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Von und mit Empowerment lernen - Fragen und Impulse (auch) für religiöse Bildungsprozesse

von Michael Domsgen

Empowerment-sensibles Unterrichten

 

Wer sich auf Empowerment einlässt, öffnet Türen. Sie führen in ganz unterschiedliche Räume, in denen angeregt diskutiert wird über Macht und Ohnmacht, über Mut und Stärke, über Befähigung und Bevollmächtigung. Das alles ist kein Selbstzweck, sondern hat eine klare Zielrichtung. Es geht darum, wie Menschen die Möglichkeiten erweitern können, ihr Leben zu bestimmen, und wie Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit unterstützt werden können.

Was hier verkürzt und schlagwortartig zur Sprache kommt, erinnert an eine zentrale Dimension dessen, was traditionellerweise als „Evangelium“ bezeichnet wird. Denn dabei geht es letztlich darum, dass Menschen aufgerichtet und neu ausgerichtet werden, um eine Formulierung aus der Konkordienformel zu gebrauchen. Warum also nicht beides zusammendenken und voneinander lernen? Das ist – kurz gefasst – die Grundidee, die hinter dem Vorhaben steckt, von und mit Empowerment zu lernen.

Wer mittels von Begriffen neue Diskursfelder in die Religionspädagogik einspielt, sollte gute Gründe dafür haben. Das gilt im Besonderen für Empowerment, verbinden sich doch damit neben aller unmittelbaren Evidenz gewichtige Nachfragen, die sehr ernst zu nehmen sind. Deshalb steht zu Beginn die Auskunft darüber, was mich dazu veranlasst hat, eine Theorie religiöser Bildung, Erziehung und Sozialisation zu entwerfen, die in der Auseinandersetzung mit Empowerment-Diskursen profiliert wurde.1 Im zweiten Schritt erläutere ich, welche Aspekte dadurch eingespielt werden, um abschließend in Form von kurzen Thesen danach zu fragen, was sich in handlungsorientierender Weise daraus ergeben kann.

Von Empowerment lernen: Warum und wofür eigentlich?

Wenn ich mit Lehrkräften im Religionsunterricht oder Verantwortlichen im Feld kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit spreche, dann wird mir seit einigen Jahren verstärkt berichtet, dass etwas „nicht mehr“ funktioniere. Was dann an unterschiedlichen Problemlagen zu Tage tritt, lässt sich treffend mit den Stichworten des Selbstverständlichkeits- und Relevanzverlusts bezeichnen. Vor allem das Christentum hat in Deutschland und weiten Teilen der westlichen Welt massiv an Bedeutung verloren. War es über eine lange Zeit hinweg (regional unterschiedlich stark) das Medium schlechthin, das unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit bestimmte, so hat sich das inzwischen deutlich verändert. Im Bild gesprochen: Die christliche Brille, durch die die Gesellschaft lange Zeit schaute, dominiert nicht mehr. Sie ist zu einer neben anderen geworden. Fachsprachlich formuliert: „Das Christentum transformierte sich vom Medium, das die Wirklichkeitskeitswahrnehmung als solche formierte, zum Gegenstand. Das heutige Medium ist (jedenfalls im Allgemeinen und cum grano salis) ein säkulares, im Ansatz naturwissenschaftlich imprägniertes, aber oft transempirisch angereichertes Wirklichkeitsbewusstsein einer Welt ohne inhärente, kosmische Sinnstruktur.“2 Die damit verbundenen Entwicklungen sind so grundlegend, dass bisher kaum hinterfragte Gewissheiten ins Wanken geraten sind. Damit einher gehen auch die von vielen Lehrkräften beobachtete Brüchigkeit, Fluidität und Vielgestaltigkeit von Lernwegen. Die Annäherung an das Christliche versteht sich für die meisten Menschen nicht mehr von selbst. Sie muss initiiert und – was ebenso wichtig ist – im Laufe der Lebensgeschichte auch immer wieder neu angebahnt werden.

