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Auf dem Weg zu einer Hermeneutik der interreligiösen Erschließung heiliger Schriften

von Mouhanad Khorchide

 

Bei der interreligiösen Erschließung heiliger Schriften der drei abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, geht es darum, diese Schriften durch Angehörige der drei Religionen als Sendungen an sie alle zu würdigen. Konkret bedeutet dies, dass Muslim*innen die hebräische Bibel und das Neue Testament als Offenbarungen1 Gottes lesen, die auch ihnen etwas sagen wollen und sie somit ebenfalls etwas angehen. Dies gilt ebenfalls für Christen in Bezug auf die hebräische Bibel und den Qur’an sowie für Juden hinsichtlich des Neuen Testaments und des Qur’an. Diese Schriften werden nicht als fremde Schriften, die den „anderen“ gehören, mit einer nicht zu überwindenden Distanz gelesen, sondern als die eigenen, denen man sich öffnet und zulässt, sich von ihnen erreichen und sogar berühren zu lassen. Daher ist hier die Rede von der interreligiösen Erschließung heiliger Schriften. Man behandelt sie als die eigene Offenbarung, durch die Gott uns allen etwas sagen will. Diese Verkündigungen wollen nicht jeweils nur den Angehörigen einer der drei Religionen etwas sagen, sondern allen.


Drei Religionen – ein Gott

Eine Hermeneutik der interreligiösen Erschließung heiliger Schriften geht von folgender Prämisse als theologische Vorentscheidung aus: Gott hat sich auf vielfältige Weise offenbart, daher stellen die hebräische Bibel (Tanakh), die Bibel und der Qur’an Sendungen Gottes dar. Diese haben unterschiedliche historische Hintergründe und gehen auf unterschiedliche Fragen und Entwicklungen ihrer jeweiligen Zeit ein. Daher sind diese historischen Kontexte konstitutiv für Gottesverkündigungen, die nichts anderes darstellen als Gottes Rede in Menschenwort und daher keineswegs als ahistorische verbalinspirierte Worte Gottes (miss)verstanden werden dürfen.

Wenn sich allerdings ein und derselbe Gott auf unterschiedliche Weise offenbart, wird er sich nicht auf eine widersprüchliche Art und Weise zu erkennen geben. Alle drei heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen verkünden daher dieselbe Kernbotschaft, auch wenn sich deren Entstehungskontexte sowie Erstadressaten stark voneinander unterscheiden.

Unter dieser Prämisse geht es keineswegs um eine religionstheologische Vorentscheidung über den Wahrheitswert anderer Religionen, aber es geht dennoch darum, die hebräische Bibel, die Bibel und den Qur’an als Verkündigungen Gottes zu würdigen.
Im Folgenden soll diese Prämisse der Hermeneutik der interreligiösen Erschließung heiliger Texte (HiEhS) genauer expliziert werden.

Die heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams sind nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis deshalb heilig, weil in ihnen Gott etwas von sich mitteilt. Die jüdischen wie auch christlichen und islamischen heiligen Schriften bezeugen als ganze, dass es Gott gibt und dass er sich den Menschen zu erkennen gegeben hat.2 Der jüdische wie auch der christliche und islamische Glaube bedürfen der heiligen Schriften, denn sie bezeugen die für den Glauben zentralen Ereignisse.3 Sie geben dem Glauben Inhalt und Form. In ihnen ist eine göttliche Stimme zu hören. Die Worte der heiligen Schriften sind für die Glaubenden nicht nur Worte über Gott, sein Handeln und seinen Willen. Über alle kulturellen und zeitlichen Abstände hinweg wissen sich Glaubende in den heiligen Texten direkt angesprochen von Gott, den diese Texte bezeugen. Eine religiöse Haltung und Überzeugung ist nur dann als solche zu bezeichnen, wenn und weil sie die heilige Schrift als Wort Gottes hört und glaubt. Glaube versteht sich als Antwort auf dieses zuvor gehörte Wort, ohne das er gar nicht sein könnte. Das Zeugnis der heiligen Schriften ist ihm eine wesentliche Bedingung seiner Möglichkeit.4

