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Zwischen Strukturwandel und gelebter Praxis

von Johanna Possinger

 

Familienrealitäten und kirchliche Unterstützungsmöglichkeiten

Familie – für viele Menschen der wichtigste Lebensbereich und zugleich ein Ort großer Herausforderungen. In den letzten Jahrzehnten haben sich Familienstrukturen stark gewandelt. Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen Lebenssituationen von Familien, ihre Bedarfe und das oft fragile Verhältnis zur Kirche. Darauf aufbauend werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie Kirche Familien wirkungsvoll unterstützen kann.

Strukturelle Realitäten und Bedarfe von Familien

Vielfalt und Dynamik der Lebensformen

Wenn wir heute von „Familie“ sprechen, meinen wir nicht mehr nur die „klassische“ Konstellation von verheirateten heterosexuellen Eltern mit Kindern. Die Familienlandschaft ist bunter und dynamischer geworden. Alleinerziehende und Patchworkfamilien sind längst Teil der gesellschaftlichen Normalität. Mehr Kinder wachsen auch in gleichgeschlechtlichen Regenbogenfamilien auf, in denen mindestens ein Elternteil lesbisch, schwul, bisexuell oder queer lebt, trans- oder intergeschlechtlich ist. Eine steigende Vielfalt ist auch hinsichtlich der kulturellen, ethnischen und sozialen Milieus von Familien auszumachen. 43 Prozent der Familien mit minderjährigen Kindern haben eine Zuwanderungsgeschichte, das heißt, mindestens ein Elternteil ist nicht in Deutschland geboren.1  Untrennbar mit dem Wandel von Familie verbunden ist zudem ein Wandel der Geschlechterverhältnisse. Durch einen historischen Bildungsaufstieg von Frauen und Mädchen seit den 1960er-Jahren ist es für den Großteil der Mütter heute völlig normal, nach der Familiengründung weiterhin erwerbstätig zu bleiben. Auch die Erwartungen an Vaterschaft haben sich verändert. So wünscht sich knapp die Hälfte der Eltern in Deutschland eine geschlechtergerechte und ausgewogene „50:50“-Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit.2  Immer mehr Väter nutzen das Elterngeld für eine eigene berufliche Auszeit nach der Geburt eines Kindes. Nichtsdestoweniger leben die meisten Familien weiterhin ein „modernisiertes Ernährermodell“, indem Väter für das Familieneinkommen hauptverantwortlich sind und Mütter in der Regel nur in Teilzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen“. Die Hauptlast der Sorgearbeit für Kinder und Ältere tragen weiterhin Frauen. 

Zwischen Heilsversprechen und alltäglichem „Wahnsinn“

Kinder zu haben, ist für viele Menschen sinnstiftend. Die eigene Familie wird oft als „Hafen in stürmischer See“3  wahrgenommen – als Gegenpol zur als kalt empfundenen Außenwelt. Dieses Ideal kollidiert jedoch mit der Realität, denn Familien stehen im Alltag unter einem immensen Druck: Der Spagat zwischen Beruf und Familie ist kräftezehrend. Im Erwerbsleben werden Eltern mit hohen beruflichen Anforderungen konfrontiert. In einer globalisierten Arbeitswelt wird von ihnen jederzeitige Verfügbarkeit und voller Einsatz erwartet. Zugleich steigt die Zahl derjenigen, die von ihrem Einkommen allein kaum über die Runden kommen. Erwerbs- und Familienarbeit lassen sich nur schwer miteinander vereinbaren, zumal bundesweit viele Plätze in der Kindertagesbetreuung fehlen. Chronische Zeitnot bestimmt den Alltag vieler Familien. Es bleibt wenig Zeit für sich selbst oder die Partnerschaft. Dass beide Elternteile erwerbstätig sind, ist für die meisten unerlässlich angesichts steigender Wohn- und Lebenshaltungskosten. Gerade alleinerziehende Mütter haben ein hohes Armutsrisiko. Aber auch in der Mittelschicht ist Geldknappheit verbreitet. Sorgen machen sich Eltern hierbei vor allem um die Bildungsteilhabe und Zukunft ihrer Kinder, da Ressourcen für Nachhilfeangebote, Sportvereinsbeiträge, Musikschulen oder die Teilnahme an Kinder- und Jugendfreizeiten nicht ausreichend vorhanden sind. Eltern jonglieren so ständig zwischen den Bedürfnissen der Familienmitglieder und den Anforderungen von Erwerbsarbeit, Schule und Gesellschaft. So gleicht der Familienalltag heute eher einem „Wahnsinn“4  als einem ruhigen Hafen. 

