Erlösung aus der feindlichen Scheinwelt – Der Film „Matrix“ als Beispiel für Religion in der populären Kultur

von Barbara Brinkop von Wiebke Nitz

 

Überlegungen zu einer Unterrichtseinheit über den Film „Matrix" in einem Religionskurs 13. Jg. unter dem Kursthema „Religion und Religionskritik"

Inhaltsangabe des Filmes „Matrix"

Man stelle sich vor, die Welt existiere nur als Computersimulation eines elektronischen Universums: die Realität als virtuelle Welt, beherrscht von Computerprogrammen mit den Menschen als Protagonisten. Alle Sinneseindrücke werden als Daten in deren Gehirne übermittelt. Die Menschen selber liegen passiv in mit Nährlösung gefüllten Schalen und dienen den „Wächtern" der Computerdiktatur, der Matrix, als Energielieferanten. Dass die Welt und ihr Leben nicht im materiellen Sinne real sind1, davon wissen die Menschen nichts. Nur einer kommt dem Geheimnis der Matrix auf die Spur und ahnt, dass etwas mit der Welt nicht stimmt: der junge Hacker Neo. Neo, der als Computerexperte nach Feierabend in virtuelle Welten abtaucht, wird von einer Untergrundorganisation in ein schreckliches Geheimnis eingeweiht: Morpheus, der Kopf der Gruppe – ein gesuchter Terrorist – erklärt ihm, dass Neo bisher in der Illusion einer realen Welt, der „Matrix" gelebt habe. Er, Neo, sei der Erlöser, der gekommen sei, die Welt zu befreien.

Seine Feinde, die Agenten der „Matrix", sind Neo bereits auf den Fersen, bereit, den ihnen gefährlichen Befreier zu vernichten. Es kommt zum Kampf um Sein oder Nichtsein, denn die Existenz eines Erlösers bedeutet ihr Ende. Die Agenten werden dabei unterstützt von einem Verräter aus der Gruppe um Morpheus: Cypher, eine Art Mittelding zwischen dem Versucher, dem Teufel, und Judas.2 Mit Hilfe der attraktiven Trinity (ihre Liebe und ihr Glaube an ihn lässt den von den Agenten der Matrix getöteten Neo auferstehen) und des unbeirrbaren Morpheus, der bereit ist, sein Leben für die Werkvollendung des Erlösers hinzugeben, gelingt es Neo, die computergesteuerten Agenten zu besiegen. Ob Neo auch endgültige Erlösung bringen kann, bleibt unbeantwortet.

 

Einleitung/ Lernziele

Dass sich moderne Medien und da ganz besonders die großen Hollywoodfilme in vielfältigster Weise jüdisch-christlicher Symbole und Inhalte bedienen, wird mittlerweile in religionspädagogischen Publikationen häufig thematisiert. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Der Umgang mit Werken der populären Kultur motiviert Lernende wie Lehrende gleichermaßen. In dem Herausarbeiten von Anspielungen und Zitaten nicht nur aus dem jüdisch-christlichen Symbolbereich besteht die Chance, dass die Schüler quasi durch einen Verfremdungseffekt zu einem vertieften Verständnis der jeweiligen religiösen Inhalte gelangen können.

Ausgehend von diesen Überlegungen haben wir unter dem Kursthema „Religion und Religionskritik" die Behandlung des Filmes „Matrix"3 vorgesehen. Dieser Science-Fiction-Film ist relativ neu (1999); viele SchülerInnen kennen ihn aus dem Kino oder als Video.

„Matrix" verwendet auf faszinierende Weise Elemente des gnostischen Welterklärungs- und Erlösungsmythos4 wie auch der christlichen Vorstellung von Erlösung. Bezogen auf die niedersächsischen Rahmenrichtlinien lässt sich die Behandlung des Filmes sowohl unter Lernfeld A „Erscheinungsformen und Deutungen des christlichen Glaubens in Geschichte und Gegenwart" als auch unter B „Religionen und Weltanschauungen im Gespräch" zuordnen. Als Leitthemen kommen Nr. 2 „Jesus Christus" und Nr. 3 Weltdeutung und Wesensbestimmung des Menschen durch Mythen und Religionen" (hier Gnosis explizit als beispielhafter Inhalt) in Frage.

