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Medizinethischer Blick auf das Ende menschlichen Lebens

von Sabine Salloch

Sprechen wir in diesen Tagen von ethischen Fragen in der Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen, so steht oft das Thema der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung („ärztlich assistierter Suizid“) im Vordergrund der Diskussion. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 eindrucksvoll hervorgehoben, dass die Entscheidung von Personen, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, als ein Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren ist. Davon ausgehend wurde der bisherige §217 des Strafgesetzbuchs, der die geschäftsmäßige (d.h. auf Wiederholung angelegte) Förderung der Selbsttötung verboten hatte, für nichtig erklärt. Auch Fragen der aktiven Sterbehilfe („Tötung auf Verlangen“; gemäß § 216 Strafgesetzbuch in Deutschland verboten) sind regelmäßig Gegenstand gesellschaftspolitischer Diskussionen – insbesondere im Blick auf Länder des europäischen Auslands (v.a. Niederlande und Belgien), die die entsprechende Praxis unter strengen Bedingungen straffrei gestellt haben.

Während die prominenten Themen Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen an vielen Stellen den Diskurs dominieren, erhalten alltägliche und quantitativ viel bedeutsamere Fragen in der Begleitung sterbender Menschen demgegenüber oft weniger Aufmerksamkeit. Es sind dies die ethischen Themen der Sterbebegleitung. Unter Sterbebegleitung versteht man (im Unterschied zur Sterbehilfe, die lebensverkürzend wirkt) Formen der Begleitung von Menschen in der letzten Phase ihres Lebens, die neben medizinischen auch psychische, soziale und spirituelle Aspekte adressieren kann. Sterbebegleitung wird auf Palliativstationen und in Hospizen, aber auch in anderen stationären Pflegeeinrichtungen und in der häuslichen Umgebung geleistet. Während die Beihilfe zur Selbsttötung nach dem Stand empirischen Wissens (ein schwer zu erforschendes Feld!) vermutlich nur relativ selten in Anspruch genommen wird und die in Deutschland verbotene Tötung auf Verlangen sich eher auf Einzelfälle beschränkt, betreffen Fragen der Sterbebegleitung alle Menschen, die sich in der Endphase einer lebenslimitierenden Erkrankung befinden.

In ihren Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung1 macht die Bundesärztekammer (BÄK) deutlich, dass es ärztliche Aufgabe ist, das Leiden Sterbender zu lindern und ihnen bis zum Tode beizustehen. Eine allein am Gedanken der Heilung orientierte Medizin, im Rahmen derer sterbende Menschen als „austherapiert“ betrachtet werden, entspricht damit weder dem ärztlichen Ethos noch der bestehenden Praxis. In palliativen Situationen, d.h. in medizinischen Situationen, in denen eine Heilung nicht mehr möglich ist, müssen Ärztin oder Arzt gemäß den Grundsätzen der BÄK zunächst für die notwendige „Basisbetreuung“ (menschenwürdige Unterbringung und Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Symptomen wie Schmerz, Atemnot, Übelkeit sowie von Hunger und Durst) sorgen. Welche Therapien darüber hinaus angewendet werden, soll im Einzelfall und unter Berücksichtigung des Patientenwillens entschieden werden. Die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung besteht nicht unter allen Umständen, d.h. ein Verzicht auf Therapien ist im Einverständnis mit der Patientin bzw. dem Patienten legitim. Zurückhaltung im Hinblick auf medizinische Therapien in der letzten Phase des Lebens ist oft schon deswegen angezeigt, weil es vielfach kein Therapieziel mehr gibt, das etwa mit einer Beatmung oder dem Versuch einer Wiederbelebung erreicht werden könnte. In Verbindung damit ist die Angst vor einer Übertherapie am Lebensende für viele Patient*innen sehr bedeutsam. Unter Übertherapie versteht man Maßnahmen, für die keine medizinische Indikation besteht und die i.d.R. nicht dem Patientenwillen entsprechen. Gründe für eine Übertherapie sind vielfältig und können zum Beispiel in einer Fehleinschätzung der Situation (Überschätzung des Therapieerfolgs), Kommunikationsdefiziten oder ökonomischen Interessen liegen.2 Instrumente der gesundheitlichen Vorausverfügung (etwa Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten oder Advance Care Planning) dienen dazu, auch für den Fall der eigenen Einwilligungsunfähigkeit sicherzustellen, dass keine unerwünschten Therapien mehr durchgeführt werden, und greifen damit etwa die Sorge auf, „das Leiden zu verlängern“ oder „nur noch an Schläuchen zu hängen“.