Mit solchen Herausforderungen hat sich die deutsche Religionspädagogik (zumindest in der alten Bundesrepublik) bisher kaum oder gar nicht beschäftigen müssen, weil sie im kulturellen Rückenwind einer christentümlichen Gesellschaft agierte. Nun aber wird der Kontext tendenziell säkular und durchgehend plural bestimmt. Zum religiösen Lernen muss eine Person immer erst gewonnen und im Laufe der Lebensgeschichte auch immer wieder neu gewonnen werden. Das wiederum verstärkt den Druck, Lernprozesse selbstevident zu gestalten und mit Resistenz den Widrigkeiten gegenüber auszustatten, die sich daraus ergeben, dass etwas nicht selbstverständlich ist. Dazu gehört auch, sie so zu profilieren, dass Menschen etwas davon haben, auch wenn sie sich nicht zu einem vertrauensvollen Sich-Einlassen im Modus des Glaubens entschließen können oder wollen. In christlicher Perspektive bedeutet das zum Beispiel, dass Menschen im Lernen von (christlicher) Religion an der Grundrichtung partizipieren können, die darin angelegt ist, Menschen aufzurichten und neu auszurichten. Das kann beispielsweise geschehen, indem sie sich ermutigt erleben, ihr Leben selbständig zu gestalten und ihre Kräfte in Solidarität mit anderen einzusetzen, indem sie sich mit der christlichen Lebensform auseinandersetzen.

Dahinter steht ein Verständnis christlicher Religion als Lebensform. Sie existiert allerdings nicht einfach, sondern bewegt sich in der Spannung aus vorgegebener Gestalt und aufgetragener Gestaltung. Die gegenwärtigen Herausforderungen sind also von vornherein mit einzubeziehen. Biblisch-theologisch fokussieren lässt sich das in der synoptisch überlieferten Rückfrage Jesu „Was willst Du, dass ich für Dich tun soll?“ (Mk 10,51; Mt 20,32, Lk 18,41). Damit kommt das Gegenüber als Gesprächspartner*in in den Blick. Seine Stimme bekommt Raum. Seine Wünsche und Bedürfnisse werden nicht einfach vorausgesetzt, sondern aufmerksam erfragt. Diese Grundhaltung ist einzubetten in die Grundrichtung dessen, was mit dem Evangelium verbunden ist. Es geht dabei nicht nur um Selbststeigerung und Autonomiezuwachs im allgemeinen Sinn, sondern vor allem um eine spezifische Form davon, um eine eigene Form von Selbstfindung. Bestimmt wird sie in der Relation von Mensch und Gott, wodurch der Mensch sich selbst neu sieht und in eine aufrichtende Grundbewegung hineingenommen wird.

Mit Empowerment lernen: Wie geht das, und worauf wird dadurch unser Blick gelenkt?

Zu Empowerment gäbe es viel zu sagen.3 Schon der Ursprung im nordamerikanischen Kontext polarisiert. „Die Linke benutzte Empowerment, um politischen Widerstand zu mobilisieren, die Rechte, um ökonomisch rationale und unternehmerische Akteure zu erzeugen.“4 Der Begriff ist ideologieanfällig, gar keine Frage. Das ist durchgängig zu reflektieren und immer wieder kritisch in Anschlag zu bringen. Zugleich bieten einige mit diesem Begriff verbundene Diskurse ein großes Potenzial im Suchen nach dem Verständnis und der Profilierung von Bildungsprozessen, die als hilfreich und lebensdienlich wahrgenommen werden können. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die bildungstheoretisch reflektiert wurden. Sie können als Vordenkerinnen gelesen werden mit Blick auf Lernprozesse jenseits von Selbstverständlichkeiten. Zugleich lassen sich damit auch Aspekte thematisieren, die theologisch anschlussfähig sind, aber bisher zu wenig im Blick waren. Das betrifft Machtfragen genauso wie die Sichtbarmachung marginalisierter Gruppen. Professionstheoretisch gewendet zielt Empowerment auf Lebenshilfe, die Menschen befähigt, ihr Leben selbständig zu gestalten und ihre Kräfte solidarisch einzusetzen. Dafür braucht es bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen auf der einen Seite sowie Kraft, Macht und Mut auf der anderen. Wer Empowerment thematisiert, schaut sowohl auf die Ressourcen des Einzelnen, also den persönlichen Möglichkeitsraum, wie auch auf die Ressourcen, die dafür überindividuell zur Verfügung stehen, also den strukturellen Möglichkeitsraum. In beiden Dimensionen kann und muss eine praktisch-theologische Perspektive sowohl allgemeine als auch spezifisch christliche Ressourcen erforschen.

