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Posthumanistische Zukünfte und die Neuvermessung des Menschen

von Marcell Saß

Digitale Zeiten

Wir sind angekommen im Zeitalter der Digitalisierung1  und haben das Gutenberg-Zeitalter endgültig verlassen. Um zu dieser Einschätzung zu kommen, genügt ein flüchtiger Blick in die Zeitung auf dem Tablet, in die täglichen Nachrichten via Smartphone oder auch die Teilnahme an einer Anhörung zur Novellierung etwa des Hessischen Lehrkräftebildungsgesetzes vor einiger Zeit via YouTube. Letzteres zeigt nachdrücklich auch auf normativer Ebene: Das Querschnittsthema „Digitalisierung“ wird in Lehre und Forschung, in Ausbildung und Praxis ein Schlüsselthema sein oder werden. Immerhin sind die Veränderungen, die wir durchleben, die Art, wie wir kommunizieren, wie wir unser Leben organisieren, wie wir lehren und lernen, etwa seit einer Dekade im Verbund mit Fragen von Nachhaltigkeit, Demokratiebildung und Diversität zu der großen gesellschaftlichen Herausforderung schlechthin avanciert. Der Prozess der Digitalisierung ist unumkehrbar, eine neuartige „Kultur der Digitalität“2  hat Einzug gehalten und durchdringt sämtliche Lebensbereiche. Die Medienevolution der letzten 15 Jahre, z.B. seit Einführung des ersten von Apple vorgestellten iPhone im Jahre 2007, ist eine Medienrevolution.

Die jetzt mehr als zwei Jahre andauernde Corona-Pandemie hat diesen Vorgang übrigens nur noch beschleunigt. Zwar gibt es (auch) jetzt wieder ein verstärktes Nachdenken über Präsenzformate, über die Grenzen von Online-Gottesdiensten oder die Notwendigkeit leiblichen Lernens. Dennoch ist unübersehbar, dass sich in unserem Miteinander Grundlegendes gewandelt hat. Offenkundig sind wir schon in post-digitalen Zeiten3, die eine eindimensionale Gegenüberstellung analoger und digitaler Welten, eine vermeintlich zu treffende Wahl von Präsenz oder Online, von Virtualität oder Materialität, von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und digital vermittelten Artefakten als obsolet ausweisen und auf die selbstverständliche Einbettung des Digitalen in unsere gegenständliche, alltägliche Normalität verweisen. Kurz gesagt: Wir bemerken die Digitalität als eine alles durchdringende Kultur eigentlich nur noch dann, wenn etwas nicht funktioniert.

Die Folgen unserer Ankunft im globalen, digitalen Zeitalter und die Auswirkungen dieser epochalen Transformationsprozesse auf unsere Vorstellungen vom Menschen werden gegenwärtig vielfältig erforscht, mit der Einsicht, dass eindimensionale fachliche Zugänge in der Regel unzureichend sind, während inter- bzw. transdisziplinäre Zugänge einen größeren Erkenntnisgewinn versprechen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen eines Clusters „Integrierte Forschung“ geförderte Projekt „Souveränität in Digitalisierten Lebenswelten“ (SoDiLe)4  der Fachhochschule Bielefeld und der Philipps-Universität Marburg bearbeitet aktuell die Frage, ob und wie junge Menschen sich souverän in einer Kultur der Digitalität bewegen, wenn zugleich unübersehbar ist, dass sie als Digital Natives bereits unauflösbar in einen Prozess der Digitalisierung verwoben sind. Der Forschungsansatz führt anthropologisch-bildungstheoretische bzw. religionspädagogische und rechtswissenschaftliche Perspektiven zusammen und integriert dabei empirische sowie hermeneutische Perspektiven.