Die Palliativmedizin hat sich als eigene Fachdisziplin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet und ist inzwischen auch in Deutschland in hohem Maße institutionalisiert und professionalisiert. Palliativmedizin kann sowohl in Krankenhäusern als auch im ambulanten Bereich (als Allgemeine Ambulante Palliativversorgung (AAPV) oder als Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)) praktiziert werden und steht prinzipiell allen Menschen in Deutschland zur Verfügung, wobei in der Praxis die Versorgung nicht immer flächendeckend voll gewährleistet ist. Neben dem medizinisch-ganzheitlichen Blick auf den Menschen zeichnet sich Palliativmedizin durch ihren interdisziplinären Charakter aus, der neben der ärztlichen Profession stets auch weitere Berufe einbezieht. Es ist offensichtlich, dass eine umfassende Begleitung des Sterbens nicht nur medizinische Expertise, sondern in gleichem Maße auch Kompetenzen etwa aus den Bereichen Pflege, Psychologie und Sozialarbeit sowie auch seelsorgerliche Begleitung umfasst, sofern es den Wünschen der Patientin oder des Patienten entspricht. Es handelt sich um die Begleitung von Menschen, die in aller Regel darum wissen, dass sie in absehbarer, wenn auch nicht auf den Tag festlegbarer Zeit an ihrer Erkrankung versterben werden. Dass sich in dieser Lebensphase existenzielle Fragen (etwa nach der „Bilanz“ des eigenen Lebens, nach Schuld und Fehlern oder im Hinblick auf die Zeit nach dem Tode) stellen, ist naheliegend. Diese Fragen werden individuell von den Betroffenen in sehr unterschiedlicher Weise zum Ausdruck gebracht oder auch nicht offen angesprochen.

Einen Schritt weiter als die Palliativstationen gehen gewissermaßen die Hospize, die als Einrichtungen der Sterbebegleitung das Sterben noch stärker aus dem medizinischen Kontext lösen. Als zumeist unabhängige Einrichtungen (oft in Trägerschaft der Kirchen oder in Vereinsform organisiert) stehen sie zwar in enger Kooperation mit medizinischen Versorgern, zeigen aber eine Tendenz, der Medikalisierung des Sterbens entgegenzuwirken, etwa wenn im Hospiz nicht von „Patient*innen“, sondern von „Gästen“ die Rede ist. Unter Medikalisierung versteht man in der Medizintheorie Entwicklungen, im Rahmen derer ursprünglich nicht medizinisch definierte Lebensbereiche mehr und mehr zum Gegenstand medizinischen Handelns und dem Gesundheitssystem einverleibt werden. Sterben ist zunächst einmal eine Lebensphase und eine existenzielle Erfahrung, die auch mit körperlichen Symptomen einhergeht, welche oft der Behandlung bedürfen. Eine Verlagerung des Sterbeortes in Einrichtungen des Gesundheitswesens kann aber dazu führen, dass die somatische (körperliche) Dimension des Sterbens gegenüber anderen Aspekten stark in den Vordergrund tritt oder es – aufgrund der vorhandenen Möglichkeiten – vielleicht sogar zu einer Übertherapie am Lebensende kommt. (Interessanterweise ist ein zweites historisch wichtiges Beispiel für Medikalisierung die Entwicklung der Geburtshilfe und die zunehmend medizinisch dominierte Begleitung eines primär nicht pathologischen Vorgangs.) Hospize haben in aller Regel keine festangestellten Ärzt*innen, sondern die medizinische Versorgung erfolgt über Niedergelassene oder den Kontakt zu einem Krankenhaus. Darüber hinaus spielen die spezialisierte Pflege, aber auch die Begleitung durch ausgebildete ehrenamtliche Mitarbeiter*innen eine besonders wichtige Rolle. In diesem Sinne können Hospize auch als Orte zivilgesellschaftlichen Engagements angesehen werden und dazu beitragen, Tod und Sterben in der Öffentlichkeit zu enttabuisieren.

