Mutig – stark – beherzt“: Diese Losung steht über dem Kirchentag, der 2025 in Hannover stattfinden soll. Sie verweist, so sagte es die Kirchentagspräsidentin Anja Siegesmund bei der Vorstellung der Losung, auf die „Aufmerksamkeit und Zuversicht“, mit der „die Kirchentagsbewegung den Krisen und Konflikten unserer Zeit“ begegne; und sie zeige damit zugleich das Ziel des Kirchentags an: „Werden Sie mit uns Mutbotschafter:innen!“1
Diese Vorstellung hat der Losung eine spezifische Sinnrichtung gegeben, die der Wortlaut selbst nicht anzeigt. Das wird gleich am ersten Begriff deutlich. Das deutsche Wort „Mut“ bezeichnet seit dem 16. Jahrhundert vorrangig die „kühne und unerschrockene Haltung gegenüber Wagnis und Gefahr“.2 In der Lutherbibel meint „Mut“ bisweilen auch die Zuversicht, dass etwas gelingen oder gut ausgehen wird (vgl. z.B. Prediger 3,13; Jakobus 5,13). Solch eine Haltung oder Zuversicht kann, wie gerade biblische Texte erkennen lassen, auch fehlgeleitet und/oder unbegründet sein. Das gilt z.B. für den „guten Mut“, den ein reicher Grundbesitzer sich selbst angesichts seiner prall gefüllten Scheunen zuspricht (Lukas 12,19), oder für den frechen Mut, mit dem sich Mächtige gegen Gott und Gottes Volk erheben (Psalm 76,13). Mut ist also nicht schon an sich etwas Positives. Das Gleiche gilt für Stärke. Es ist deshalb wichtig, sich der Bedeutung zu vergewissern, die die Losung des Kirchentages haben soll.
Das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags (DEKT) hat sie aus 1.Korinther 16,13-14 abgeleitet, wo es der Lutherbibel zufolge heißt: „Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle eure Dinge lasset in der Liebe geschehen!“ Die Ableitung hat Christl Maier, Mitglied im Präsidium des DEKT, wie folgt erläutert: „Die hier genannte Liebe … meint eine auf ein gutes Miteinander zielende Haltung, die Andere nicht ausgrenzt und die eigenen Fähigkeiten zum Wohl der Gemeinschaft einsetzt. Für eine solche Haltung steht das Adjektiv ‚beherzt‘ in der Losung und es soll ausdrücken: mit ganzem Herzen, mit klarem Verstand und viel Empathie. Mutig wollen wir beim Kirchentag diskutieren, was ansteht, Krisen und Herausforderungen klar benennen. Innere Stärke für solch ‚beherztes‘ Handeln beziehen wir aus dem Glauben und wir nehmen die biblische Weisung zum Maßstab.“3
Im Folgenden möchte ich dieser Spur folgen und grundlegend danach fragen, was die beiden Sätze aus dem ersten Korintherbrief des Paulus in ihrem literarischen Kontext und ihrem geschichtlichen Entstehungszusammenhang besagen – und welche Impulse sich daraus für die Feier des Kirchentags gewinnen lassen.4
Ort und Textsorte: Zusammenfassende Ermutigung
Die Sätze haben etwas Programmatisches. Sie leiten die paraklēsis ein, die den 1. Korintherbrief gattungsgemäß abschließt. Das griechische Wort paraklēsis wird oft mit „Mahnung“ übersetzt, bezeichnet aber an sich etwas Umfassenderes: ein ebenso zugewandtes wie nachdrückliches „Zureden“, das je nach Zusammenhang auch „Tröstung“ oder „Ermutigung“ meinen kann. Insofern trifft die Rede vom „Mut“ in der Kirchentagslosung durchaus die Intention der paulinischen Sätze.