Wichtige Impulse, die auch religionspädagogisch bedeutsam sind, lassen sich aus der Gemeindepsychologie, der Theorie Sozialer Arbeit, den Disability Studies sowie der Kritischen Pädagogik gewinnen.5 Wenn eine Lebensform attraktiv sein soll für Menschen, ohne dass man dabei auf Strukturen zurückgreifen kann, die das permanent unterstützen, dann muss besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, wenn damit die „Möglichkeiten“ erweitert werden, das eigene „Leben zu bestimmen“, wie Julian Rappaport, der Begründer der Gemeindepsychologie, prägnant formuliert. Dafür gibt es nicht die eine Lösung, sondern viele Lösungen, die individuell und regional unterschiedlich ausfallen, je nach Gegebenheiten in verschiedenen Orten, Kontexten und Nachbarschaften. Die Community und damit die Relevanz für das gemeinsame Zusammenleben rücken auf diese Weise neu in das Blickfeld.

Für das Verständnis und die Arbeit der dabei agierenden Professionals ist der damit gesetzte Richtungssinn von großer Bedeutung, wie sich in der Theorie Sozialer Arbeit gut lernen lässt. Handlungsorientierend lässt sich dies im Begriffspaar von Befähigung und Bevollmächtigung (Georg Bucher) schlagwortartig benennen. Auch religiöse Impulse brauchen Wirksamkeits- und Relevanzerfahrungen, die sowohl individualpsychologisch wie strukturell ausgerichtet sein müssen. Beides gibt es nur im Rahmen von Partizipation.

Was das konkret heißt und wie wichtig dabei Prozesse der Selbst-Aneignung von Lebensgestaltungskräften sind, lässt sich im Diskurs der Disability Studies lernen. Als übergeordnetes Ziel fungiert dabei „‚Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs-, und Solidaritätsfähigkeit‘“ (Georg Theunissen), die unterstützt und entfaltet werden soll. Sehr pointiert wird dabei auf Stärken und Ressourcen verwiesen, an die es anzuknüpfen gilt, um einer häufig anzutreffenden Defizit-Perspektive entgegentreten zu können. Damit wird auf etwas sehr Wichtiges hingewiesen. Zugleich gilt jedoch: „Nur wo Ohnmachtserfahrungen nicht als unwirklich abgetan werden, kann Ermächtigung verwirklicht werden.“ (Ulf Liedke)

Eine wesentliche Rolle spielen hier strukturelle Aspekte. In der Kritischen Pädagogik werden in Auseinandersetzung mit Arbeiten von Paulo Freire solche Fragen nach dem Zusammenhang von Bildung und kulturellen, gesellschaftlichen und insbesondere ökonomischen Strukturen im Begriff des Empowerments gebündelt fokussiert. Machtfragen werden aufgerufen, aber auch diejenigen nach Ermutigung und dem Umgang mit Konflikten.

Eindrücklich wird in Empowerment-Diskursen darauf verwiesen, dass das, was Menschen brauchen, nicht einfach feststeht. Es ergibt sich vielmehr erst in der konkreten Interaktion mit ihnen. Deshalb ist größte Vorsicht vor verallgemeinernden Aussagen angebracht. Empowerment-Diskurse lassen sich professionstheoretisch als Reflexionen auf Assistenz lesen und können dazu beitragen, besser zu verstehen und zu beschreiben, was es heißt, bei Lernprozessen in Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Christlichen zu assistieren.

Von und mit Empowerment lernen: Was ergibt sich daraus für religiöse Bildung?

Empowerment als regulative Idee auch handlungsorientierend fruchtbar zu machen, bedeutet zunächst einmal, die vorliegenden bildungstheoretischen Einordnungen spezifisch zu akzentuieren und zu erweitern. Dazu gehört eine besondere Sensibilität für die Notwendigkeit unterstützender Impulse beim religiösen Lernen. Dem korrespondiert eine Konzentration auf Fragen der Lebensbewältigung. Damit wird nicht einfach eine Fremdzuschreibung eingetragen, sondern eine zentrale Dimension des Christlichen zum Vorschein gebracht. Das Evangelium zielt darauf, Menschen in einer „daseinsmächtigen Lebensführung“ (Dieter Röh) zu bestärken. Es ist nicht nur reine Innerlichkeit, die verbal nach außen drängt, sondern hat unterschiedliche Grundmodi, die neben der spirituellen Komponente auch die soziale, emotionale, kognitive und somatische umfassen, um nur einiges zu nennen.

Die Gestaltgebungen des Evangeliums können und sollen für Menschen die Möglichkeiten erweitern, „ihr Leben zu bestimmen“ (Julian Rappaport). Neben bestimmten Fähigkeiten braucht es dafür das Moment der Ermächtigung. Man könnte es lerntheoretisch als Aneignung oder auch Ausprobieren des Gelernten bezeichnen, was wiederum aufs Engste mit strukturellen Fragen verbunden ist.