Der Islam versteht sich wie das Judentum und das Christentum als Offenbarungsreligion. Das heißt, dass der Ausgangspunkt dieser Religionen der Glaube an einen Gott ist, der sich als er selbst den Menschen offenbart hat. In dieser Offenbarung „enthüllt“ Gott den Menschen sein Wesen. Offenbarung bedeutet, dass sich Gott auf die Menschen einlässt; er macht sich den Menschen zugänglich, er geht auf ihre Geschichte ein, er macht sich erfahrbar.5 Durch die Offenbarung Gottes in der Welt wird Gott hier und jetzt gegenwärtig. Dabei bleibt er ganz er selbst und zugleich erreicht er die Menschen in für sie nachvollziehbaren Kategorien. Offenbarung ist für die monotheistischen Offenbarungsreligionen somit „jene zentrale, aber auch spannungsreiche theologische Grundkategorie, die Transzendenz und Immanenz, Absolutes und Endliches, Unbedingtes und Bedingtes, göttliche und menschliche Freiheit in eben dem Maße zusammenzudenken versucht, wie sie die prinzipielle Unterschiedenheit beider Wirklichkeiten betont.“6 Die Offenbarung Gottes hebt allerdings die Transzendenz und damit die prinzipielle Unerkennbarkeit Gottes nicht auf. In der Offenbarung erschließt sich dem Menschen Gottes Immanenz als etwas, das von Gottes Transzendenz unendlich überstiegen wird.


Drei Sendungen – eine Kernbotschaft

Angehörige der drei abrahamitischen Religionen glauben an den einen Gott, der sich als er selbst den Menschen offenbart und damit den Menschen sein „Wesen“ „enthüllt“ hat, auch wenn sie zum Teil unterschiedliche Explikationen verschiedener Gottesbilder haben. Die heiligen Schriften der drei Religionen können somit als Sendungen ein und desselben Gottes aufgefasst werden. Wenn allerdings sowohl die hebräische Bibel als auch die Bibel und der Qur’an die Sendungen Gottes sind, dann wird man davon ausgehen, dass deren theologischen Gehalte keineswegs im Widerspruch zueinander stehen können, da sie auf denselben Gott verweisen.

Die Sendungen Gottes können unterschiedliche Gestalten annehmen, meist werden sie jedoch schriftlich festgehalten, z.B. in Form der hebräischen Bibel, der christlichen Bibel und des Qur’ans. In der hebräischen Bibel heißt es zum Beispiel:
„Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet.“ (2.Mose 33,11)

Der Apostel Paulus schrieb über den Ursprung seiner Verkündigung, dass er sie als Offenbarung empfangen habe:
„Denn ich tue euch kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist. Denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.“ (Galater 1,12)

Im Qur’an heißt es:
„Wir (Gott) haben den Qur’an in arabischer Sprache hinabgesandt, damit ihr ihn verstehen könnt“. (Q 12:2)

Die Hermeneutik der interreligiösen Erschließung heiliger Texte (HiEhS) geht davon aus, dass sich Gott zwar in unterschiedlicher Weise offenbart hat, jedoch nicht als ein anderer, sondern als derselbe Gott. Diese Prämisse einer HiEhS werden nicht alle Angehörigen der monotheistischen Religionen teilen. Es ist hier nicht der richtige Rahmen, die Frage, ob Angehörige der drei monotheistischen Religionen an denselben Gott glauben oder nicht, zu erörtern. Die These, die ich in diesem Zusammenhang vertrete, lautet: Die Angehörigen der drei monotheistischen Religionen sprechen nur dann von demselben Gott, wenn dieser die Manifestation von Liebe und Barmherzigkeit darstellt und die Menschen zu diesen entzünden will. Das ist das Hauptkriterium, um zu prüfen, ob wir von demselben Gott sprechen oder nicht.

Warum soll mich als Muslim die hebräische Bibel bzw. die Bibel etwas angehen? Warum sollten sie auch mir als Muslim etwas sagen wollen?
Auch wenn die drei monotheistischen Religionen unterschiedliche Gottesbilder und somit unterschiedliche Beschreibungen des inneren Wesens Gottes haben, heißt das nicht, dass sie an unterschiedliche Götter glauben, sondern an den einen Gott, allerdings mit unterschiedlichen Interpretationen vor allem, was die Attribute Gottes betrifft. Gott selbst bleibt für den Menschen unbegreiflich und nicht erfassbar, denn er ist stets größer als das menschliche Denkvermögen. Und wer glaubt, Gott erkannt zu haben, darf sich von Augustinus sagen lassen, dass es nicht Gott ist, den er erkannt hat. Deus semper maior – Gott ist immer größer – lautet daher ein alter christlicher Grundsatz, der in der islamischen Formel Allahu Akbar (Gott ist größer als) wiedergegeben wird. Die islamische Formel definiert nicht größer als was, um genau zu vermitteln, Gott bleibt unbegreiflich. Daher ist kein Bild in der Lage, Gott in seinem unendlichen An-sich-Sein abzubilden. Das bedeutet wiederum, dass es eine legitime Vielfalt von bildlichen Annäherungen und Bezeugungen des einen Gottes geben kann und muss. In der Vielzahl der Bilder spiegelt sich die Vielzahl menschlicher Erfahrungen wider, in denen sich Gottes Immanenz offenbarend erschließt.

