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Was ist der Mensch? Grundzüge der biblischen Sicht des Menschen

von Bernd Janowski

Auf die Frage, was der Mensch ist, sind seit der vorhellenistischen Antike zahlreiche Antworten gegeben worden, die sich zu wenigen Grundtypen zusammenfassen lassen.1  Unter ihnen ragt die Antwort der Biblischen Anthropologie hervor, weil sie den Menschen als Geschöpf sieht, das auf das „Gedenken“ seines Schöpfers angewiesen ist (Ps 8,5) und das zugleich als beziehungsfähig beschrieben wird. Im Folgenden sollen diese Beziehungen zu Gott, zu sich selbst, zum Mitmenschen und zu den Tieren anhand ausgewählter Beispiele beschrieben werden.


Der Mensch – die „lebendige næpæsch“

Zu den Charakteristika alttestamentlicher Anthropologie zählt zunächst der die personale Identität konstituierende Zusammenhang von Leib und „Seele“ (næpæsch) oder besser: von Leib und „Leben(skraft)“.2  Wie dieser Zusammenhang zustande kommt, lässt sich Gen 2,4b.7, dem anthropologischen locus classicus der nichtpriesterlichen Schöpfungsgeschichte, entnehmen:
4bAm Tag, als JHWH Elohim Erde und Himmel machte, …3
7da formte JHWH Elohim den Menschen aus Erde vom Ackerboden, und blies in seine Nase den Hauch des Lebens (nischmat chajjim). Da wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen (næpæsch chajjah).

Gen 2,7 besteht aus zwei Teilsätzen, die jeweils ein Handeln JHWHs beschreiben – JHWH „formte“ den Menschen wie ein Tongebilde „aus Erdkrume vom Ackerboden“ und „blies Lebensatem in seine Nase“ – und einer Folgeschilderung, die besagt, dass der erschaffene Mensch nicht ein vitales Selbst hat, sondern ein vitales Selbst ist: „Da wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen / Lebewesen (næpæsch chajjah)“. Der Zusammenhang zwischen der Formung des Menschen aus „Erde vom Ackerboden“ und der Einhauchung des „Lebensatems“ durch Gott ist dabei so eng wie möglich, d.h. die Erschaffung des Menschen vollzieht sich in einer materialen Herstellung (Formung) und einer Belebung (Einhauchung), wodurch der Mensch insgesamt zu einer næpæsch chajjah wird. Damit hat der Mensch eine irdische und eine göttliche Seite, ohne allerdings Anteil am Göttlichen zu erhalten (vgl. Gen 3,19; Ps 104,29), schematisch (vgl. Abb. 1).

Die „Lebendigkeit“ des Menschen, die ihn bei seinem Tod wieder verlässt (vgl. Gen 35,18), ist das Proprium der alttestamentlichen Anthropologie. Dazu tritt als weiteres Kennzeichen die Gemeinschaftsbezogenheit (Sozialität) des Menschen, wie das ganzheitliche Menschenbild des Alten Testaments durchgängig zeigt.


Ein ganzheitliches Menschenbild

Das Alte Testament kennt „keine Abwertung des Leiblichen, keinen Dualismus von Geist / Seele und Leib4“. Im Unterschied zu den dicho- bzw. trichotomischen Konzepten geht die alttestamentliche Anthropologie, wie man sich am Beispiel von Ps 84,3 klarmachen kann, von anderen Parametern aus:
Es lechzt, ja es sehnt sich mein Leben (næpæsch) nach den Vorhöfen JHWHs,
mein Herz (leb) und mein Fleisch (basar) jubeln dem lebendigen Gott zu.