Folgende Lernziele lassen sich anhand dieser Unterrichtseinheit erarbeiten:

Die SchülerInnen sollen:

  • verstehen lernen, dass Lieblingsfilme viel damit zu tun haben, was Menschen emotional und mental umtreibt (theologisch gesprochen: was sie unbedingt angeht)
  • sich anhand der Begriffe Symbol, Ritual und Mythos erste religionsphänomenologische Kategorien erarbeiten
  • sich damit auseinandersetzen, inwieweit die Behauptung, ein Kinobesuch käme einem (pseudo-)religiösen Ritual gleich, zutrifft
  • erkennen und reflektieren, wie in dem Film „Matrix" gnostische und christliche Symbole und Inhalte verwendet werden bzw. in moderner Form bezogen auf Computer auftauchen
  • vergleichen, welche Vorstellung von Erlösung der Film „Matrix" darstellt und wie Erlösung in der Gnosis und im Christentum verstanden wird
  • die Erlösergestalt des Neo im Film „Matrix" mit dem vergleichen, was in der christlichen Tradition über Jesus Christus als Erlöser gesagt wird
  • sensibilisiert werden für die Identifikation von religiösen Mythen und Symbolen in populären Massenmedien

     

 

1. Schritt: Kino und Film als Beispiel für den Zusammenhang zwischen Religion und populärer Kultur

1.1 Einstieg/Sensibilisierung:

Als Einstieg in das Thema bzw. als Sensibilisierung sollen die SchülerInnen und auch die Unterrichtenden in einem Stuhlkreis ihre Lieblingsfilme vorstellen.5 Auf diese Weise werden SchülerInnen dafür sensibilisiert, dass in Filmen oft existentielle Themen ästhetisch und emotional ansprechend präsentiert werden.

Als vorbereitende Hausaufgabe für die kommenden Unterrichtsschritte sollen die SchülerInnen die Begriffe Symbol, Ritual und Mythos nachschlagen.

 

1.2 Religiöse Symbole in der populären Kultur

Als Vorbereitung auf Mat. 1 soll der Begriff Symbol geklärt werden: Ein Symbol ist ein Zeichen oder Sinnbild, das auf etwas nicht sinnlich Wahrnehmbares hinweist. Ein religiöses Symbol soll die Gegenwart des Heiligen vermitteln. In der Auseinandersetzung mit dem Text von Gutmann sollen zunächst Beispiele für die Verwendung von jüdisch-christlichen Symbolen in der Werbung, in Filmen etc. gesucht werden. Gutmann beklagt nicht die Verwendung von religiösen Inhalten in der populären Kultur, sondern legt in diesem Text nahe, dass darin eine Chance liegen kann. Dazu sollen die SchülerInnen Stellung nehmen .

 

MATERIAL 1

In den Werken der populären Kultur beispielweise, in den großen Hollywoodfilmen, in den massenwirksamen populären Songs, in den rituellen Begehungen der populären Musikkultur finden sich beständig Anspielungen und Zitate aus den überkommenen jüdisch-christlichen Symboltraditionen und den tradierten Symbolwelten anderer Religionen und Kulturen. Die überkommenen Symbole werden in den seltensten Fällen konsistent zitiert oder interpretiert; sie werden angespielt, verbraucht, neu zusammengesetzt. Aber ohne dieses Spiel mit den Symbolen, die es schon lange `gibt`, könnten die Erzählungen der Songs, der Filme, könnte die populäre Kultur insgesamt nicht funktionieren. 