Innerhalb des Projektes SoDiLe fragen wir prinzipiell nach den Selbst-Verständnissen von 13- bis 15-Jährigen und untersuchen in Gruppendiskussionen mit Schüler*innen deren Erfahrungen im Umgang mit digitalen Technologien. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob und wie sich die seit der europäischen Aufklärung vor allem in Bildungszusammenhängen etablierten Vorstellungen vom Selbst, vom individuellen Subjekt und von Souveränität des Einzelnen auch in post-digitalen Zeiten überhaupt noch als konjunktive Erfahrungsräume (R. Bohnsack) derer rekonstruieren lassen, die wir in Bildungsprozessen in Schule und Gemeinde adressieren. Zugespitzt formuliert: Letztlich fragen wir danach, ob unsere Anthropologie in der Religionspädagogik als Grundlage von Bildung und Religion noch adäquat ist. Erste Ergebnisse der Studie werden im kommenden Jahr vorliegen, doch bereits jetzt zeigt sich nach den ersten Pretests, die die Marburger Doktorandin Julia Marburger durchgeführt hat, ein bemerkenswerter Eindruck: Allein die Tatsache, dass Erwachsene Jugendliche nach den Merkmalen ihrer Smartphone-Nutzung fragen, wird von denen mit heiterem Unverständnis wahrgenommen. Zu selbstverständlich ist nämlich die artifizielle Integration technischer Nutzungsroutinen in die Alltäglichkeit des Lebens. Wer danach explizit fragt, gibt sich als Bewohnerin eines vergangenen Zeitalters aus.

Unterwegs in posthumanistische Zukünfte

Reden wir heute über die Zukunft, so legen wir doch eher Zeugnis davon ab, wie wir unsere Gegenwart wahrnehmen. Erkenntnistheoretisch ist ja doch unstrittig: Wüssten wir die Zukunft empirisch gesichert, so wäre sie gar keine mehr, sondern schon die Gegenwart! Und wer nach vorn schaut, auch theoretisch, trägt dabei die Vergangenheit mit sich, als Rahmen und Deutungshorizont.5 Dennoch lässt sich im Kontext von AI, Algorithmen, von leidenschaftlich diskutierten Datenschutzfragen, von extensiver Nutzung von Instagram und TikTok eine polarisierende Debatte um eine altbekannte Frage beschreiben: Was ist eigentlich für uns Menschen gut und sinnvoll?

Neu ist die geringe Unsicherheitstoleranz angesichts technischer Innovationen sicher nicht, Technikängste begleiteten schon von jeher große menschheitsgeschichtliche Umbrüche. Erinnert sei aber auch daran, wie sehr die Erfindung des Buchdruckes z.B. die protestantische Reformation überhaupt erst möglich machte. Und dass der Siegeszug der Lebenswissenschaften und die Dominanz rationaler, vernunftbasierter Erkenntnis im Rahmen religiöser Institutionen und akademischer Theologie vor gut 200 Jahren eben auch (bis heute) nicht nur stürmische Begeisterung hervorriefen, ist auch offensichtlich.

In der Rückschau auf die Sattelzeit der Aufklärung, aber auch die Impulse der Reformation lässt sich lernen, Umbrüche und Neuentwicklungen nicht nur als Gefährdung zu sehen, sondern als Chance zur Gestaltung zu begreifen. Die gegenwärtigen Transformationen lassen sich als anthropologische Neuvermessung deuten, die nicht verfallstheoretisch gedeutet werden muss. Michel Serres‘ „Liebeserklärung“6 an die von ihm als „Däumlinge“ bezeichneten jungen Menschen betont die Chancen digitaler Umbrüche, um deren aktive Gestaltungsmöglichkeiten Serres die jungen Menschen heute beneidet. Serres‘ Ode an die vernetzte Generation leistet für religionspädagogische Grundlagenforschung im Zeitalter der Digitalisierung zweierlei, weil er einerseits institutionenkritisch argumentiert, andererseits jedoch zugleich technik- bzw. fortschrittsoptimistisch bleiben kann.

Religionspädagogik und (evangelische) Theologie sind aufgerufen, empirisch und hermeneutisch die oben entfaltete, postmoderne Binsenweisheit konstruktiv aufzugreifen, nämlich aus der Einsicht, mit einem epochalen Umbruch konfrontiert zu werden, neu uns vertraute Vorstellungen vom Menschen, vom Subjekt und von der Person zu bestimmen. Hilfreich dürfte dabei ein Dialog mit dem französischen Philosophen Michel Foucault sein. Der hatte vor 50 Jahren schon in seiner „Ordnung der Dinge“ das „Verschwinden des Menschen“ vorausgesagt.7

