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Sehnsuchtsorte. Innere und äußere Paradiese psychodramatisch erkundet und pastoralpsychologisch betrachtet

Ute Beyer-Henneberger


Die Lichtung im Wald, der Platz am Deich, die Almhütte in den Bergen, der Garten der Großeltern – beim Stichwort Sehnsuchtsort tauchen bei vielen Menschen innere Bilder auf, die mit schönen Erinnerungen verbunden sind oder Traumziele der Zukunft sein können. Lebensgeschichten schlagen sich nieder, auch Hoffnungen verdichten sich. Sehnsuchtsorte können zu Kraftquellen werden und eine Gegenwelt erschaffen. Sie zeigen Bilder gelingenden Lebens – bereits erfahrene oder noch ausstehende.
In diesem Artikel wird untersucht, welche stabilisierende, die Wirklichkeit transzendierende und heilsame Wirkung Sehnsuchtsorte entfalten können. Dies geschieht auf dem Hintergrund eines eintägigen psychodramatischen Workshops mit sechs Lehrerinnen, die sich darauf eingelassen haben, ihre Sehnsuchtsorte szenisch Realität werden zu lassen.1  Im abschließenden Teil soll die Relevanz von Imaginationsübungen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen angedeutet werden.


Der Workshop – eine Reise zu sechs Sehnsuchtsorten

Zur Vorbereitung des Tages waren alle Teilnehmerinnen gebeten worden, ein Foto, ein (inneres) Bild oder eine Zeichnung von ihrem Sehnsuchtsort mitzubringen. In der Eingangsrunde zeigte sich, dass die Mehrheit die Qual der Wahl hatte, also mehrere Bilder kannte, die je nach Situation und Stimmungslage für sie attraktiv waren. In der sich daran anschließenden psychodramatischen Arbeit wurden folgende Sehnsuchtsorte inszeniert:

•    Die Insel La Réunion im Indischen Ozean: Nach vier Stunden Klettertour ist das Ziel erreicht: eine Oase in der Mitte der Insel mit Wasserfällen, die in einen See münden, in dem man schwimmen kann, viel Grün, wärmende Steine, Menschen im Hintergrund, die lachen und von den Klippen springen. Die Teilnehmerin erholt sich nach den Anstrengungen der Wanderung, lässt sich von den Steinen wärmen, schließt die Augen, nimmt ihre Umgebung intensiv wahr. Sie spürt Geborgenheit und eine tiefe innere Ruhe. Alle Strapazen sind zu Ende. Sie ist Teil des Ganzen, aber niemand stellt Ansprüche! „Hier kann ich sein, wie ich bin!“

•    „Abgondeln“ in den Alpen: Der Traditionsort der Familie für gemeinsame Skiurlaube. Nach einem schönen Ski-Tag entschließt sich die Teilnehmerin, nicht noch einmal die Strecke herunterzufahren, sondern „abzugondeln“, da sie müde ist. Während der Fahrt hört sie Lachen, Juchzen; auch ihre Familie ist unter denen, die noch auf der Piste sind. Vor sich das Tal mit Häusern. Erleuchtete Fenster. Sie freut sich auf den gemeinsamen Abend, der vor ihnen liegt. Zeit zu schauen – Beschaulichkeit kommt ihr in den Sinn, die deutlich macht, was wirklich im Leben zählt. Sie ist zwar allein in der Gondel, aber Teil des Ganzen. Ein Moment des Glücks, der Verbundenheit, Nähe und der Dankbarkeit! Ein Ort der gemeinsamen Familiengeschichte, der auch in Zukunft glückliche Momente verspricht.

•    Der besondere Platz am Deich: an der Küste Ostfrieslands. Mit dem Ehemann. Beide sitzen nebeneinander und schauen auf das Meer. Die Wellen kommen und gehen. Das ewige Meer. Hier haben sie sich als verliebtes Paar getroffen, sich verlobt, wichtige Dinge besprochen, Glück und Leid miteinander geteilt. Angesichts des Meeres versinken alle Sorgen, tritt eine große Ruhe ein. Die Tradition haben sie an ihre Kinder weitergegeben, aber am liebsten sind die beiden dort zu zweit.

•    Die Insel Korsika: auf der Steilküste ein schattiger Lagerplatz mit weitem Blick auf das Mittelmehr. Es ist warm, gerade war sie in dem klaren Wasser schwimmen, das unter ihr leuchtet und in der Sonne glitzert. Familie und Freunde sind um sie herum. Sie hört die Stimmen, spürt den warmen Wind. Es ist eine intensive körperliche Erfahrung der Entspannung.