Mit „Leben(skraft)“, „Herz“ und „Fleisch“ sind hier verschiedene Aspekte der Person – ihre Bedürftigkeit, ihre Vernunft und ihre Hinfälligkeit – gemeint, die damit zwar unter diesen Einzelaspekten, aber immer in ihrer Ganzheit erscheint. Vielleicht sollte man genauer von einer komplexen und differenzierten Ganzheit, d.h. vom menschlichen Körper nicht als Organismus, sondern als Kompositum seiner Glieder und Organe und deren spezifischen Funktionen sprechen. Charakteristisch ist dabei der enge Zusammenhang zwischen Körperorgan bzw. -funktion und emotionalen wie kognitiven Erlebnishorizonten. So können Begriffe für Körperorgane wie das „Herz“ emotionale wie kognitive Vorgänge bezeichnen (Spr 23,16 u.a.), und umgekehrt können soziale oder psychische Konflikte bestimmte Körperorgane wie die „Nieren“ in Mitleidenschaft ziehen (Ps 73,21 u.a.).
Dieser Zusammenhang ist für die alttestamentliche Anthropologie konstitutiv. Nehmen wir als Beispiel den Begriff næpæsch „Leben(skraft), Vitalität“. Wie die neuere Diskussion gezeigt hat, hat der Begriff næpæsch einen organischen Fixpunkt (Kehle, Schlund, vgl. Jes 5,14; Hos 9,4 u.ö.), der für die einzelnen Bedeutungsaspekte (Verlangen, vitales Selbst, individuelles Leben u.a.) grundlegend ist und immer wieder durchscheint.5  Ein Beispiel dafür ist die Klage Ps 42,2-6, die die existentielle Not des Beters in ein eindrückliches Sehnsuchtsbild fasst, das möglicherweise vom Motiv der Wasser suchenden Hirschkuh auf judäischen Siegeln des 8./7. Jh. v.Chr. inspiriert ist (vgl. Abb. 2):6

 

2Wie eine Hirschkuh lechzt an Wasserbächen, so lechzt mein Leben (næpæsch) nach dir, Gott.

3Es dürstet mein Leben (næpæsch) nach Gott, dem lebendigen Gott: wann werde ich kommen und ‹sehen› das Gesicht Gottes?

4Es wurden mir meine Tränen (zu) Brot bei Tag und bei Nacht, wenn man zu mir sagt den ganzen Tag: „Wo ist dein Gott?“

5Daran denke ich und schütte aus mein Leben (næpæsch) in/bei mir, dass ich ‹im Kreis der Edlen› zum Haus Gottes zog unter der Stimme des Jubels und Dankes einer feiernden Schar.

6Was zerfließt du, mein Leben (næpæsch), und was begehrst du auf gegen mich? Harre auf Gott, denn ich werde ihm wieder danken, der Rettung ‹meines› Gesichts ‹und› meinem Gott. (Ps 42,2–6)

 

Für das Verständnis dieser Klage ist die Parallelität von schapak „ausschütten“ (+ næpæsch) und zakar „erinnern, gedenken“ in V.5a zu beachten. Denn die Erinnerung des Beters hält das fest, was an der heilvollen Vergangenheit (V.5b) für die trostlose Gegenwart (V.2–4) bedeutsam ist – nämlich die Nähe Gottes –, um zu einem angemessenen Verhalten zu finden. Der Beter stößt also auf das Missverhältnis von einst und jetzt, was ihn zu einer Neubestimmung seiner Situation coram Deo bringt. Diese Neubestimmung äußert sich in den Fragen von V.6a, mit denen er seine næpæsch als Gegenüber anspricht („du“) und sie auffordert, auf Gott zu harren, für dessen Rettung sie ihm wieder dankbar sein wird (V.6b, vgl. V.5b). So gelangt die lechzende (V.2), dürstende (V.3) und klagende næpæsch (V.5a) an einen Punkt, an dem die Trostlosigkeit der Gegenwart überwunden und die Rettung durch den lebendigen Gott erfahren wird.