Unterstützungsbedarfe von Familien 

Was brauchen Familien angesichts dieser Herausforderungen? Die Studien der letzten Jahre sowie unsere eigenen Erhebungen5  zeichnen hier ein eindeutiges Bild: 

  • Mehr Zeit: Eltern wünschen sich mehr Zeit im Alltag für ihre Kinder, für die Partnerschaft und sich selbst. 
  • Bessere Betreuung: Eltern äußern einen hohen Bedarf an qualitativ hochwertigen Bildungs- und Betreuungsangeboten, auch zu Randzeiten und in den Ferien, um Kinder und Jugendliche besser zu fördern und zugleich die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben zu erleichtern. 
  • Finanzielle Sicherheit: Familien wünschen sich einen besseren Schutz vor Armut und wirtschaftlichem Abstieg. 
  • Unterstützende Netzwerke: Es besteht ein Bedarf an Begegnungsorten und Austauschmöglichkeiten mit anderen Familien im direkten Umfeld des eigenen Sozialraums. 

Das wenig beachtete Arbeitsfeld „Familie in Kirche”

Was hat all dies nun mit Kirche zu tun? Familien spielen die zentrale Schlüsselrolle für die religiöse Sozialisation der nachfolgenden Generationen.6 Erfahren Kinder über ihre Familien keinen Zugang zu Religion und Kirche, ist es unwahrscheinlich, dass sie diesen von sich aus später entdecken. Für Kirche sollten daher Eltern, Kinder und Jugendliche eigentlich die zentralen Zielgruppen ihrer Arbeit sein, denn in Familien zu investieren heißt, in die Zukunft von Kirche zu investieren. 

In der Praxis fristet die Arbeit mit und für Familien in den Kirchen bislang jedoch meist ein Nischendasein. Zwar gibt es in vielen Gemeinden oft Angebote der evangelischen Familienbildung in Form von Eltern-Kind-Gruppen, offenen Begegnungsangeboten und Erziehungskursen. Die Familienbildung wird jedoch selbst innerhalb von Kirche oft als Feld der Bildungsarbeit vergessen, steht ständig unter Kostendruck und ist nur prekär finanziert. Ansätze der kirchlichen Familienarbeit werden in der Ausbildung kirchlicher Hauptamtlicher nicht thematisiert. Auch von wissenschaftlicher Seite gibt es bislang keine empirische Forschung zur Frage, was sich Familien eigentlich von Kirche wünschen und wie eine gelingende evangelische Familienarbeit aussehen könnte. Aus diesem Grund führte die Evangelische Hochschule Ludwigsburg die Studie „Familien gefragt“ durch, auf deren Ergebnisse sich die folgenden Abschnitte beziehen.7  Die Studie zeigt: Es besteht Handlungsbedarf, will Kirche Familien in ihrer Vielfalt erreichen und unterstützen.

Kirche und Familie – eine fragile Beziehung

Die Beziehung zwischen Kirche und Familien ist heute komplexer denn je. Einerseits sind viele Familien durchaus offen für kirchliche Angebote. Der Eintritt in Elternschaft regt zum Nachdenken über Glauben und Religion an und die Frage, inwieweit eine selbst erfahrene religiöse Sozialisation an die eigenen Kinder weitergegeben werden soll. Andererseits hat die Kirche mit einem eher negativen Image zu kämpfen. Viele Befragte empfinden sie als „verstaubt“ und wenig relevant für ihren Alltag. Besonders kritisch sehen Familien die mangelnde Familienfreundlichkeit vieler Gottesdienste. Die Studie macht deutlich: Familien brauchen die Kirche heute nicht mehr zwingend. Die Kirchenmitgliedschaft wird nur als eine Option unter vielen religiösen und weltanschaulichen Angeboten gesehen. Viele Eltern können sich vorstellen, christliche Werte auch ohne Kirchenzugehörigkeit zu leben und an ihre Kinder weiterzugeben. Trotzdem: Die Mehrheit der Befragten möchte sich eine Gesellschaft ohne Kirche nicht vorstellen. Besonders die diakonische Arbeit wird als hochrelevant und unerlässlich für den sozialen Zusammenhalt gesehen. Beratungsstellen oder Kindertagesstätten in kirchlicher Hand genießen bei Eltern – unabhängig von ihrer eigenen Konfessionszugehörigkeit – hohes Vertrauen. Wenn Kirche ihrem Anspruch an Nächstenliebe Taten folgen lässt, erhält sie viel Zuspruch.