•    Die Brücke der wilden Reiter: Hier ist der Sehnsuchtsort kein real existierender, sondern ein Traumbild. Sie steht am Ende der Brücke, auf die eine Gruppe wilder Reiter von einem Schloss herkommend zuprescht. Sie hofft, dass einer der Reiter anhalten wird und sie fragt, ob sie mitkommen will. Das wünscht sie sich sehnlichst. Zugleich hat sie Angst, dass keiner sie sieht und alle an ihr vorbeireiten. Wenn aber einer anhält, würde sie sofort auf sein Pferd steigen und ihm ins Abenteuer folgen. Er würde sie retten, Geborgenheit schenken und sie beschützen bis an das Ende ihrer Tage. Der Brückentraum als Ausdruck der Sehnsucht nach Nähe, Erotik und Hoffnung auf eine tragfähige Beziehung.

•    Ghana, das gebrochene Paradies: der Strand mit Palmen und weißem Sand. Hier wollte sie schon immer einmal sein und diesen besonderen Moment mit dem Ehemann teilen. Der ist aber im Hotel, weil er von der Reise erschöpft ist. Außerdem realisiert sie nach längerem Verweilen, dass unweit dieses Paradieses die Kloake des im Land liegenden Dorfes ins Meer geleitet wird. Nach einem Moment des Glücks erkennt sie, dass sie einem Klischee aufgesessen ist und sie eigentlich ganz andere Orte braucht, wo sie Glück, inneren Frieden und Nähe in der Beziehung finden kann.

Lässt man die auf der psychodramatischen Bühne Gestalt gewonnenen Sehnsuchtsorte Revue passieren, so zeigt sich, wie individuell sie sind. Kein Ort gleicht dem anderen. In der Mehrzahl spiegeln sie real erlebte Momente des Glücks und der Geborgenheit in der Lebensgeschichte, die in der Imagination noch einmal ihre Kraft und Schönheit entfalten. Es sind Schätze der Erinnerung verbunden mit der Hoffnung, dort wieder Entspannung und Ruhe zu finden. Als Oasen und Kraftorte wurden sie von den Teilnehmerinnen des Workshops in der abschließenden Reflexion des Tages beschrieben. Auch Traumbilder oder Tagträume können zu Sehnsuchtsorten werden, die über die Imagination zugänglich sind. Aber auch die Kehrseite der Glücksbilder wurde deutlich. Sie können sich als Klischee erweisen, haben manchmal eine Kehrseite und halten nicht immer, was sie versprechen.


Sehnsuchtsorte als Gegenwelterfahrung und sichere innere Orte

Die Teilnehmerinnen beschreiben bei der Reise zu ihren Sehnsuchtsorten positive Empfindungen und Gefühle, die allein durch die Imagination bereits zur Entspannung führen. In Balance sein, Geborgenheit und Harmonie empfinden, einen Moment ohne Zwänge und Ansprüche erleben können und auf einer Insel jenseits des Alltags sein – mit diesen Assoziationen sind die Reisen ins innere Paradies verbunden. Sie sind Gegenweltbilder zu dem manchmal als belastend und stressig empfundenen Alltag. Damit werden sie zu einer wichtigen Ressource, um schwierige Zeiten zu überstehen und Stress zu managen. Populäre Ratgeber laden ein, sich diese Kraft zunutze zu machen und auf diesem Wege die eigene Resilienz zu stärken.2  Dabei ist es unwesentlich, ob die Bilder auf realen Erfahrungen basieren oder einer Sehnsucht Ausdruck verleihen. Bereits die Vorstellung führt zu entspannenden physischen und psychischen Reaktionen: „Es wurde nachgewiesen, dass ‚Vorstellungen wie auch Gedanken‘ ähnliche Auswirkungen auf das Erleben haben wie real stattgefundene Erlebnisse […]. Daher ist es wichtig, Bilder und Vorstellungen positiv zu gestalten, um eine wohltuende Wirkung auf den physischen und psychischen Zustand zu erzeugen.“3 

In der Traumatherapie wird die Imagination genutzt, um in der Stabilisierungsphase Gegenbilder zu traumatischen Erfahrungen zu gewinnen.4 Eine der Übungen soll den Patient*innen in ihrer inneren Welt einen Ort der Geborgenheit eröffnen, an dem sie sich sicher und behütet fühlen.5 Er ist Ausgangspunkt und zugleich verfügbarer Rückzugsort in Phasen der Konfrontation mit den traumatischen Erlebnissen. Der Gewinn für die Betroffenen liegt in der Erfahrung, (wieder) Kontrolle über die eigenen Vorstellungswelten zu erlangen, in Gegenwelten eintauchen zu können und nicht ohnmächtig verletzenden Erfahrungen ausgesetzt zu sein. Dies gilt in gleicher Weise für alle Menschen – auch ohne traumatischen Hintergrund. Spuren davon lassen sich in den ersten fünf Bildern des Workshops wiederfinden. In der Imagination eröffnen sich innere Räume, die Momente des Glücks und der Hoffnung spürbar werden lassen. Die Verfügbarkeit von wohltuenden Sehnsuchtsorten kann zu einem Beitrag zur Salutogenese werden, indem sich verlässlich eine Gegenwelt zur realen eröffnet.