Der Qur’an verwendet eine Vielzahl an Namen, um Gott zu beschreiben (man spricht in der Regel von den 99 Namen Gottes). Diese Vielfalt an Gottesbeschreibungen, die nach der qur’anischen Darstellung zum Teil ambivalent sein können (Gott ist der Erste ohne Beginn „al-Awwal“, aber auch der Letzte ohne Ende „al-āḫir“, der Erniedriger der Hochmütigen „al-Hāfiḍ“, aber auch der Erhöher der Demütigen „ar-Rāfiʿ“, der Offenbare „aẓ-Ẓāhir“, aber auch der Verborgene „al-Bāṭin“) deutet darauf hin, dass Gott für uns Menschen nicht auf eine einzige Realität beschränkt werden kann.

Auch Thomas von Aquin hatte die Vielfalt gültiger Gottesnamen damit begründet, dass sich das eigentliche Sein Gottes über alles erhebt, was der menschliche Verstand zu erfassen vermag. Daher, so Thomas von Aquin, können wir Gott nur in einer Vielzahl zeichenhafter Annäherungen zum Ausdruck bringen.


Abgrenzung von der Scriptural Reasoning

Scriptural Reasoning (dt.: schriftgeleitete Reflexion „SR“) „ist eine textbasierte Form des interreligiösen Dialogs. Menschen, die unterschiedlichen Religionen angehören – in der Regel einer der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam – treffen sich, um gemeinsam miteinander Texte aus ihren heiligen Schriften zu lesen, studieren, interpretieren und diskutieren.“7  Die Treffen finden regelmäßig in geschlossenen Kleingruppen statt und zielen darauf ab, dass nicht nur über die Texte geredet und diskutiert wird, sondern die Beteiligten Personen sollten sich persönlich kennenlernen, Freundschaften können dadurch entstehen, „Scriptural Reasoning Gruppen sind oft über Jahre hinweg gemeinsam unterwegs.“8 In Scriptural Reasoning sehen Fatima Cavis und Michaela Neulinger eine „Beziehungsarbeit, die auf Vertrauen, Mut und der Offenheit für Wandlungsprozesse aufbaut.“9. Im Zentrum stehen also nicht Texte, sondern zwischenmenschliche Beziehungen.“10

Daher betont Snyder, dass eine SR-Veranstaltung „nicht unbedingt die Ziele eines exegetischen Seminars erfüllen muss.“11  Es geht „nicht um die Vermittlung von wissenschaftlichen Auslegungen. Dementsprechend eignet sich SR wenig für diejenigen, die sich bloß für die Texte oder nur für ihre eigene Glaubensentwicklung interessieren.“12

Schneider zitiert Martin Rötting, der darauf hinweist, dass „Experten“ (dazu gehören Religionslehrkräfte, Seelsorgende, Pfarrer*innen, Imame, Rabbiner*innen, Religionswissenschaftler*innen) zwar in den Text einführen sollen, aber auf Interpretationen verzichten, um „… nicht durch die eigene Deutung oder Auslegung den Dialog um das Verstehen des Textes“13  einzuengen oder zu verhindern. Daher betont Snyder: „Im Grunde genommen handelt es sich um ein freies Gespräch“14  In diesem ist es daher „[n]icht notwendig …, dass Theolog*innen teilnehmen.

Cavis und Neulinger plädieren bei der SR sogar dafür, dass es „tatsächlich keine ‚ExpertInnen‘ in der Runde geben [sollte]“15. Denn das Ideal sei es, „sich als Weggemeinschaft im Erkunden und besseren Verstehen der Heiligen Schriften zu erfahren.“ 16Daher wird bei den Teilnehmer*innen kein theologisches Vorwissen vorausgesetzt: „Im Idealfall sollte es keine Expert*innen geben … Befinden sich unter den Teilnehmer*innen dazu noch Studierende und Lehrpersonal, wird dies nochmals komplexer.“17 Dies kann sich allerdings als eine unüberwindbare Hürde im Wege der Erschließung anderer heiliger Texte entwickeln.