Nimmt man dies wahr, so wird die Rede (...) von Traditionsabbruch und Symbolverlust höchst fragwürdig. Die Texte der massenwirksamen populärkulturellen Songs beispielweise sind in deutscher, aber gerade auch in englischer Sprache voll von `Himmel´, `Paradies´, `Engeln´, `Weg und Ziel´, `Beten´, `Glauben´, sind voll von `Jesus´, `Jesus Christus´, `Jesus Christus Superstar´, sind voll von Fragen nach dem `Weg´, nach meinem `Ursprung´, nach dem `Ziel´, und Ende des individuellen Lebens und der Welt u.a.m. Die Songtexte sind je nach Orientierung – mainstream, rock, heavy oder death metal usw. – außerdem voll von `Erlöser´, `Gott´, `Teufel´, `Hölle´. Es handelt sich offenbar nicht nur um zentrale Wörter, sondern auch um zentrale inhaltliche Themen der jüdisch-christlichen Religionstradition, verschnitten und vermischt mit Symbolen, die auch in anderen Religionen beheimatet sind.

Offenbar kann – verständlich für sich selbst und für andere – nicht anders über zentrale Erfahrungen und Konflikte des Lebens - Liebe, Hass, Sehnsucht, Tod, Traurigkeit, Einsamkeit und Befreiung - geredet werden als so, dass zentrale Symbole der religiösen Tradition in Anspruch genommen werden. Offenbar können die jeweiligen Erfahrungen nicht wahrgenommen und nicht mitgeteilt werden ohne Symbol. (...)

Die populäre Kultur ist ein Diskurs über das Böse und Gute, über Verheißung und Vernichtung, über das, was individuelles Leben, Liebe zu anderen, Solidarität im sozialen Lebenszusammenhang ermöglicht und zerstört.(...)die populäre Kultur übernimmt mit den bezeichneten Lebensformen und Themen traditionelle Aufgaben der `Religion´; und zugleich kann sie das nicht tun, ohne auf die ausgearbeitete Gestalt der Religion immer wieder zurückzugreifen: in unserem Kulturkreis zuerst auf die Gestalt der jüdisch-christlichen Religionstradition.

Gutmann, Hans-Martin, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen: Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 1998, S. 27f., 38

 


1.3. Kinobesuch als Ritual/ Mythen im Film

Unter einem Ritual versteht man religiöse, aber auch andere Handlungsgewohnheiten einer Gemeinschaft. Sie geben wiederkehrenden Situationen Wiedererkennbarkeit und verschaffen ihren Teilnehmern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.6 Zunächst sollen die SchülerInnen Beispiele für Rituale aus ihrem Lebenszusammenhang ( Familie, Schule usw.) beschreiben und dabei überlegen, wie Rituale das Leben gestalten. Die Frage, ob auch ein Kinobesuch als Ritual gelten kann, soll auf die Behandlung von Mat. 2 hinführen.

 

MATERIAL 2

Der Kinobesuch lässt sich unter ritualtheoretischen Gesichtspunkten interpretieren, und wahrscheinlich liegt genau hierin die Faszination des Kinos und seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Überschwemmung des Fernseh-Marktes mit Kommerzprogrammen und Home-Videos. Charakteristisch für den Kino-Besuch ist unter ritualtheoretischem Gesichtspunkt der Aspekt der Begehung (die dem festlichen Anlass angemessene Kleidung und Gestaltung des „Outfit" [...]; das Warten in der Kinoschlange, die Verzögerung durch Bier-und-Chipse-Besorgen; die Schwellenüberschreitung; das vor- und nachbereitende Palaver im Cafe; die Geselligkeit des Kinobesuches selber wie des Gespräches über das Erlebte). Die Begehung erfolgt insgesamt in Form einer „Reise": nach der Schwellenüberschreitung führt der Weg in das Dunkel, die Spannung, das Geheimnisvolle des bergenden Raumes. Der Kinobesuch ist eine Reise in einen anderen Raum. Ein Kinobesuch ist eine hochemotional besetzte Begehung: hier kann ich bei Liebesszenen haltlos weinen und mich angesichts der Gestalten des Bösen vor Spannung, Furcht und Grauen schütteln lassen. (...) Neben dem Kino-Gang unter dem Aspekt des `Rituals´ gilt mein Interesse (..) den filmischen Erzählungen und den in diesen Erzählungen zitierten und angespielten Mythen. Es geht - unter dem Gesichtspunkt des `Funktionierens´, der Wirksamkeit von Kinofilmen (..) - auch und vor allem um die Macht und Bedeutung der in ihnen erzählten Geschichten, die als hilfreiche oder zerstörerische, in jedem Falle aber machtvolle innere Bilder in denen wirksam werden, die sich die Filme ansehen.(...)
Der Kino-Besuch wird