Sehnsuchtsorte als spiritueller Erfahrungsraum

Die Reise zu den Sehnsuchtsorten lässt sich auch als spirituelle Erfahrung deuten. Zwei Aspekte fallen dabei ins Auge.

Die Mehrzahl der Bilder führt in die Natur und an Plätze, die man als schön, beeindruckend und entspannend beschreiben kann – unabhängig davon, ob Berge, Seen oder Küsten die Orte sind. Es entwickelte sich in der psychodramatischen Arbeit ein achtsamer Blick auf die Schönheit der Erde und Freude darüber, ein Teil davon zu sein. Hier vollzog sich ein Staunen darüber, ein Teil der geschaffenen Welt zu sein, das Dietrich Korsch als „Verwunderung über die Möglichkeit der Lebensführung und des Lebenserhaltes in der Welt“6  beschreibt. „‘Versorgt, beschirmt, behütet und bewahrt‘ sind die Stichworte dafür. Daß das Leben in der Welt gelingt […], führe ich nicht auf mein eigenes Vermögen zurück, […] sondern bringe den Vollzug des Lebens selbst mit Gott zusammen.“7  Damit kann die innere Reise zu dem persönlichen Sehnsuchtsort zu einem Moment der Transzendenzerfahrung werden. Nicht immer ist man sich dieser Lebensdeutung bewusst, aber in besonderen Momenten des Staunens, des Glücks und der Geborgenheit – im realen Leben wie der Imagination – öffnet sich eine weitere Perspektive der Selbst- und Weltwahrnehmung und führt zu einer vertieften Welt- und Lebensdeutung verbunden mit dem Gefühl der Dankbarkeit.

Wie ein roter Faden zieht sich ein zweites Motiv durch die Szenen des Workshops: die Erfahrung des bedingungslosen Angenommenseins so, wie ich gerade bin. Keine Ansprüche, alles ist gut! Man kann diese Erlebnisse als Transzendenzerfahrungen deuten, die sinnstiftend und erfüllend sein können. Anknüpfend an das Konzept von Thomas Luckmann, der drei Arten von Transzendenzerfahrungen unterscheidet, wird man hier mit Jörg Lauster von „mittleren Transzendenzen“ sprechen können, in denen der Alltag ausgesetzt ist, alternative Lebensbilder Gestalt gewinnen und sich die Frage der Lebensdeutung stellt. Dabei sind nicht nur krisenhafte Zeiten im Blick: „Durchbruchs- und Einbruchserfahrungen können auch positiver Art sein und das Leben steigern und erfüllen. Mit Deutungsbedarf ist also auch dort zu rechnen, wo Leben gelingt und sich erfüllt. Biografische Situationen etwa, die ein Mensch mit Dankbarkeit und Glück erlebt, sind solche existenziellen Verdichtungen von gelingendem Leben. Wir haben es hier ebenso wie bei der Angst und der Sorge mit existentiellen Gestimmtheiten zu tun, die nach einem Woher und Warum fragen lassen.“8  Die Frage nach dem Sinn und der Deutung des Lebens meldet sich auch in den Imaginationen der Sehnsuchtsorte zu Wort. Ihre Beantwortung findet sie in lebensbejahenden Bildern, der Annahme der eigenen Biografie und Person und der Einsicht, dass das Leben noch mehr und anders gelebt werden kann.


Sehnsuchtsorte in Kita und Schule – Imaginationsübungen zur Förderung von Resilienz von Kindern und Jugendlichen

In der Traumatherapie von Kindern und Jugendlichen, aber auch in der Kinder- und Jugendhilfe werden Imaginationsübungen und Fantasiereisen zur Stabilisierung und Förderung der Resilienz eingesetzt.9  Ziel ist es, einen inneren Raum zugänglich zu machen und Zufluchtsorte zu eröffnen, die ein Gegengewicht zu belastenden Alltagserfahrungen darstellen. Zugang zu solchen seelischen Refugien zu haben und Pfade dorthin zu kennen, ist für alle Kinder und Jugendlichen eine wichtige Ressource.