Dass Paulus mit ihnen seinen Brief zu Ende führt, zeigt sich auch an ihrem engeren Kontext. Die Sätze folgen auf Angaben zu Besuchs- und Reiseplänen (16,5-12), und sie münden in eine Art Empfehlung dreier Personen aus Korinth, die sich bei ihm aufhielten, als er das Schreiben verfasste (16,15-18); vermutlich sollten sie es zurück nach Korinth bringen. Die Verse 16,13-14 dienen in diesem Kontext als knappe Zusammenfassung der Kernbotschaft des Briefes. Daraus eine Losung für eine in sich vielfältige Großveranstaltung wie den Kirchentag abzuleiten, ist also durchaus plausibel – auch wenn diese Losung nicht erst an seinem Ende bekannt gegeben wird. Es ist dann freilich wichtig, dass die einzelnen Bausteine des Kirchentags tatsächlich als Beiträge zur Ermutigung wirken, für die Teilnehmenden und durch sie auch für andere.
Die Situation: Orientierungsbedarf nach innen und außen
Der Brief richtete sich ursprünglich an die Gemeinde im antiken Korinth. Die Stadt lag am Südostende der Landenge zwischen dem griechischen Festland und der Halbinsel Peloponnes. Sie war deshalb seit jeher ein wichtiger Handelsplatz mit großer politischer Bedeutung. Im Römischen Reich war sie zur Hauptstadt der Provinz Achaïa und zum Wohnort einer ethnisch und kulturell vielschichtigen Bevölkerung mit starkem sozialen Gefälle geworden. Demgemäß war das religiöse Leben ebenfalls vielfältig: Zahlreiche griechische, römische und orientalische Kultstätten prägten das Stadtbild, diverse Vereine führten Menschen in kleineren Gruppen zur Verehrung bestimmter Gottheiten zusammen, und auch eine jüdische Synagogengemeinde ist belegt.
Paulus hielt sich im Zuge seiner ersten eigenständigen Missionsreise irgendwann im Zeitraum 50 bis 52 n. Chr. für etwa eineinhalb Jahre in Korinth auf. Ihm und seinem Team gelang es, dort eine kleine Gemeinschaft von Christusgläubigen zu gründen (Apostelgeschichte 18). Ihre Mitgliederzahl nahm im Anschluss anscheinend zu, ohne aber hundert zu überschreiten; jedenfalls konnte sich die ganze Gemeinde in einem Stadthaus versammeln (1.Korinther 11,20; 14,23). Ihre Zusammensetzung spiegelte weithin die städtische Gesellschaft wider: Sie vereinte Angehörige des römischen und des griechischen Kulturkreises (1,14.16), viele Personen nicht-jüdischer (6,11; 12,2) und einige jüdischer Identität (7,18), viele arme, z. T. versklavte und wenige wohlhabende Menschen (1,26; 11,22), Männer und Frauen (7; 11,3-16). Zudem gab es unterschiedliche Vorlieben für je anders geartete Verkündigungsansätze (1,12) und bestimmte geistliche Begabungen (14,26). Das führte zu Spannungen, Streitigkeiten und Gruppenbildungen. Diese betrafen auch die Bezüge zum sozialen Umfeld, etwa die Stellung zu nichtjüdischer Kultpraxis (8,7). Der Umgang mit sexuellen Verfehlungen (5,1-8) und Rechtsstreitigkeiten (6,1-8) ließ es nach dem Urteil des Paulus an Klarheit fehlen; und an manchen Punkten sah er Gemeindeglieder nicht hinreichend von der Verehrung anderer Gottheiten (10,14.20-21) und einer damit verknüpften Denk- und Lebensweise geschieden (6,9-11.18; 15,34). Dabei waren die Christusgläubigen durch persönliche Beziehungen mit diesem Umfeld auf vielfältige Weise vernetzt (5,10; 7,12-13; 10,27). Bisweilen kamen auch Gäste in ihre Gottesdienste (14,23-24).
Diese geschichtliche Situation ist von der des Kirchentags in Hannover natürlich weit entfernt. Dennoch ist es keineswegs abwegig, sein Programm unter die Kernbotschaft des 1. Korintherbriefs zu stellen. Auch der Kirchentag findet unter Bedingungen statt, in denen christusgläubige Menschen Orientierung suchen – dazu, wie sie ihre Gemeinschaft und ihre Rolle in der Gesellschaft angemessen gestalten können. Es ist dann freilich wichtig, dass die Teilnehmenden ihn auch dazu nutzen, diesbezügliche Meinungsverschiedenheiten auszutragen, zu klären, was sie in aller Vielfalt miteinander verbindet, und sich in dieser Verbundenheit stärken zu lassen.