Leibsphäre und Sozialsphäre

Ein Text wie Ps 42/43 zeigt: Nach alttestamentlichem Verständnis beruht die personale Identität des Menschen auf dem komplexen Zusammenhang von Körperbild und Sozialstruktur.7 Was sich auf der einen Ebene (Leibsphäre) als Krankheit vs. Gesundheit oder als Trauer vs. Freude zeigt, das wird auf der anderen Ebene (Sozialsphäre) als Schande vs. Ehre oder als Rechtsnot vs. Gerechtigkeit/Rechtfertigung erlebt. Entsprechend wird die Leben / Tod-Problematik gesehen: „Leben“ ist das Prinzip der verknüpfenden, personalen Identität und soziale Gemeinschaft stiftenden Kraft. Die Klagelieder des Einzelnen bringen dies mittels einer Semantik zum Ausdruck, die die Eingebundenheit des Beters in die Sozialsphäre in den Blick nimmt. „Tod“ dagegen ist das Prinzip des alles auflösenden und isolierenden Zerfalls. Die Klagelieder des Einzelnen bringen dies mittels einer Semantik zum Ausdruck, die den Körper des Beters in der Vielheit seiner Glieder und Organe, also die Leibsphäre in den Blick nimmt. Leibsphäre und Sozialsphäre entsprechen sich also. Deshalb kann das Leben schon vor dem biologischen Tod enden, wenn sich die sozialen Bindungen lockern und Kräfte auf den Plan treten, die die Individualpsalmen in der Gestalt des Feindes verorten (vgl. Ps 42,4 u.ö.). Ps 13 bringt dies paradigmatisch zum Ausdruck (die Körperbegriffe im Folgenden kursiv):

 

2Wie lange, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Wie lange verbirgst du dein Gesicht vor mir?

3Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner næpæsch, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Wie lange erhebt sich mein Feind über mich?

4Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! Mach hell meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe,

5damit mein Feind nicht behauptet: „Ich habe ihn überwältigt!“, meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke!

6Doch ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung: „Singen will ich JHWH, dass er an mir gehandelt hat!“8

 

Konstellativer Personbegriff

Diese Zusammenhänge lassen sich mit Hilfe des konstellativen Personbegriffs9  beschreiben: Einerseits wird der menschliche Körper als eine konstellative, d.h. aus einzelnen Teilen oder Gliedern zusammengesetzte Ganzheit gedacht; andererseits bedeutet menschliches Leben die Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge oder Rollen. So ist der Mensch bestimmt durch „ein Netzwerk vorgegebener Relationen, aus dem er sich nicht herausnehmen kann, innerhalb dessen sich ihm aber ein definierter Gestaltungsraum eröffnet“, in dem er mit anderen kommuniziert bzw. interagiert. Die personale Identität kommt danach nicht durch eine die Selbst- und Außenwahrnehmung steuernde „Rationalität“, sondern durch Konstellationen zustande, die komplexe, auf Gegenseitigkeit (Mann/Frau, Individuum/Gemeinschaft, Gott/Mensch, Mensch/Tier) ausgerichtete Beziehungen des Menschseins zum Ausdruck bringen. Wie grundsätzlich das Alte Testament diese Konstellationen reflektiert hat, zeigt auch die definitorische Gestalt der anthropologischen Leitsätze wie Gen 2,18, Mi 6,8 u.a., unter denen Ps 8,5 eine besondere Bedeutung zukommt.


Psalm 8 als anthropologischer Grundtext

Im Zentrum von Ps 8 stehen die sachlich parallelen JHWH-Prädikationen V.2b–3 und V.4–9, die von den beiden Bewunderungsrufen V.2a und V.10 gerahmt werden. Diese theozentrische Perspektive bringt auch V.5 zum Ausdruck, wenn er die Frage nach dem Wesen des Menschen durch den Hinweis auf das „Gedenken“ (zakar) und das „Nachsehen, In-Augenschein-Nehmen“ (paqad) durch JHWH beantwortet (V.5b) und damit konstatiert, dass sich die Menschenwerdung des Menschen in der Situation „vor Gott“ (coram Deo) ereignet:

 

1Dem Chormeister. Nach der Gittit. Ein Psalm Davids

2JHWH, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde! Der du deine Hoheit gelegt (gegeben) hast auf den Himmel.

3Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht gegründet um deiner Bedränger willen, um zum Aufhören zu bringen Feind und Rächer.

4Wenn ich sehe deinen Himmel, das Werk deiner Finger, (den) Mond und (die) Sterne, die du befestigt hast –

5Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und der einzelne Mensch, dass du nach ihm siehst?

6Du hast ihm wenig fehlen lassen im Vergleich mit Gott, und mit Ehre und Pracht hast du ihn gekrönt.

7Du hast ihn zum Herrscher gesetzt über das Werk deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße:

8Kleinvieh und Rinder, sie alle, und auch die (wilden) Tiere des Feldes,

9die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was durchzieht die Pfade der Meere.

10JHWH, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde!