  1. als Ritual verstehbar, in dem
  2. zentrale Lebensthemen – Leben und Tod, Liebe und Hass, die Rettung oder Zerstörung der Welt, das Böse und die Erlösung usw. usw. begehbar werden
  3. die in filmischen Erzählungen dargestellt und
  4. im Sinne von inneren Bildern in den ZuschauerInnen langfristig wirksam werden.


Gutmann, Hans-Martin, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen: Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 1998, S. 69

Bei der Behandlung des Textes Mat. 2 soll als weiterer Schwerpunkt das Thema Mythos im Film gelten. Ein Mythos ist eine Sage oder Dichtung von Göttern, Helden und Ereignissen aus der Vorzeit. Als Mythos wird auch ein/e legendäre/r, glorifizierte/r Person, Sache oder Vorgang bezeichnet. Thematisiert werden sollte, dass Mythen oft Antworten auf existenzielle Fragen zu geben versuchen. Gutmann übersetzt den Begriff mit erzählten Geschichten, machtvollen, inneren Bildern, „die in den Menschen wirksam werden". Das Stichwort „Mythos" bietet auch die Überleitung zur Beschäftigung mit dem gnostischen Mythos.

 

2. Schritt: Der gnostische Mythos

MATERIAL 3

Als Gnosis wird eine religiöse Bewegung in der Spätantike bezeichnet, die wahrscheinlich im Mittelmeerraum, Mesopotamien, Iran und Unterägypten entstanden ist. Allerdings ist bis heute eine genaue historisch-geographische Einordnung der Gnosis unmöglich. Es handelte sich keineswegs um eine einheitliche Strömung, sondern um unabhängig voneinander entstandene und biographisch begrenzte Überlieferungen, die sich erst später gegenseitig beeinflussten. Wenn also im Folgenden von „Gnosis" gesprochen wird, so ist damit eine bestimmte Gruppe von Texten gemeint, die bei allen Unterschieden ein gemeinsames dualistisches Denken aufweist.

Die Vorstellung von Dualität (die unvereinbare Gegenüberstellung von Gut und Böse; Licht und Finsternis; Körper und Seele usw.) war in der Antike weit verbreitet. Die Gnosis stellt unsere Welt einer himmlischen Lichtwelt entgegen. Unser Kosmos wurde nach der Gnosis von dämonischen Mächten geschaffen, indem sie die himmlische Lichtgestalt zerrissen und geteilt haben. Verborgen in jedem Menschen steckt nun ein göttlicher Lichtfunke. Dieser Funke wird von den Dämonen im Körper des Menschen gefangen gehalten, denn ohne die Lichtfunken würde die dämonische, also unsere Welt ins Chaos zurückfallen. Daher wachen die Dämonen eifersüchtig über die errafften Lichtfunken, die in den Menschen als deren innerstes Selbst eingeschlossen sind. Die dämonischen Wächter versuchen, die Menschen einzulullen und zu betäuben, damit sie ihre himmlische Heimat vergessen. Dieses gelingt jedoch nur bei einigen Menschen, die sich in einer Art Schlaf befinden. Bei den Anderen bleibt das Empfinden dafür wach, hier in der Fremde und im Gefängnis zu sein; sie sind erfüllt von der Sehnsucht nach Befreiung und Erlösung.