Der Brief: Anleitung zu ‚kirchlicher‘ Identitätsbildung
Paulus verfasste den Brief in Ephesus (1.Korinther 16,8), etwa zwei bis drei Jahre nach seinem Gründungsaufenthalt in Korinth. Er geht anlässlich von Nachrichten, die ihn erreicht haben (1,11; 5,1 u.ö.), auf die genannten Missstände und Spannungen ein und behandelt zudem Fragen aus einem Schreiben, das die Gemeinde ihm geschickt hat (7,1 u.ö.).
Bei aller thematischen Vielfalt ist der 1. Korintherbrief im Ganzen ein einheitlicher Text. Er verfolgt eine Art Bildungsprogramm: Die Christusgläubigen zu Korinth sollen lernen, sich als „Versammlung Gottes“ (1,2) zu verstehen und ihr Dasein, gemeindlich und je für sich, entsprechend zu gestalten. Dazu weist der Brief die Adressaten grundlegend in die durch wechselseitige Treue gekennzeichnete Bundes-„Gemeinschaft“ (1,9, vgl. 5.Mose 7,6-9) ein, die Gott ihnen durch Christus, den Gekreuzigten (1.Korinther 1,23) und Auferstandenen (15,4), gewährt. Zugleich benennt und erläutert Paulus die leitenden Gesichtspunkte, anhand derer sich solche Gemeinschaft verwirklicht: Sie wird konkret
1. in der Orientierung an der Lehre und dem Lebensvollzug des Apostels (4,16; 11,1.2; 12,31),
2. in der ökumenischen Verbundenheit mit anderen christusgläubigen Gemeinden, zumal der in Jerusalem (1,2; 4,17; 7,17; 10,32; 11,16; 14,33; 16,1.19-20),
3. in der Anwendung von Maßstäben, die sich aus dem wechselseitigen Erschließungszusammenhang von Christusbotschaft und „den Schriften“ (unserem heutigen Alten Testament) ergeben (4,6 sowie 1,18-20; 15,54-57 u.v.ö.), sowie
4. im Sich-Ausrichten auf die bevorstehende Heilsvollendung, in der alle gottfeindlichen Mächte, auch der Tod, überwunden sein werden (1,7-8; 15,24-26 u.ö.).
Gerade der Zusammenhang der beiden letztgenannten Punkte ist für die mehrheitlich nicht-jüdische Adressatenschaft des Briefs von Bedeutung: Sie sollen sich selbst neu verstehen im Horizont der Zeitenwende (10,11), die sich mit der Auferweckung Jesu Christi vollzogen hat (15,20-23); und deshalb sollen sie ihr Selbstverständnis und ihre Lebenspraxis an den Kriterien ausrichten, die sich aus der Heiligen Schrift und einer durch sie geprägten Sicht auf die Welt ergeben (3,18-21; 10,1-6 u.ö.).
Die hier nur grob skizzierte briefliche Unterweisung lässt sich nicht ohne weiteres in die heutige Zeit übertragen; das bedürfte einer gründlichen hermeneutischen Reflexion. Gleichwohl ergeben sich aus der geschichtlich bedingten Eigenart des ersten Korintherbriefs wichtige Anregungen für seine Auslegung im Kontext des Kirchentags. Wenn Menschen ihn unter einem aus diesem Brief abgeleiteten Motto feiern, lassen sie sich darauf ein, dabei bestimmten Grundsätzen zu folgen:
1. Christusgläubige treten inmitten zahlreicher, konkurrierender Weltanschauungen als Gemeinschaft in Erscheinung, die Gottes rettendes, Zukunft eröffnendes Handeln in der Welt als Grundlage ihrer eigenen Existenz zur Geltung bringt.