Während es also für die RS als Grundvoraussetzung gilt, dass die Teilnehmer*innen „den Text durch eigene Reflexion, d. h., ausgehend von der eigenen Glaubenserfahrung und nicht durch Heranziehung von Lehrmeinungen in Exegeseschriften oder Meinungen von Fachexpert*innen, zu verstehen und auszulegen versuchen“18, interessiert sich die Hermeneutik der iEhS wohl für die wissenschaftliche Reflexion dieser Texte. Für sie kann gesagt werden, dass es sogar eine Voraussetzung der interreligiösen Erschließung heiliger Texte ist, dass Theolog*innen und Expert*innen am Prozess beteiligt sind. Die exegetische Expertise aller am Prozess der Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften Beteiligten ist daher nicht nur erwünscht, sondern unverzichtbar. Hinzu kommt eine zweite zentrale Komponente: die HiEhS ist an den theologischen Reflexionen stark interessiert, sie intendiert die gemeinsame Aufarbeitung theologischer Fragestellungen, ohne dabei den Anspruch zu haben, eine gemeinsame bzw. einheitliche Position zu entwickeln. Neunlinger erkennt diese Herausforderung an die SR: „Auf Ebene der theologischen Reflexion sind im Laufe der Treffen zahlreiche Fragen aufgetaucht. Dies beginnt bereits bei der Frage nach dem theologischen Moment von SR. Hat SR einen theologischen Mehrwert oder sind es bloße Diskussionsrunden? Und wenn ja, worin liegt das spezifisch theologische Moment? In seiner Grundintention zielt SR nicht auf die Aufarbeitung theologischer Problemstellungen, doch sind sie unausweichlich. Wie sind die aus dem Gespräch erwachsenden Einsichten aus erkenntnistheoretischer Perspektive zu beurteilen? Ist SR ein reines soziales Treffen oder sind es aus den Diskussionen erwachsene Erkenntnisse, die im Binnenraum der eigenen Traditionen nicht gewonnen werden können? D. h., brauche ich ‚den Anderen‘ sogar notwendig als locus alienus specialis theologischer Erkenntnis? Konkret religionstheologisch brisant wird dies, wenn Christ*innen den Qur’an lesen und offenbarungstheologisch auf die Probe stellen. Wie kann eine theologische Positionierung aussehen, die den Qur’an ernst nimmt und dabei den Boden christlichen Glaubens nicht verlässt?“19

 

Anmerkungen

  1. Klaus von Stosch spricht im Zusammenhang der Offenbarung im Judentum von der Tora und nicht von der hebräischen Bibel (vgl. von Stosch, Offenbarung, 96).
  2. Vgl. Bongardt: Einführung in die Theologie der Offenbarung, 9.
  3. Vgl. a.a.O., 11.
  4. Vgl. ebd..
  5. Khorchide, Gottes Offenbarung in Menschenwort.
  6. Lerch, Selbstmitteilung Gottes, 17.
  7. Schneider: Scriptural Reasoning.
  8. Ebd.
  9. Neulinger/Cavis: Scriptural Reasoning als performative Praxis des interreligiösen Dialogs.
  10. Snyder: Scriptural Reasoning, 268.
  11. Ebd.
  12. Ebd.
  13. Rötting: Gemeinsam Heilige Schriften lesen: Scriptural Reasoning, 463..
  14. Snyder, 263.
  15. Neulinger/Cavis, 10.
  16. Ebd.
  17. A.a.O., 12.
  18. A.a.O.,10.
  19. A.a.O, 13.

 

Literatur

  • Bongardt, Michael: Einführung in die Theologie der Offenbarung. 2. Aufl., Darmstadt 2009
  • Khorchide, Mouhanad: Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit, Freiburg i. Brsg. 2018
  • Lerch, Magnus: Selbstmitteilung Gottes. Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie, Regensburg 2015
  • Neulinger, Michaela / Cavis, Fatima: Scriptural Reasoning als performative Praxis des interreligiösen Dialogs. Innsbrucker Erfahrungen und Reflexionen, in: CIBEDO-Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen 2017/1, 7-13
  • Rötting, Martin: Gemeinsam Heilige Schriften lesen: Scriptural Reasoning, in: Rötting, Martin/Sinn, Simone/Inan, Aykan (Hg.): Praxisbuch
  • Interreligiöser Dialog. Begegnungen initiieren und begleiten. Sankt Ottilien 2016, 461-468
  • Schneider, Miriam: Scriptural Reasoning – mehr als „nur“ interreligiöser Dialog. Bedeutung und Rezeption, in: SaThZ 24 (2020)1, 8-19
  • Snyder, Julia: Scriptural Reasoning: Vorstellung einer Methode des interreligiösen Austauschs, in: Eisen, Ute / El Omari, Dina / Petersen, Silke