Der aus dem Griechischen entnommene Begriff „Gnosis" bedeutet übersetzt „Erkenntnis". Das Erkennen ist hier nicht nur ein gedankliches Erfassen, sondern eine Form der inneren Erleuchtung, eine Gotterkenntnis, die nicht nur theoretisch bleibt, sondern die den Gläubigen mit Gott, der himmlischen Lichtgestalt, vereint und die ihn zu einer völlig veränderten Sicht auf die Welt und das eigene Leben veranlasst. Indem die Welt verneint und als Fremde bezeichnet wird, strebt der wahre Mensch, die Gnostiker nennen ihn den Pneumatiker (den Erleuchteten), nach Erlösung und sucht den Weg zum Heil, durch den der göttliche Lichtfunken des Menschen nach dem Tod zu seiner eigentlichen Heimat gelangen kann

Die ersehnte Befreiung stelle man sich so vor: Die höchste Lichtgestalt erbarmt sich der gefangenen Lichtfunken und sendet eine himmlische Lichtgestalt, ihren Sohn, herab, um sie zu erlösen. Dieser ist in einem irdischen Körper verkleidet, damit ihn die Dämonen nicht erkennen können. Er ruft die Seinen zu sich, weckt die Schlafenden, erinnert sie an ihre himmlische Heimat und belehrt sie über den Rückweg. Er überliefert ihnen die heiligen Formeln, die sie kennen müssen, um den Aufstieg unbehindert zu bewältigen. In seinen Reden offenbart er sich als der von Gott Gesandte: „Ich bin die Wahrheit", „Ich bin der Hirte". Nachdem er sein Werk vollbracht hat, steigt er wieder empor und bahnt so den Weg, auf dem die Seinen ihm folgen werden, wenn sich im Tod das Ich, der Lichtfunke, aus dem Gefängnis des Körpers gelöst hat. Sein Werk und Ziel ist die Sammlung der Lichtfunken; es wird vollendet sein, wenn alle Lichtfunken befreit und emporgestiegen sind. Dann werden sie wieder zu einem Leib jener Lichtgestalt vereint, die zuvor gefallen, gefangen und zerrissen worden war. Ist dieses geschehen, dann ist die irdische Welt beendet und fällt in ihr Chaos zurück. Die Finsternis bleibt nun sich selbst überlassen und ist damit gerichtet worden.

Folgende Worte aus einem gnostischen Text zeigen deutlich die Einsamkeit und Angst des Menschen angesichts der dämonischen Mächte, die ihn verführen und ihn sich selbst entfremden wollen. Ihnen ist er ausgeliefert. Zudem zeigt sich hier der Gedanke der Präexistenz (der vorgeburtlichen Existenz des göttlichen Lichtfunkens im Menschen):

„Wer warf mich in die Tibil (irdische Welt)?
In die Tibil warf wer mich?
Wer schloss mich in die Mauer ein?
Wer warf mich in den Fußblock, der der Weltenfülle gleicht?
Wer legte eine Kette um mich, die über die Maßen ist?
Wer bekleidete mich mit einem Rock
von allen Farben und Arten?
Wer hat mich in die Wohnung der Finsternis geworfen?
Warum habt ihr mich von meinem Ort weg in die Gefangenschaft gebracht
und in den stinkenden Körper geworfen?
Wieweit sind doch die Grenzen dieser Welten Finsternis!
Der Weg, den wir zu gehen haben, ist weit und endlos!"

Vgl. Jonas, Hans, Gnosis, Die Botschaft des fremden Gottes, Frankfurt a. M., Leipzig 1999, S. 56ff.

 

Fragestellung:

Welches Selbstverständnis des Menschen und welche Sicht der Welt kommen hier zum Ausdruck?