2. Sie bearbeiten innere Spannungen und setzen sich kritisch mit Überlegenheitsansprüchen einzelner Gruppierungen unter ihnen auseinander.
3. Sie wirken entschieden auf die Behebung interner Missstände hin, nicht zuletzt im Bereich der Sexualität.
4. Sie gestalten ihr Dasein zu wechselseitigem Nutzen und lassen ihre Zusammenkünfte als Orte der Gegenwart und Ehre Gottes erkennbar werden.
5. Sie orientieren sich bei alledem an einer biblisch begründeten, auf Gottes heilvolle Zukunft ausgerichteten Auffassung von der Wirklichkeit.
Rahmung und Aufbau: Grundvollzüge des Christenlebens
Die Bildungs-Absicht des Briefs tritt in 1.Korinther 16,13-14 deutlich zutage. Der zusammenfassende Charakter des Abschnitts zeigt sich bereits in seinem Aufbau, den die eigens für den Kirchentag angefertigte Übersetzung klar zu erkennen gibt:
13Bleibt hellwach und aufrecht – im Gottvertrauen – seid stark und zeigt, was in euch steckt! 14Euer Tun und Lassen soll in Liebe geschehen.
Die Mahnungen bzw. Ermutigungen sind zusammengestellt im Rahmen des bei Paulus geläufigen Begriffspaars pistis „Gottvertrauen“ und agapē „Liebe“ (vgl. Galater 5,6 u.ö.).5 Es benennt mit „Gottvertrauen“ den fundamentalen (1.Korinther 2,5) und mit „Liebe“ den letztgültigen (13,13) Grundzug christusgläubiger Existenz, spannt also einen Bogen von ihrer Grundlegung bis zu ihrer erhofften Vollendung. Schon deshalb dürfte die Wendung „im Gottvertrauen“ (entgegen der Texteinteilung in den meisten Kommentaren und Bibelübersetzungen) nicht nur zu „bleibt aufrecht“ gehören, sondern den Horizont für den gesamten ersten Satz bezeichnen. Dafür spricht auch ihre Stellung genau in der Mitte der vier Imperative von Vers 13.6 Alles Tun, zu dem Paulus hier ermutigt, erwächst aus Gottvertrauen, und all dieses Tun zielt auf eine Praxis der Liebe. So sagt er in Kürze, was der Daseinsgestaltung der Briefadressaten Grund und Richtung gibt.
Die gewählte Begrifflichkeit bestätigt das. Pistis ist ein Zentralwort der paulinischen Theologie, auch im 1. Korintherbrief. Üblicherweise wird es in diesem Kontext mit „Glaube“ übersetzt. Das ist aber weithin zu einem Begriff kirchlicher Binnensprache geworden. Die Kirchentagsübersetzung wählt den leichter verständlichen Ausdruck „Gottvertrauen“. Er entspricht zudem gut dem Sinngehalt des griechischen Wortes. Pistis verweist auf Gottes unverbrüchliche Treue (Römer 3,3, vgl. 1.Korinther 1,9; 10,13 u.ö.), die auf Seiten der Menschen ein Vertrauen auf Gottes lebensstiftende Macht begründet, das auch gegen allen Augenschein fest bleiben kann (vgl. Römer 4,17-21). Solches Gottvertrauen entsteht in der Beziehung zu Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen (1.Korinther 2,2-5; 15,12-14); und es befreit von einer verfehlten Orientierung an allzu menschlichen Vorstellungen von Weisheit und Stärke (1,20-21). Wie am Kreuz Christi sichtbar wird, entzieht sich Gottes Weisheit den Maßstäben weltlicher Logik und wirkt Gottes Stärke gerade inmitten menschlicher Schwäche. Im Sinne des Paulus führt Gottvertrauen also zu einer kritischen Auseinandersetzung – mit der eigenen Wahrnehmung der Welt ebenso wie mit den Werten, die in der eigenen Gesellschaft gerade populär sind.