Die Studie offenbart ein komplexes Dreiecksverhältnis aus Kritik, Respekt und Distanz. Während viele Familien die sozialen Aktivitäten der Kirche schätzen, fühlen sie sich oft von den Strukturen und Angeboten nicht angesprochen. Besonders Alleinerziehende und Regenbogenfamilien berichten von Ausgrenzungserfahrungen aufgrund ihrer Lebensform. Auch neu zugezogene Familien bekommen in ihnen unbekannten Gemeinden oft keinen Fuß in die Tür, dabei sind gerade sie sehr offen für Kontakte und Netzwerke in ihrem neuen Wohnumfeld. 

Insgesamt zeigt die Befragung von Familien, dass evangelische Angebote dann für Familien attraktiv sind, wenn diese lebensdienlich sind – sei es durch ein Kinderbetreuungsangebot, eine gemeinsame Mahlzeit oder alltagsbezogene Impulse im Gottesdienst. Zudem möchten Familien partizipativ einbezogen werden, wenn es darum geht, was sie vor Ort benötigen. Familienorientierung sollte kein Mittel zum Zweck sein, um religiöse Inhalte zu vermitteln oder die Teilnahmezahlen zu steigern, sondern aus echtem Interesse an den Bedürfnissen der Menschen erfolgen. 

Unterstützungsmöglichkeiten durch Kirche

Wie kann die Kirche nun konkret auf die Bedarfe von Familien reagieren? Die Studie „Familien gefragt“ liefert hier wertvolle Erkenntnisse aus der Praxis von 15 untersuchten Gemeinden, die bereits erfolgreich Familienarbeit leisten. Auch wenn die strukturellen Gegebenheiten in den Gemeinden unterschiedlich sind, so sind gemeinsame Erfolgsfaktoren zu erkennen. Von zentraler Bedeutung ist es, sowohl im Bereich der Gemeindearbeit (also Gottesdienste, Kasualien etc.), als auch im Bereich der Gemeinwesenarbeit (Arbeit in den Sozialraum hinein) familienorientierte Angebote zu konzipieren. 

Willkommenskultur

Erfolgreiche Familienarbeit zeichnet sich durch eine offene Willkommenskultur aus. Familien wollen so akzeptiert werden, wie sie sind - in all ihrer Vielfalt hinsichtlich ihrer konfessionellen Zugehörigkeit sowie ihrer Familienform. Dabei ist es wichtig, sich an den veränderten Lebensrealitäten von Familien zu orientieren, indem z. B. berücksichtigt wird, dass Mütter auch erwerbstätig sind und sich Väter auch mehr Zeit mit ihren Kindern wünschen. So sind zum Beispiel von der Gemeinde organisierte Vater-Kind-Wochenenden bzw. Freizeiten bei Familien äußerst beliebt. 

Präsenz im Sozialraum

Die untersuchten Gemeinden betonen, dass Familienarbeit „reine Beziehungsarbeit“ ist, soll sie erfolgreich sein. Kontakte zu Familien sind essenziell, um vor Ort bedarfsgerechte Angebote zu entwickeln und Ehrenamtliche zu gewinnen. Wichtig dafür ist es, dass Hauptamtliche im Sozialraum präsent sind. Dies kann zum Beispiel bei Bring- und Abholsituationen in Kita und Schule durch lockere Gespräche mit Eltern entstehen oder bei Gemeindefesten. Eine befragte Gemeinde fährt mit einem Kaffeemobil regelmäßig auf Spielplätze, um Beziehungen zu Familien aufzubauen. 

Alltagspraktische Angebote

Angebote sind attraktiv, wenn sie einen praktischen Mehrwert liefern. Hierfür können Gemeinden ganz unterschiedliche Wege gehen. Offene Begegnungsangebote wie Familiencafés oder Eltern-Kind-Gruppen ermöglichen es zum Beispiel, miteinander in den Austausch zu kommen und sich gegenseitig weiterzuhelfen. Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche wie Kitas oder auch Sommerfreizeiten entlasten doppelt erwerbstätige Eltern. Lebensdienlich sind auch Flohmärkte für Kinderkleidung, Begrüßungsdienste für neu zugezogene Eltern oder Gesprächsangebote mit Kinderbetreuung für Paare. Sehr gut angenommen werden auch Winterspielplätze in Gemeindehäusern, die Familien in der kalten Jahreszeit Begegnung ohne Konsumzwang ermöglichen.