Stellen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu christlichen Vorstellungen dar.

 

 

3. Schritt: Auseinandersetzung mit dem Film „Matrix"

Im Sinne der didaktischen Reduktion wird zunächst nicht der gesamte Film angeschaut, sondern einzelne bedeutsame Passagen werden ausgewählt.

 

3.1 Die ersten Szenen: Verwendung gnostischer Begrifflichkeiten

Die beiden Eingangssequenzen sollen arbeitsteilig unter folgenden Stichpunkten angesehen werden:

 

  • Erlöser / Erlösung 
  • Schlaf / Gefangensein
  • Wächter / Agenten
  • weitere religiöse Motive

     
  1. Sequenz (Minutenangabe auf dem Videoband ab Start :15 – 20.10): Neo wird als Hacker vorgestellt, der sich für etwas Besonderes hält, auf der Suche ist und für den Schlaf und vermeintliche Realität ineinander übergehen. Trinity nimmt mit ihm Kontakt auf.
  2. Sequenz ( 33 – 53.08) : Trinity bringt Neo zu Morpheus, der Neo erklärt, dass die Matrix die Scheinwelt ist, die man den Menschen vorgaukele, um sie in ihr einzusperren. Neo entscheidet sich, nicht weiter in dieser Scheinwelt zu `leben´ und wird in einem schmerzhaften Prozess von Morpheus und seinen Leuten in die wirkliche Welt, die allerdings bedroht und unheil ist, geholt. Mit Neos Ankunft ist für Morpheus die Suche nach dem Erlöser beendet. Morpheus erklärt Neo, was die Matrix ist und wie es dazu gekommen ist, dass die Computer die Menschen besiegt und unterjocht haben.

 

3.2. Die Verräterszene (1.07.13 – 111.14)

Cypher unterhält sich mit Neo: „Großer Gott, du allein sollst die Welt retten." In der darauf folgenden Szene trifft sich Cypher, der einen Ziegenbart trägt (Teufel), mit einem Agenten der Matrix und verspricht gegen Geld (Judas) und die Zusicherung, anschließend ein angenehmes Leben in der Matrix führen zu können, die Gruppe um Morpheus und Neo zu verraten.

Um in eine anschließende Diskussion über das eben Gesehene einzusteigen, bietet sich ein stummer Impuls an.
 

3.3. Die Orakelszene (1.12.00 – 1.23.06)

Als Hausaufgabe zu dieser Stunde sollen die SchülerInnen nachschlagen, was ein Orakel ist. Um die komplexe und für den weiteren Verlauf des Filmes wichtige Aussage des Orakels leichter verstehen zu können, soll anhand der Hausaufgabe die hermeneutische Bedeutung der zwiespältigen Aussagen eines Orakels geklärt werden. Innerhalb des Filmes erfüllt die Orakelszene eine Art Schlüsselfunktion: Das Orakel soll klären, ob Neo der Erlöser sei oder nicht. Als Hinführung zur Filmszene werden die SchülerInnen aufgefordert, Überlegungen zu möglichen Aussagen des Orakels zu machen.

Nach dem Anschauen dieser Szene, werden die SchülerInnen vielleicht auf den ersten Blick enttäuscht reagieren, da es sich bei dem Orakel um ein Gespräch in der Küche zwischen einer völlig alltäglich erscheinenden Hausfrau und Neo handelt. Diese Frau, das Orakel, macht vier Aussagen, die die Schüler erarbeiten sollen

  • Neo ist nicht der Erlöser
  • Ob man der Erlöser ist oder aber nicht ist, kann nur die jeweilige Person selbst wissen.
  • Neo wartet auf etwas.
  • Morpheus will sein Leben für Neo opfern.

 

3.4. Der Schluss und die Kussszene (1.56.24 bis zum Ende)

Morpheus, der in der Gewalt der Matrix-Agenten ist, wird von Neo und Trinity befreit.