Auch agapē gehört zum Kernbestand der Sprache des Paulus. Die Übersetzung „Liebe“ steht jedoch ihrerseits in der Gefahr, eine verkürzte, vielleicht sogar verfehlte Vorstellung von dem zu wecken, was der biblische Text meint. Der griechische Begriff bezeichnet die freie, wertschätzende, unbedingte, zum Leben helfende Zuwendung zum Gegenüber. Die Aspekte des Gefühls und der Gegenseitigkeit, die den deutschen Ausdruck mitprägen, enthält das Wort agapē gerade nicht.7 Es eignet sich daher in besonderer Weise dazu, Gottes Zuwendung zur Welt zur Sprache zu bringen – und dann auch die menschliche „Liebe“, die im Kraftfeld dieser göttlichen Zuwendung möglich wird. Paulus stimmt in 12,31-13,13 ein Loblied auf die agapē an. Mit ihm legt er dar, warum sie das entscheidende Kriterium ist, anhand dessen Gemeindeglieder ihr Verhalten gegenüber anderen zu beurteilen haben: Sie ist Merkmal der Güte Gottes und der Selbsthingabe Christi; sie widersteht dem Bösen und fördert das Zusammenleben in der Gemeinschaft; und durch sie wirkt die endzeitliche Vollendung bereits in die Gegenwart hinein. Das lässt sich im Deutschen kaum auf einen Begriff bringen. So behält die Kirchentagsübersetzung das in der Tradition verankerte Wort „Liebe“ bei. Es ist nur wichtig, es dann auch so zu gebrauchen, dass der Sinngehalt seiner griechischen Basis deutlich wird.
Dass die Losung des Kirchentags die zentralen Begriffe ihres Referenztextes nicht explizit aufgreift, ist fragwürdig. Andererseits kann es unter Umständen durchaus hilfreich sein, auf eine eindeutig religiöse Ausdrucksweise zu verzichten. Paulus tut das in seinem Loblied auf die agapē auch; von Gott oder Christus etwa ist dort mit keinem Wort die Rede – und doch sind beide implizit durchgängig präsent. So steht zu hoffen, dass auch der Kirchentag die Teilnehmenden in ein wahrnehmungs- und gesellschaftskritisches Vertrauen auf Gottes lebensstiftende Macht und eine freie, wertschätzende, zum Leben helfende Zuwendung zum Gegenüber hineinführt.
Die Konkretion: Kernaufgaben christengemeindlicher Existenz
Auch für die Aufforderungen, die Paulus im Horizont von Gottvertrauen und Liebe ausspricht, ist der Blick auf das Griechische bedeutsam. Die ersten beiden werden meist mit „wachet / seid wachsam“ und „steht (fest)“ übersetzt. Das greift zu kurz. Die verwendeten Verben grēgoreō und stēkō sind Neubildungen zu den Perfektformen von egeiromai „aufwachen / sich aufrichten“ und histamai „sich hinstellen“. Als solche zeigen sie an, dass das Ergebnis des Sich-Aufrichtens bzw. Sich-Hinstellens andauert. In der Kirchentagsübersetzung sind deshalb beide Aufforderungen mit „bleibt …“ formuliert. Dabei geht es jeweils um vielschichtige Vorgänge. Mit „wachen“ ist durchaus auch die wachsame Ausrichtung auf die endzeitliche Vollendung (in Gericht und Rettung) gemeint (vgl. Markus 13,35 u.ö.). Gemäß 1.Thessalonicher 5,6 lässt sich das Wort jedoch nicht auf diesen Sinn einschränken. Es geht vielmehr um ein unablässiges, hellwaches, kritisches Wahrnehmen des Weltgeschehens und ein ebensolches Achten darauf, durch die eigene Lebensführung das Gottvertrauen, die von Gott gestiftete Liebe und die Hoffnung auf Gottes Heilszusage inmitten dieses Weltgeschehens zur Geltung bringen (vgl. 1.Thessalonicher 5,3-9). „Stehen“ wiederum meint in der Tat ein Festhalten am Gottvertrauen. Darüber hinaus bezeichnet das Wort aber auch das aufrechte Einstehen für die Wahrheit des Evangeliums, in der Auseinandersetzung mit innerkirchlichen Irrtümern (vgl. Galater 5,1) ebenso wie im Streit mit Gegnern des Glaubens (vgl. Philipper 1,27-28).