Auch der Frage nach grundlegenden Konzepten der sog. Subjektwerdung, die immer noch als zentraler Zielhorizont religiöser Bildung firmiert, wird sich heute kaum jemand entziehen können; sie muss vermutlich gar ganz neu oder zumindest völlig anders beantwortet werden. Aktuelle posthumanistische und transhumanistische Perspektiven in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen bieten hierzu vielfältige, leider in der Religionspädagogik bislang kaum beachtete, Anregungen. Ihnen gemein ist jeweils, dass sie konzeptionell die gegenwärtigen (technischen) Entwicklungen als einen Bruch mit grundlegenden Annahmen westlicher Kulturen deuten. Dabei geht es um ein neues Verständnis des Verhältnisses des Menschen zur Welt und Natur mit dem Ziel, tradierte anthropozentrische Deutungen so zu bearbeiten, dass neue Sichtweisen auf die Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Technik möglich werden.8 Post- und Transhumanismus unterscheiden sich jedoch erheblich9: Im Transhumanismus wird ein Projekt der „Verbesserung“ des Menschen verfolgt. Der Mensch als unvollkommenes, sterbliches, leidendes Lebewesen soll optimiert werden; Krankheit, Tod und Alter sollen beseitigt werden. Anders verfährt ein kritischer Posthumanismus, der mit Namen wie Braidotti, Haraway oder Latour verbunden ist. Hier wird der Platz des Menschen auf der Erde als Gefährdung und gefährdet zugleich lokalisiert. Wir sind gerade herausgefordert neu zu klären, was schon Immanuel Kant fragte: „Was ist der Mensch?“10 

Die in zahlreichen Studien dokumentierte Verbreitung digitaler Medien bei Jugendlichen belegt diese anthropologischen Beobachtungen und markiert Herausforderungen für Schule und Hochschule, für Ausbildung und Bildung gleichermaßen. Schließlich haben wir eben auch davon auszugehen, dass ein digital-souveräner Umgang mit Technologie nur dann möglich ist, wenn den Handelnden verständlich ist, wie diese prinzipiell funktioniert. Es geht in Bildungsprozessen eben auch um den kompetenten Umgang mit digitalen Technologien, aber nicht nur: Aus der grundlegenden Neuvermessung des Menschen und der Veränderung von Selbst-Konzepten folgen tiefgreifende Überlegungen, die unsere Vorstellung von Schule, Religion, und auch Religionsunterricht vermutlich nachhaltig verändern werden und müssen. Genau hier könnte doch eine in der Tradition der europäischen Aufklärung als „Sattelzeit“11 lokalisierte evangelische Theologie und Hermeneutik gut anschließen, mit ihrem tiefen Interesse am Verständnis des Menschen – im Kontext. Es geht dann um die Notwendigkeit einer grundsätzlichen, möglicherweise neuen Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Medien und Religion und um die Neuformatierung anthropologischer Vorstellungen.

Ausblicke

Unstrittig ist, dass die Kultur der Digitalität auch religiös-kirchliche Praxen und religiöse Bildung bereits nachhaltig verändert hat. Ob nun Dialogpredigten im Videokonferenzformat über Kontinente hinweg, digitale Lernplattformen, per E-Mail versandte Gemeindebriefe, Gottesdienste in virtuellen Realitäten oder per Zoom: Nicht erst die pandemischen Zeiten deuten auf eine Erweiterung religiöser Praxis in technisch vermittelten Kommunikationsprozessen hin. Auch eine digitale „Kommunikation des Evangeliums im Kontext“ ist künftig vielfältig neu zu gestalten.12 Grundsätzliche Gewohnheiten, wie wir über „Religion“ nachdenken, werden irritiert, wenn digitale Varianten tradierte schulische und kirchliche Praxen transformieren. Das mag man bedauern, unter Umständen jedoch auch beherzt Potenziale markieren, die darin liegen könnten.13

Mitten in aufregenden gesellschaftlichen Zeiten wäre es doch ein Gewinn, über die ethisch-moralische Auseinandersetzung um die Nutzung und den Nutzen neuer Technologien hinaus eine grundlagentheoretisch bemerkenswerte Herausforderung anzugehen, nämlich tiefer zu verstehen, wie und wo die gegenwärtigen anthropologischen Transformationsprozesse produktiv und konstruktiv auch in Lehr-Lern-Settings als Anregungen zu lokalisieren wären.14 Die uns selbstverständlich gewordene Digitalität könnte für die christliche Anthropologie dann folgenreich sein, wenn wir darin einen Prozess fundiert bearbeiten, der jede mediale Konstruktion auf neue Weise als Konstruktion von Wirklichkeit verstehbar macht: „A way of capturing this deep, consistent and self-reinforcing role of media in the construction of the social world is to say that the social world is not just mediated but mediatized: that is, changed in its dynamics and structure by the role that media continuously (indeed recursively) play in its construction.”15