Neo rettet Trinity aus einem abstürzenden Hubschrauber und wird von der Mannschaft um Morpheus als „Auserwählter" be-/erkannt. Nachdem Morpheus und Trinity der Matrix entfliehen können, kommt es zum entscheidenden Kampf zwischen den Agenten und Neo. Dabei wird Neo getötet. Durch ihren Glauben an Neo als den Auserwählten, als den Erlöser und durch ihre Liebe zu ihm auferweckt Trinity Neo durch einen Kuss. Neo ist nun in der Matrix unbesiegbar, gebietet den Kugeln der Agenten mit bloßen Händen Einhalt und besiegelt so das Ende der Matrix.
 

MATERIAL 4

Trinity (über den toten Neo gebeugt): Ich habe jetzt keine Angst mehr. Das Orakel hat mir gesagt, dass ich mich verliebe und dass dieser Mann, der Mann, den ich liebe, der Auserwählte ist. Du siehst also, du kannst unmöglich tot sein. Es ist nicht möglich, weil ich dich liebe. Hörst du? Ich liebe dich. (Trinity küsst Neo) und jetzt steh auf! 7

Liebe ist stark wie der Tod und eure Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme Gottes. (Hohelied 8,6)

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (1. Kor. 13,13)

Durch Trinitys Kuss, in dem ihre Liebe zu Neo und ihr Glauben an ihn Ausdruck findet, wird sie zur „Erlöserin des Erlösers"8. An dieser Stelle kann es reizvoll sein, einen Bezug dazu darzustellen, was biblische Texte zur Kraft der Liebe sagen, aber auch Beispielen aus anderen Filmen (Titanic u.a.) heranzuziehen.9

 

4. Vergleich: Erlösung im Film „Matrix", in der Gnosis und im Christentum

MATERIAL 5

„Ich weiß, dass ihr da draußen seid, ich kann euch jetzt spüren. Ich weiß, dass ihr Angst habt. Angst vor uns, Angst vor Veränderungen. Wie die Zukunft wird, weiß ich nicht. Ich bin hier, um euch zu sagen, wie alles beginnen wird. Ich werde den Hörer auflegen und den Menschen zeigen, was sie nicht sehen sollen: Ich zeige ihnen eine Welt ohne euch – eine Welt ohne Gesetze, ohne Kontrollen, ohne Grenzen. Eine Welt, in der alles möglich ist. Wie es dann weitergeht, liegt ganz an euch."10

Dieser Monolog Neos beendet den Film „Matrix". Neo, der Auserwählter und Retter, bietet den Menschen die Erlösung in eine unheilvolle unbekannte Welt, in der sie selbst ihr Leben in die Hand zu nehmen haben, in der „alles möglich ist", die die absolute Freiheit mit offenem Ausgang darstellt.

Diese hier offene Vorstellung von Erlösung stellt z.T. Parallelen zu der gnostischen Vorstellung von Erlösung: Auch die Gnosis gibt den erlösten Menschen, den sogenannten „Pneumatikern", keine Verhaltensregeln vor, nachdem sie ihrer göttlichen Funken und ihrer wahren Herkunft gewahr werden. Erlösung bedeut in der Gnosis lediglich ein „Erkennen" des wahren Ich. Eine irdische Erlösung ist im gnostischen Mythos nicht von Bedeutung. Nach dem Tode steigt die Seele des Pneumatikers auf, verlässt die Welt, sein Gefängnis, und vereinigt sich schließlich mit der Gottheit.

Erlösung im christlichen Sinne meint, dass die Menschen von Sünde und Tod erlöst sind; nicht Werkgerechtigkeit bewirkt die Liebe Gottes, sondern ein Angenommensein der Menschen von Gott. Die Christen sind befreit, verantwortlich in der guten Schöpfung Gottes zu handeln.

Das Reich Gottes ist mit Jesus Christus angebrochen, wird im Leben der Menschen bruchstückhaft sichtbar und wird am Ende der Zeit von Gott vollendet.