Die Kombination der beiden Aufrufe am Ende von 1.Korinther 16,13 erinnert dann an die Schlussverse der Psalmen 27 und 31. Das wird besonders deutlich anhand der griechischen (einer anderen Zählung folgenden) Textfassung der Psalmen, auf die Paulus zurückgriff. An beiden Stellen erfolgt die abschließende Mahnung im Kontext einer Klage über heftige Bedrängnis – und verbindet sich daher mit Vertrauens- und Bekenntnis-Aussagen. So heißt es in Psalm 27(26),13-14: „Ich vertraue darauf, dass ich die Güter des Herrn sehen werde im Land von Lebendigen. Harre auf den Herrn …!“ Und in Psalm 31(30),24-25 ergeht der Appell: „Liebt den Herrn, alle, die ihr in seinem Dienst steht …, alle, die ihr auf den Herrn hofft“. Dass Paulus den Ruf, „stark zu sein“ (krataiousthe), in den Zusammenhang von Gottvertrauen und Liebe stellt, hat also biblische Wurzeln; und dieser Zusammenhang verleiht den paulinischen Worten einen besonderen Klang. Das gilt erst recht für die letzte Ermunterung. Bei dem Bildwort andrizomai (das wörtlich etwa mit „mannhaft sein“ zu übersetzen wäre) geht es nicht nur um Mut oder Tapferkeit (so die meisten Bibelübersetzungen), sondern in der Vielfalt der Aspekte des antiken Männlichkeitsideals darum, „seinen Mann zu stehen“, „sich als Mann zu erweisen“. Das schließt Charakterfestigkeit, Klugheit, Zuverlässigkeit und Anstand ebenso ein wie Mut. Die Kirchentagsübersetzung gibt diesen Gedanken ohne geschlechtliche Eingrenzung mit „zeigt, was in euch steckt“ wieder. Sie möchte damit auch den paulinischen Grundsatz zur Geltung bringen, dass in Christus Mann und Frau ihrem Status nach gleichgestellt sind (Galater 3,28). Um im deutschen Text zugleich den logischen Zusammenhang der beiden Aufrufe am Ende von 1.Korinther 16,13 erkennbar zu machen, wurde ihre Reihenfolge gegenüber dem griechischen Original vertauscht.
Inmitten des Weltgeschehens hellwach und aufrecht bleiben, stark sein und sichtbar machen, wozu Gott den Menschen befähigt und bestimmt hat – zu solcher Daseinsgestaltung auf dem Fundament des Gottvertrauens ruft Paulus am Ende des 1. Korintherbriefs auf. Die Losung des Kirchentags bringt das gattungsgemäß stark verkürzt zur Sprache. Der biblische Bezugstext sollte aber dazu anleiten, auf dem Kirchentag eingehend zu besprechen, wie „Mut“ und „Stärke“ biblisch verstanden, gewonnen und eingeübt werden können.
Das gilt erst recht für die Rede von Beherztheit. Der Ausdruck ist den meisten Bibelübersetzungen fremd und lässt seinem Wortsinn nach kaum an eine Haltung der Liebe denken.8 Andererseits ist, wie oben dargelegt, auch der Begriff „Liebe“ nur bedingt geeignet, die biblische Bedeutung des griechischen agapē wiederzugeben. Umso wichtiger ist es, den besonderen Ton wahrzunehmen, der der paulinischen Ermutigung in 16,14 eignet. Sie eröffnet einen weiten, universalen Horizont. Dabei verweist sie nicht einfach auf „alles bei euch“ (so lauten viele Übersetzungen). Der griechische Ausdruck panta hymōn (wörtlich „alles, was euer ist“) erinnert an 3,21-22 und damit an die Souveränität, die die Christusbeziehung den Adressaten im Umgang mit innergemeindlichen und innerweltlichen Beziehungen verleiht. Die Formulierung, alles „solle geschehen“, weist zudem auf die Bemerkungen in 14,26.40 zurück. Diese rahmen die Erörterung der Frage, ob und wie die verschiedenen Geistesgaben in der Gemeindeversammlung zum Einsatz kommen sollen. Der Rückverweis unterstreicht, dass der Appell 16,14 neben einem aus der agapē hervorgehenden, durch die agapē bestimmten, die agapē verwirklichenden Tun auch ein aus der agapē hervorgehendes, durch die agapē bestimmtes, die agapē verwirklichendes Unterlassen empfiehlt. Und dem Zusammenhang mit 16,13 gemäß geht es dabei nicht nur um gemeindeinterne Angelegenheiten, sondern auch um das Leben in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Hier wie dort gilt es also, aus der Verbindung mit Christus heraus zwischenmenschliche Beziehungen so zu gestalten, dass allen Beteiligten Freiheit, Wertschätzung, Zuwendung und Hilfe zuteilwird. Wenn der Kirchentag das in seinen Veranstaltungen beherzt zur Geltung bringt, wird er seiner Losung gerecht.