Relativ selten wird in der medizinethischen Literatur thematisiert, dass nicht nur Suizidassistenz und Sterbehilfe, sondern auch die Praxis der Sterbebegleitung, wie sie etwa in Hospizen geleistet wird, ethische Probleme mit sich bringen kann.3 Auch hier können sich moralisch schwierig zu entscheidende Fragen stellen, die etwa aus einem Konflikt zwischen der Patientenselbstbestimmung („Patientenautonomie“) und dem Fürsorgeprinzip (Gebot, zum Wohle der anvertrauten Menschen zu handeln) herrühren. Solche moralischen Fragen können etwa berührt sein, wenn Hospizgäste zwar unter Schmerzen leiden, eine analgetische (schmerzlindernde) Therapie aber ablehnen. Auch mit Angehörigen kann es Divergenzen oder sogar Konflikte geben, welche etwa darin begründet liegen, dass Angehörige das Sterben eines nahen Verwandten schwer akzeptieren können. Themen, die in solchen Situationen eine Rolle spielen, betreffen etwa Essen und Trinken, die von Menschen in der Sterbephase häufig ab einem gewissen Zeitpunkt abgelehnt werden, was vom Umfeld nicht immer einfach zu akzeptieren ist. Andere Arten von moralischen Konflikten können sich aus institutionellen Leitgedanken und Werthaltungen von Hospizen ergeben – etwa dann, wenn Gäste den Wunsch nach Hilfe zur Selbsttötung oder nach aktiver Sterbehilfe äußern.

Die multidimensionale Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen kann letztlich nur in multiprofessionellen und gut funktionierenden Teams gelingen. Die tägliche Konfrontation mit den Themen Sterben und Tod hat dabei auch Auswirkungen auf die Teammitglieder und sollte – etwa in Form einer Supervision – regelmäßig aktiv adressiert werden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass an vielen Stellen der gesellschaftliche Umgang mit dem Sterben sowie religiös und kulturell geprägte Vorstellungen einen erheblichen Einfluss auf die Situation der Sterbenden und ihre Begleitung haben. Sterbebegleitung ist daher keine ausschließlich ärztliche Aufgabe, sondern erfordert vielfältige Kompetenzen unter Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen Dimension. Die Anerkennung der Tatsache, dass es sich beim Sterben um eine Lebensphase handelt, hilft der Isolation von Menschen am Ende ihres Lebens vorzubeugen und das Gespräch über Tod und Sterben (sowohl gesellschaftlich als auch innerhalb von Familien) zu enttabuisieren.

„Heilen manchmal, lindern oft, trösten immer“ heißt es in einem mittelalterlich inspirierten Sprichwort. Für Ärzt*innen, aber auch für andere (Gesundheits-)Berufe und für die Gesellschaft stellt sich damit die Aufgabe, Menschen am Ende ihres Lebens nicht alleinzulassen, sondern die Sterbebegleitung als eine gemeinsame Aufgabe zu verstehen.

 

Anmerkungen

  1. Bundesärztekammer, Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung.
  2. Thöns, Patient ohne Verfügung.
  3. Salloch/Breitsameter, Selbstbestimmung bis zuletzt.

 

Literatur

  • Bundesärztekammer: Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, in:  www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Sterbebegleitung_17022011.pdf (28.04.2022)
  • Salloch, Sabine/Breitsameter, Christof: Selbstbestimmung bis zuletzt – Möglichkeiten und Grenzen der Autonomieausübung im stationären Hospiz aus der Perspektive haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiter, in: Ethik in der Medizin 23 (2011), 217-230
  • Thöns, Matthias: Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende. München 2016