 

Der Mensch ist Mensch, weil Gott an ihn denkt und wohlwollend nach ihm sieht (vgl. Ps 144,3) oder weil er – wie Hi 7,17f. diesen Gedanken fortschreibt – sein „Herz“ prüfend auf ihn richtet. Das Verb paqad führt die Aussageintention von zakar weiter und steigert sie sogar, indem es zum mentalen („denken an“) noch einen sinnlichen Aspekt („nachsehen, in Augenschein nehmen“) hinzufügt.

Die dem Verb zakar eignende intentionale Ausrichtung ist auch für das parallele paqad charakteristisch, das die Zuwendung JHWHs im Sinn eines wohlwollenden Interesses am Menschen zum Ausdruck bringt, d.h.: Gott überlässt den Menschen in Situationen akuter Bedürftigkeit nicht sich selbst, sondern er ist „ihm darin stets anteilnehmend und wohlwollend zugetan, so daß er aufmerksam nach ihm sieht und erkundet, wessen er bedarf“ . Diese Aufmerksamkeit Gottes gilt allen Menschen und sie gilt, wie der Hinweis auf die majestätische Höhe und Weite des nächtlichen Himmels (Mond und Sterne) deutlich macht, dem Menschen in seiner Kleinheit und Hinfälligkeit. Damit steht sie im Dienst der Herausstellung der Größe des Schöpfers von Himmel und Erde (V.2b.10!) und damit „der Gnade, die darin besteht, daß dieser so große Gott sich dem so kleinen / hinfälligen Menschen zuneigt“ . So beantwortet Ps 8 die Frage nach dem Menschsein mit dem Hinweis darauf, dass Gott seines Geschöpfs gedenkt und sich seiner annimmt, wenn es dessen bedarf. Diese Empathie des Schöpfergottes ist der Ausgangspunkt und die Basis für alles andere. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht mir nicht um ein naives Plädoyer für die Rückkehr zum Menschenbild des Alten Testaments. Auf der anderen Seite sollten wir nicht vergessen, dass die anthropologischen Einsichten des Alten Testaments, die in der zweigeteilten christlichen Bibel aufbewahrt sind, uns mehr prägen, als uns zuweilen bewusst ist. Die in ihnen reflektierte conditio humana „unverkürzt in Erinnerung zu halten“ , ja vielerorts erst wieder bewusst zu machen, gehört zu den bleibenden Aufgaben von Theologie und Kirche.

 

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu Thies, Art. Mensch, 1515–1526. Für die hebräischen Termini wird im Folgenden eine vereinfachte Umschrift gewählt.
  2. Das hebräische Wort næpæsch bedeutet nicht (unsterbliche) „Seele“, sondern „Leben(skraft)“; vgl. dazu Janowski, Anthropologie, 52ff.
  3. In V.5f. folgen Umstandssätze, die den Zustand der Erde vor dem Auftreten der Pflanzen und der Kulturarbeit des Menschen beschreiben.
  4. Albertz, Art. Mensch, 466.
  5. Vgl. dazu Janowski, Anthropologie, 52ff.
  6. Die Abbildung ist entnommen aus Keel / Uehlinger, Göttinnen, 209 Abb.200b.
  7. Vgl. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 7ff.50ff.
  8. Zu diesem Text vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 53ff.
  9. Zum konstellativen Personbegriff vgl. auch Frevel, Art. Anthropologie, 1-7.

 

Literatur

  • Albertz, Rainer: Art. Mensch, in: TRE 22 (1992), 464-474
  • Frevel, Christian: Art. Anthropologie, in: Angelika Berlejung / Christian Frevel (Hg.): Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2. Aufl. 2009, 1-7
  • Janowski, Bernd: Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Göttingen 6. Aufl. 2021
  • Janowski, Bernd: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019
  • Keel, Othmar / Uehlinger, Christoph: Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Fribourg, Schweiz 6. Aufl. 2010
  • Moxter, Michael: Anthropologie in systematisch-theologischer Perspektive, in: Jürgen van Oorschot (Hg.): Mensch, Tübingen 2018, 141-186
  • Schnieringer, Helmut: Psalm 8. Text – Gestalt – Bedeutung, Wiesbaden 2004
  • Thies, Christian: Art. Mensch, in: Peter Kolmer / Armin G. Wildfeuer (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe 2, Freiburg / München 2011, 1515-1526