Anmerkungen
- Pressemitteilung des Deutschen Evangelischen Kirchentags vom 23.10.2023, https://kurzlinks.de/df4i (18.10.2024).
- Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 903.
- Maier, Christl M., mutig – stark – beherzt (1 Kor 16,13-14), 8.
- Methodologisch folge ich damit der von Ulrich Luz konzipierten Orientierung am „Richtungssinn“ der biblischen Texte (vgl. Luz: Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte, 504; ferner Luz: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, 22f.519f.). In der Sache beziehe ich mich fortlaufend auf meinen Beitrag: Was unserem Leben Grund und Richtung gibt – 1. Korinther 16,13-14, der Teil der Exegetischen Skizzen zu den Biblischen Texten für den DEKT 2025 ist (s. https://www.kirchentag.de/service/downloads/publikationen); vgl. ferner meinen Kommentar: Der erste Brief an die Korinther.
- Oft tritt elpis „Hoffnung“ als dritte Größe hinzu, vgl. 1.Thessalonicher 1,3 u.ö.
- Im Übrigen drückt Paulus ein „Im-Glauben-Stehen“ mit etwas anderen griechischen Formulierungen aus (vgl. Römer 11,20; 2.Korinther 1,24).
- Im Griechischen gibt es dafür andere Begriffe: erōs und philia.
- Siehe oben bei Fn 3. Ich finde den Ausdruck einmal in der Elberfelder Bibel (Amos 2,16: Und der Beherzteste unter den Helden flieht nackt an jenem Tag, spricht der HERR.), zweimal in der Bibel in gerechter Sprache (Zefanja 3, 17: Ha-Schem, dein Gott, ist in deiner Mitte und rettet dich beherzt … 2.Makkabäer 14, 43: … Schon drückten die Massen von draußen die Türflügel ein, da stieg er beherzt auf die Mauer und stürzte sich selbst mutig herab in die Mengen.), einmal in der Neuen evangelischen Übersetzung (2.Chronik 26,17: Doch der Priester Asarja ging hinter ihm her, und 80 Priester Jahwes kamen mit ihm, lauter beherzte Männer.). Keine dieser Stellen gibt einen Anhaltspunkt dafür, unter „beherzt“ etwas anderes zu verstehen als „mutig, entschlossen“, wie es das Etymologische Wörterbuch unter dem Stichwort „Herz“ angibt (536).
Literatur
- Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, Lizenzausgabe Edition Kramer Lahnstein 2018.
- Maier, Christl M.: mutig – stark – beherzt (1 Kor 16,13-14). Annäherung an die Texte zur Losung des Kirchentages 2025, in: Bewegend. Journal für die Freundinnen und Freunde des Deutschen Evangelischen Kirchentages 2/2023, https://kurzlinks.de/vj8s (18.10.2024), 8-9
- Luz, Ulrich: Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte, in: Evangelische Theologie [42] 1982, 493-518
- Luz, Ulrich: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014
- Wilk, Florian: Was unserem Leben Grund und Richtung gibt – 1. Korinther 16,13-14
- Wilk, Florian: Der erste Brief an die Korinther, Neues Testament Deutsch 7/1, Göttingen 2023