Erste Zugänge eröffnen sich über Stille- und Achtsamkeitsübungen. Meditationen und (geleitete) Fantasiereisen – gerade auch zu Sehnsuchtsorten - sind nächste Schritte, die Kindern und Jugendlichen helfen, sich innerer Bilder und Gefühle in heilsamer und stärkender Weise bewusst zu werden und sie in Krisen zu nutzen.10 


Ausblick

Sehnsuchtsorte sind kostbare Schätze. Sie zeigen Bilder gelingenden Lebens. Sie helfen dem Körper und der Seele, gesund zu bleiben und eröffnen spirituelle Horizonte. Anselm Grün beschreibt den sich durch die Imagination erschließenden Raum und seine Wirkung so: „Wenn du in diesem inneren Raum bei dir selbst angekommen und bei dir selbst daheim bist, dann wird eine Sucht unnötig, die die Heimat des Paradieses außen sucht. Wer mit sich selbst in Berührung kommt, spürt in sich etwas, das die Welt übersteigt und mitten im Gewirr dieser Welt Geborgenheit schafft.“11  Die Reise zu Sehnsuchtsorten kann ein Pfad zu diesen heilsamen Erfahrungen sein.


Anmerkungen

  1. Psychodrama und Soziometrie sind eine Therapieform, die von Jacob Levi Moreno im letzten Jahrhundert in Wien entwickelt wurde. Lebenserfahrungen werden auf der psychodramatischen Bühne reinszeniert und durch Aktionsformen vertieft (Rollenbesetzung, Rollentausch, Doppeln etc.). So werden ein Eintauchen in (frühere) Erlebniswelten und eine Auseinandersetzung mit ihnen möglich. Aber auch Traumwelten oder Zukunftsvisionen können Gestalt gewinnen.
  2. Vgl. beispielsweise emotion (2.10.2019), Sehnsuchtsorte nutzen – so kannst du im Alltag Kraft tanken.
  3. Reddemann u.a., Imagination als heilsame Kraft im Alter, 15.
  4. Vgl. a.a.O., 40ff.
  5. Vgl. a.a.O., 57ff.
  6. Korsch, Dogmatik im Grundriß, 138.
  7. Ebd.
  8. Lauster, Religion als Lebensdeutung, 178f.
  9. Vgl. beispielsweise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft, Kap. 6, 193-232. Für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe: Uttendörfer, Traumazentrierte Pädagogik. Mit einem*einer inneren Begleiter*in arbeiteten Sabine Marya und Didi Lindewald: Vgl. Marya / Lindewald, Mein sicherer innerer Ort.
  10. Vgl. beispielsweise: Vopel, Meditationen für Jugendliche.
  11. Grün, Das große Buch der Lebenskunst, 180f. Grün bezieht die beschriebenen inneren Räume auf die Wirkung der Musik. M.E. handelt es sich bei der Erkundung der Sehnsuchtsorte um vergleichbare seelische Phänomene.

 

Literatur

  • emotion (2.10.2019): Sehnsuchtsorte nutzen – so kannst du im Alltag Kraft tanken, https://www.emotion.de/psychologie-partnerschaft/persoenlichkeit/sehnsuchtsorte-nutzen; (04.08.21)
  • Grün, Anselm: Das große Buch der Lebenskunst. Was den Alltag gut und einfach macht, Freiburg i. Brsg. 3. Aufl. 2013
  • Korsch, Dietrich: Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000
  • Lauster, Jörg: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005
  • Marya, Sabine / Lindewald, Didi: Mein sicherer innerer Ort. Eine märchenhafte Reise für alle, die auf der Suche oder auf dem Weg sind, Leipzig 2012
  • Reddemann, Luise / Kindermann, Lena-Sophie/Leve, Verena: Imagination als heilsame Kraft im Alter, Leben Lernen 262, Stuttgart 2013
  • Reddemann, Luise: Imagination als heilsame Kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen, Leben Lernen 288, Stuttgart 22. Aufl. 2020
  • Uttendörfer, Jochen: Traumazentrierte Pädagogik – Eine Pädagogik des sicheren Ortes, www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwjM9ffYl6HyAhV2_7sIHV9kAiMQFnoECBAQAw&url=https%3A%2F%2Fev-jugendhilfe-menden.de%2Fwp-content%2Fuploads%2F2018%2F01%2F2010_Vortrag_Jochen_Uttendoerfer1.pdf&usg=AOvVaw2fCz6N7rsz7nxT1jO0odFH (05.08.2021)
  • Vopel, Klaus W.: Meditationen für Jugendliche, Salzhausen 2000