Vermarktung durch eine sensibel reagierende Pop- und Modeindustrie differenzierte sich die Punk-Kultur rasch in unterschiedlichste Stilrichtungen. In Deutschland etablier­ten „Die Ärzte“ und „Die Toten Hosen“ Mitte der 80er Jahre ihre überaus popu­läre Spielart des „Fun-Punk“. Ihre Texte gestalteten sich als ein Vexier­spiel aus anarchistisch-frivolen Passa­gen und spöttischem Zynismus. Trotz ihres Erfolges eignet ihrem musikali­schen Repertoire zu weiten Teilen immer noch der Charme einer punkty­pischen „Everybody-can-do-it-Ästhe­tik“7. Die hohen Verkaufszahlen und die ungebrochene Popularität der „Hosen“ lassen darauf schließen, daß in ihrer Musik das Lebensgefühl einer großen Zahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen seinen sinnenhaf­ten Ausdruck findet. Die Symbolik ihrer Kompositionen bildet ein musikalisches Reservoir für unterschwellige Stimmun­gen und Lebenslagen. Lebensweltli­che Erfahrungen, die Suche nach Au­thentizität, Lebenssinn und lustvoller Spontaneität nimmt der bereitgestellte Artikulationsraum in sich auf und spie­gelt sie in ästhetischer Brechung.

Campino, der Lead-Sänger der Gruppe sagt dazu: „Klar, wir sind unter der Flagge ‚Punkrock‘ gesegelt. Punk war damals der Traditionszusammen­hang, wie der Feuilletonist sagen würde. Aber das war, wenigstens für ein paar Jahre, mehr als ein musikali­sches Lager. Es war eine Haltung, eine Art in den Schuhen zu stehen, die nicht an einen bestimmten Sound gebunden ist. (...) Wir haben unseren eigenen Zusammenhang, unseren eigenen Planeten, und wir folgen den Gesetz­mäßigkeiten, die es dort gibt.“ „Wir waren die Anarcho-Kids der deutschen Punkszene, begründeten gleichzeitig ihre Junior-Liga und das, was man erst später unter ‚Fun-Punk‘ zu sortieren begann.“8

Einen Popsong zum Unter­richts­gegenstand zu machen, heißt zunächst, ihn als eine unmittelbare Erscheinungsform kulturellen Alltags­verhaltens und als Matrix jugendlichen Selbstverständnisses zu thematisieren. „Erst in solchen Kontextbeziehungen, die sich wie ein Bedeutungsfilter vor die Musik legen, werden die im musikali­schen, sprachlichen, gestischen und visuellen Material der Songs enthalte­nen Verweisbeziehungen ausgefiltert.“9 Obwohl Rockmusik insgesamt kaum noch als Vehikel adoleszenten Aufbe­gehrens bzw. Reservoir gegenkulturel­ler Strömungen dient, ist sie doch nach wie vor lebensweltliches Integral ju­gendlichen Selbstverständnisses. In empirischen Untersuchungen zum Freizeitverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen rangiert Musikhö­ren mit signifikanter Betonung von Entspannungs- und Ausgleichs­funktio­nen weit oben auf der Präferenzskala. Mit gewissem Recht resümiert darum HAFEN10 in Bezug auf die didaktischen Voraussetzungen: „Die Beschäftigung mit Rock und Pop hat ohne Zweifel das Odium des Anrüchigen und Aufrühreri­schen verloren.“ Vielmehr nimmt Rockmusik im schulischen Diskurs die Jugendlichen als Rezipienten und Repräsentanten ihrer eigenen Popkultur ernst und nutzt ihr „kulturelles Erfah­rungswissen“ (WICKE). In der Ausein­andersetzung mit einem exponierten Produkt eben dieser Popkultur können die Schüler die Mechanismen und Wirkweisen entdecken, nach denen in medial vermittelten Weltbildern sich möglicherweise eigene Lebensentwürfe widerspiegeln.

Die semantischen Potentiale von Rockmusik erschöpfen sich jedoch nicht allein darin, Vehikel für textliche Botschaften zu sein. Zwar steht die Textaussage eindeutig im Vordergrund, der musikalischen Gestalt eignet jedoch mehr als nur eine rein dienende Funkti­on. Punkrock ist ein komplexes Kon­strukt im Medium des Klangs. Wie jede Form von Musik entwirft er eigene Raumstrukturen und vermittelt so eine intensive zeit-räumliche Erfahrung. Im intensiven Zuhören, das bei der Laut­stärke, in der Rockmusik in aller Regel konsumiert wird, nahezu unvermeidlich ist, fühlt sich der Hörer in einen synthe­tischen Klangraum versetzt. Diese Wahrnehmung besteht zunächst völlig unabhängig davon, ob dieser Raum durch entsprechende Bewegungen (z.B. Tanz) auch faktisch nachvollzogen oder erschlossen wird. Strukturiert wird dieser für die Rezeption eines Liedtextes ausschlaggebende Resonanzraum in erster Linie durch die klanglichen und die rhythmischen Elemente der Musik. In gleicher Weise konstituieren beide Dimensionen auch das Zeitgefühl des Zuhörers; der Sound eines Musik­stückes bestimmt das Koordi­na­tensy­stem der individuellen Zeitwahrneh­mung. „Eben deshalb ist Sound zu einer so zentralen Kategorie in dieser Musik geworden. Gemeint ist damit nichts anderes als das jeweils durch Klang realisierte Zeit-Raum-Gefüge.“11

Ein programmatisch sich auf die Arbeit an und mit Verheißungen einlassender RU findet in den großflä­chigen religiösen Visionen der „Toten Hosen“ eine Fülle von reli­gionsdidakti­sch anregendem Spielmaterial.

 

Anmerkungen

  1. FEIST, Udo/Vaterunser der Toten Hosen. Punk als Quelle der Spiritualität. In: Evangelische Kommentare 4/96; S.234-236 (235).
  2. WICKE, Peter/Vom Umgang mit Popmusik. Berlin 1993, 72.
  3. Die Toten Hosen/Reich und sexy. Ihre 10 erfolgreichsten Videoclips; Virgin 1993.
  4. LAU, Thomas/Die heiligen Narren. Punk 1976-1986. Berlin, New York 1992, 119.
  5. MARCUS, Greil/Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20.Jahrhundert. Hamburg, 3.Auflage 1995, 12.
  6. POSCHARDT, Ulf/DJ-Culture. Hamburg 2.Aufl. 1996, 25.
  7. VOULLIÈME, Helmut/Die Faszination der Rockmusik. Überlegungen aus bildungstheoretischer Perspektive. Opladen 1987.
  8. JOB, Bertram/Bis zum bitteren Ende... Die toten Hosen erzählen ihre Geschichte. Köln 1996, 84 u. 50.
  9. WICKE 1993, 19f.
  10. HAFEN, Roland/Hedonismus und Rockmusik. Eine empirische Studie zum Live-Erlebnis Jugendlicher. In: GEMBRIS, H.; KRAEMER, R.-D.; MAAS, G. (Hrsg.) / Musikpädagogische Forschungsberichte 1992 (Forum Musikpädagogik), Augsburg 1993, S. 200-252, 210.
  11. WICKE 1993, 19.