Wer Empowerment ernst nimmt, muss damit umgehen, dass es „keine feststehenden Interessen oder Bedürfnislagen“ mehr gibt, „die auf ebenso fixierte religiöse Angebote oder religiöse Organisiertheit stoßen“6. Der religiöse Mensch (der homo religiosus) bildete lange den entscheidenden Adressierungsfokus evangelischer Bildungsarbeit. Das jedoch erweist sich als fragil und wenig belastbar. Viel spricht dafür, Menschen in ihrer Verletzlichkeit zu adressieren, die bei der Bewältigung ihres Lebens unterstützend zu begleiten sind. Positiv gewendet: „Jeder ist von Gott mit Fähigkeiten ausgestattet und soll sich damit zum Nutzen aller in der Gesellschaft einbringen ... Anders gesagt: Ich bin von Gott mit mir selbst beschenkt und kann dieses Geschenk meiner selbst weiterverschenken.“7 

Die religionsdidaktischen Implikationen, die sich aus einer solchen Grundlegung erleben, können hier nur angedeutet werden. Ich will es im Bild des Jongleurs verdichten und fokussiere damit das Handeln der Lehrkraft. So wie sich das Jonglieren durch aufeinander aufbauende Übungen erlernen lässt , verhält es sich auch mit einem Empowerment-sensiblen Unterrichten. Zunächst gilt es, sich die einzelnen Elemente zu vergegenwärtigen und in ihrem unterrichtlichen Gehalt zu verstehen. Wenn ich z.B. Ernst mache mit Theunissens Zielhorizonten der „Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit“ dann ergeben sich daraus kritische Rückfragen für das eigene Unterrichten: Haben in meinem Unterricht alle Schüler*innen die Möglichkeit zur Partizipation? Gibt es Momente, in denen sie selbstbestimmt Entscheidungen treffen und Schwerpunkte setzen können? Biete ich genügend Möglichkeiten, dass Schüler*innen von- und miteinander lernen können?

Die einzelnen Empowerment-Aspekte werden sich nicht immer alle gleichzeitig realisieren lassen. Es geht um begründete Schwerpunktsetzungen. Entscheidend ist, dass die Lehrkraft weiß, was sie in bestimmten Momenten zu tun hat und was sie lassen kann, weil es gerade nicht dran ist. Es ist ein bisschen wie beim Jonglieren: Nicht immer sind alle Bälle im selben Moment im Blickfeld, aber alle sind im Spiel und ermöglichen so ein faszinierendes Gesamtbild.

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Domsgen, Religionspädagogik.
  2. Evers, Plurale Positionalität, 79.
  3. Vgl. dazu als ersten, instruktiven Überblick: Bucher, Empowerment.
  4. Bröckling, You Are Not Responsible for Being Down, 325, zit. n. Bucher, Empowerment.
  5. Vgl. dazu die grundlegende Analyse bei Bucher, Befähigung und Bevollmächtigung, 228-326.
  6. Wegner, Substanzielles Christentum, Substanzielles, 69.
  7. A.a.O., 14.
  8. Wer es mal probieren möchte, hier eine Anleitung: www.jonglierprofi.de/jonglieren-mit-3-bällen/ (28.08.24).

Literatur

  • Bröckling, Ulrich: You Are Not Responsible for Being Down, But You Are Resonsible for Getting Up. Über Empowerment, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 31(2003) 3, 323-344
  • Bucher, Georg: Befähigung und Bevollmächtigung. Interpretative Vermittlungen zwischen allgemeinem Priestertum und empowerment-Konzeptionen in religionspädagogischer Perspektive, Leipzig 2021
  • Bucher, Georg: Empowerment, in: WiReLex 2024, unter: https://kurzlinks.de/ualq (12.11.24)
  • Domsgen, Michael: Religionspädagogik, Leipzig 2019
  • Evers, Dirk: Plurale Positionalität. Fünf Impulse für einen konfessionellen Religionsunterricht aus systematisch-theologischer Perspektive, in: Domsgen, Michael / Witten, Ulrike (Hg.): Religionsunterricht im Plausibilisierungsstress. Interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen, Bielefeld 2022, 73-84
  • Wegner, Gerhard: Substanzielles Christentum. Soziotheologische Erkundungen, Leipzig 2022
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