 

5. Ausblicke

5.1 Als abschließender Text oder als Klausurtext (dann allerdings nur als Textauszug) eignet sich der Artikel von Geiko Müller-Fahrenholz: „Wo Offenbarung fehlt, verdirbt das Volk"11. Müller-Fahrenholz lehnt den Film „Matrix" (nach Ansicht der Autorinnen einseitig vom Standpunkt eines allgemeinen Kulturpessimismus aus nur oberflächlich interpretierend) vehement ab und deutet Neo als unverwundbaren Erlöser/Helden, der das gewalttätige Böse mit noch gesteigerterer Gewalt besiege. Dagegen setzt der Autor das christliche Erlöserbild des leidenden Gekreuzigten und kommt zu der Überzeugung: „(...) ich sehe in dem Gekreuzigten den Messianismus der Verwundbarkeit und darin die Zukunft der Humanität."12 Die SchülerInnen werden aufgefordert, sich mit dieser Interpretation kritisch auseinander zu setzen bzw. sie anhand des Filmes zu überprüfen.

5.2. Die SchülerInnen sollen eine Filmbesprechung über „Matrix" für die Schülerzeitung schreiben. Insofern haben sie die Möglichkeit, die Ergebnisse der Unterrichtseinheit in einem größeren Rahmen vorzustellen. Damit verbunden könnte angeregt werden, dann auch den Film „Matrix" bei einer oberstufen-/schulinternen Filmnacht zu zeigen.

5.3. Zum krönenden Abschluss der gemeinsamen Beschäftigung mit „Matrix" soll bei einem Kurstreffen der gesamte Film angesehen werden, da außerhalb der Schule bei Essen und Trinken erfahrungsgemäß die interessantesten Diskussionen entstehen...

Anmerkungen

  1. vgl.: Abesser, Bernd; Wer erlöst die Welt?, Text zu dem Film "Matrix" im Rahmen des Studierenden-Treffpunktes des RPI Loccum, bisher unveröffentlichtes Manuskript, S.1
  2. vgl. a. a. O., S.4
  3. Matrix, 1999 Warner Home Video, Buch und Regie: The Wachowski Brothers, Best.Nr. 16985
  4. vgl. zu gnostischen Elementen in massenwirksamen Kinofilmen: Gutmann, Hans-Martin, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 1998, S. 113
  5. die Idee entstammt: Religion betrifft uns 3/98, Jesus im Film, S. 7
  6. vgl. Abesser, Bernd, Sinnlichkeit und Sinn. Eine Einheit zum Thema "Religion" an Berufsbildenden Schulen, in: Loccumer Pelikan 3/99, S. 136
  7. vgl. Abesser, Wer erlöst die Welt?, S.5
  8. ebd.
  9. ebd.
  10. vgl. a.a.O., S. 1
  11. Müller-Fahrenholz, Geiko, Wo Offenbarung fehlt, verdirbt das Volk, in: Loccumer Pelikan 2/00, S. 68-72
  12. a.a.o., S. 72

 

6. Literatur

  • Abesser, Bernd, Sinnlichkeit und Sinn. Eine Einheit zum Thema „Religion an Berufsbildenden Schulen, in: Loccumer Pelikan 3/99, S. 131-138
  • Abesser, Bernd, Wer erlöst die Welt?, Text zu dem Film „Matrix" anlässlich des Studierenden-Treffpunktes des RPI Loccum, bisher unveröffentlichtes Manuskript
  • Gutmann, Hans-Martin, Der Herr der Herrscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen, Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 1998
  • Jonas, Hans, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Frankfurt a. M., Leipzig 1999
  • Müller-Fahrenholz, Geiko, Wo Offenbarung fehlt, verdirbt das Volk, Loccumer Pelikan 2/00, S. 68ff.
  • Religion betrifft uns 3/98, Jesus im Film

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2000

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