Evangelische Theologie im Allgemeinen und die Religionspädagogik im Speziellen sollten künftig noch beherzter intra- und interdisziplinäre Formen in Forschung und Lehre finden – im Dialog mit den Technik- und Kommunikationswissenschaften etwa mögen dann gar neue Chancen liegen, die Frage nach Sinn und Ziel theologischer Wissenschaft neu zu beantworten. Dabei dürften neue Potenziale der Selbst-Vergewisserung eines traditionsreichen Faches zu entdecken sein, weil hier an einer gegenwärtig großen gesellschaftlichen Herausforderung nicht nur binnentheologisch und -kirchlich, sondern im Dialog mit anderen Wissenschaften konstruktiv gearbeitet wird.

Was für die Theologie als Wissenschaft, für theologische Bildung und Ausbildung gilt, betrifft auch die (evangelische) Kirche und den (evangelischen) Religionsunterricht: Digitalisierungsprozesse, die Einsicht in post-digitale Zeiten mit einer grundlegend anderen Selbstverständlichkeit des Umgangs mit Technik, ermutigen dazu, religionsunterrichtliche Praxen, kirchliches Selbst-Verständnis und Institutionen neu zu gestalten – wie schön!

Anmerkungen

  1. Vgl. Mikoski, On the Mediation of the Mediation of the Mediation, 6-11.
  2. Stalder, Kultur der Digitalität.
  3. So mit Negroponte, Being Digital.
  4. Vgl. dazu https://integrierte-forschung.net .
  5. Vgl. Saß, Deutungsmacht und die Geschichte religiöser Bildung, 75-90.
  6. Serres, Erfindet euch neu!
  7. Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge.
  8. Vgl. Bolter, Art. Posthumanism.
  9. Vgl. hierzu grundlegend Krüger, Virtualität und Unsterblichkeit.
  10. Kant, Kritik der reinen Vernunft.
  11. So der Begriff für den Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert von Reinhart Koselleck, Einleitung, 9-16.
  12. Vgl. Grethlein, Kirchentheorie, 51–123, der Kirche in ihrem Transformationsprozess von der Bewegung zur staatsanalogen Institution nachzeichnet und in eben dieser Staatsanalogie eine wesentliche Hürde für die Fortentwicklung der (ev.) Kirche im digitalen Zeitalter ausmacht.
  13. Vgl. hierzu Rudolff, Sublan-Gottesdienste; Marcell Saß, „Rent a Pastor?“.
  14. Vgl. dazu Mahon, Posthumanism.25.
  15. Couldry/Hepp, The Mediated Construction of Reality, 15.

Literatur

  • Bolter, David J.: Art. „Posthumanism“, in: The International Encyclopedia of Communication Theory and Philosophy 2016
  • Couldry, Nick/ Hepp, Andreas: The Mediated Construction of Reality, Cambridge 2017
  • Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1974
  • Grethlein, Christian: Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin/Boston 2018
  • Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. von Ingeborg Heidemann, Stuttgart 1993
  • Kossellek, Reinhart: Einleitung, in: ders. (Hg.),: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979; 9-16
  • Krüger, Oliver: Virtualität und Unsterblichkeit. Gott, Evolution und die Singularität im Post- und Transhumanismus, Freiburg 2004
  • Mahon, Peter: Posthumanism. A Guide für the Perplexed, London 2017
  • Mikoski, Gordon: On the Mediation of the Mediation of the Mediation. The (Im)possibility of Online Communion and the Limits of Online Worship, in: Liturgie und Kultur 9 (2018)
  • Negroponte, Nicholas: Being Digital, New York 1998
  • Rudolff, Claudia: Sublan-Gottesdienste, in: Liturgie und Kultur 9 (2018)
  • Saß, Marcell: Deutungsmacht und die Geschichte religiöser Bildung, in: Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralf Kunz, Thomas Schlag (Hg.): Machtvergessenheit. Deutungsmachtkonflikte in praktisch-theologischer Perspektive, Berlin 2021, 75-90
  • Saß. Marcell: „Rent a pastor?“ – Beobachtungen zur Ritualpraxis im Zeitalter der Digitalisierung, in: Ulrike Wagner-Rau/Emilia Handke (Hg.): Provozierte Kasualpraxis. Rituale in Bewegung, Stuttgart 2019
  • Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Frankfurt am Main, 2016