In Gottesdiensten Neues wagen

Reguläre Sonntagsgottesdienste werden von den meisten Eltern als äußert unattraktiv kritisiert. Die untersuchten Gemeinden erreichen dagegen viele Familien mit generationsübergreifenden Gottesdiensten (wie z. B. „Kirche Kunterbunt“), die in alternativen Räumen (z. B. unter freiem Himmel oder im Gemeindehaus) lebensnahe Impulse mit abwechslungsreicher Musik geben und die anschließend eine Erfahrung von Gemeinschaft mithilfe einer gemeinsamen warmen Mahlzeit ermöglichen. So können Kirchengemeinden die so wichtigen Beziehungen mit Familien aufbauen, neue Gesichter in der Gemeinde persönlich willkommen heißen und einen Eindruck bekommen, was Familien vor Ort im Alltag bewegt.

Ehrenamtliches Engagement stärken

Hauptamtliche haben in der Regel keine Stellenanteile für Familienarbeit. Ressourcen für Diakon*innen, Gemeindepädagog*innen sowie Sozialarbeiter*innen mit Familienschwerpunkt sind zudem nur selten in den Landeskirchen vorhanden. Familienarbeit ist deshalb in hohem Maße auf die Unterstützung von Hauptamtlichen durch ehrenamtliche Kräfte angewiesen. Attraktiv für Ehrenamtliche ist eine experimentierfreudige Grundhaltung der Hauptamtlichen. Gute Ideen sollten einfach ausprobiert werden dürfen. 

Kooperationen im Sozialraum

Als wichtiger Erfolgsfaktor erweist sich die Bereitschaft von Gemeinden, mit anderen im Sozialraum zu kooperieren. Dazu gehören z. B. Kindertagesstätten, Familienzentren, Schulen, andere Kirchengemeinden, diakonische Einrichtungen, Familienbildungsstätten, Beratungsstellen und Vereine. Solche Kooperationen ermöglichen ein vielfältigeres Angebot, schaffen Synergieeffekte und erreichen Familien, die sonst kaum Kontakt zur Kirche hätten.

Fazit

Die Herausforderungen für Familien in unserer Gesellschaft sind heute vielfältig. Gleichzeitig bietet sich der Kirche hier die Chance, mit bedarfsgerechten Angeboten Familien in ihrem Alltag zu unterstützen und neue Zugänge zu schaffen. Der Weg zu einer wirklich familienorientierten Kirche erfordert jedoch ein Umdenken auf allen Ebenen. Die Profilierung von Familienarbeit kann nicht ohne die Bereitstellung dauerhafter Ressourcen erfolgen. Die Hauptamtlichen stehen vor der großen Herausforderung, wie sie neben ihren bereits bestehenden Aufgaben im vollen Berufsalltag auch noch Angebote für Familien durchführen sollen. Diese Arbeit kann nicht allein auf den Schultern freiwilliger Ehrenamtlicher lasten. Personelle Mittel sollten langfristig eingeplant und nicht an befristete Projekte gekoppelt werden. Bereits vorhandene Angebote der Familienbildung sollten gestärkt werden. Eine weitere Unterstützung wäre z. B. eine Servicestelle auf Ebene der Landeskirchen, die Gemeinden bei der Antragsstellung für Fördermittel unterstützt, zeitgemäße Materialien für die Familienarbeit erstellt und den Erfahrungsaustausch untereinander fördert. Entscheidend ist es zudem, die Familienarbeit wesentlich stärker als bisher in der Ausbildung künftiger Hauptamtlicher zu verankern. Nur wenn Kirche sich den realen Bedarfen von Familien öffnet, kann sie als relevanter Akteur in einer sich wandelnden Gesellschaft bestehen.

Anmerkungen

  1. BMFSFJ, Familienreport 2024, 40. 
  2. A.a.O., 99. 
  3. Rosa, Resonanz, 341. 
  4. Possinger u.a., Familien gefragt, 53. 
  5. Ebd.
  6. Vgl. Domsgen, Familie und Religion.
  7. Ebd. Für die Studie wurden 40 württembergische Familien in unterschiedlichen Familienkonstellationen, Lebenslagen und mit vielfältigen konfessionellen Zugehörigkeiten qualitativ befragt. 

Literatur

  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFK) (Hg.): Familienreport 2024, Berlin 2024
  • Domsgen, Michael: Familie und Religion. Grundlagen einer religionspädagogischen Theorie der Familie, Leipzig 2006
  • Possinger, Johanna / Alber, Jannika / Pohlers, Michael / Rauen, Daniela: Familien gefragt. Impulse für eine familienorientierte Kirche, Göttingen 2023
  • Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016