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Sind wir fertig mit der Reformpädagogik? Resonanzpädagogik – ein reformpädagogischer Entwurf der Gegenwart

Barbara Hanusa

 

Die 1910 von Paul und Edith Geheeb gegründete Odenwaldschule war lange Jahre ein Symbol der deutschen Reformpädagogik, ein pädagogisches Mekka, zu dem pilgerte oder gehörte, wer in Sachen schulischer Bildung etwas auf sich hielt. Der Physikdidaktiker Martin Wagenschein war von 1924 bis 1933 dort als Lehrer tätig. Die in dieser Zeit erlebte pädagogische Praxis bildete die Grundlegung für seine – immer noch aktuellen– Forschungen und Arbeiten zum genetischen und exemplarischen Unterricht. Martin Buber, Ellen Key und Rabindranath Tagore, um nur einige zu nennen, waren in den Anfangsjahren der Schule feste Bezugsgrößen der pädagogischen Provinz.1  Seit dem Frühjahr 2010 ist das einst berühmteste Internat der Reformpädagogik als Ort sexualisierter Gewalt2  von unvorstellbarem Ausmaß bekannt geworden3 , für den als einer der Haupttäter der Schulleiter Gerold Becker (1936 – 20104 ), Theologe und Pädagoge, persönlich eng verbunden mit Hartmut von Hentig 5, verantwortlich zeichnet. Weit über 100 Kinder und Jugendliche wurden in der Internatsschule Opfer von sexueller Gewalt, mit unvorstellbaren körperlichen und seelischen Folgen für ihr Leben.6  Infolge der Aufdeckungen an der Odenwaldschule wie an katholischen Internatsschulen kam es zu einer intensiven erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung und interdisziplinären Fachdiskussion über sexualisierte Gewalt in pädagogischen Institutionen. Als Strukturbedingungen dieser Gewalt sind Ausgestaltungen der Trias aus Macht, Nähe und Geschlossenheit ausgemacht worden: „Je stärker die dominanzhafte Hierarchie in einer schulkulturellen Ordnung installiert ist, je diffus entgrenzter die Lehrer-Schüler-Beziehungen geregelt sind und je zeiträumlich geschlossener die innerinstitutionellen Kommunikationsprozesse organisiert sind, desto größer sind die Möglichkeitsräume für sexuellen Missbrauch anzusetzen und umso weniger ist die pädagogische Professionalität vor emotionalen Entgleisungen und Unterwerfungspraktiken geschützt, auch wenn es keine prinzipielle Immunisierung geben kann.“7  Der Begriff ,Reformpädagogik‘ ist seitdem in deutschen Kontexten beschädigt, man konnotiert sexuelle Gewalt mit reformpädagogischen Idealen wie „pädagogischer Beziehung“ oder einer „Pädagogik vom Kinde“ aus. Die Odenwaldschule in Oberhambach an der Bergstraße ist geschlossen, die Gebäude sind an einen Investor verkauft und dienen als Miet- und Ferienwohnungen. Wie aber steht es um die pädagogischen Ideen, die einst mit der Schule und der Bewegung der Deutschen Landerziehungsheime verbunden waren? Sind die ebenfalls geschlossen im Sinne von beschädigt und darum sinnentleert und erledigt? So verstehe ich die Frage, die mir seitens des Redaktionteams des Loccumer Pelikan als Anlass für diesen Artikel gestellt wurde. Von 2007 bis 2014 war ich in der Schulleitung der Ecole d’Humanité tätig, eine reformpädagogische, internationale Internatsschule auf dem Hasliberg im Berner Oberland. Eigener biografischer, zeitlicher und räumlicher Abstand ermöglicht eine Wiederannäherung. Es handelt sich um die Schule, die Paul und Edith Geheeb 1937 in der Schweiz als Folgeschule der Odenwaldschule gründeten. Letztere hatte Geheeb im März 1934 geschlossen, um mit seiner Frau, einigen Mitarbeiter*innen und 24 – vorwiegend jüdischen – Schüler*innen in die Schweiz zu emigrieren.8


Kann man mit der Reformpädagogik fertig werden?

Natürlich gibt es weder „die Reformpädagogik“ noch ist die Bewegung der „Deutschen Landerziehungsheime“ mit ihren bekannten (theologischen) Vertretern Hermann Lietz, Gustav Wyneken und Paul Geheeb mehr als ein – wenn gleich auch starker – Strang innerhalb pädagogischer Reformbemühungen.9  Der Bildungsforscher Heiner Barz, der 2018 das „Handbuch zu Bildungsreform und Reformpädagogik“ herausgegeben hat, betont ausdrücklich, dass es in aktuellen Bildungsdiskussionen, die von Themen wie internationalen Leistungsvergleichen (PISA), Bildungsstatistiken und Bildungsstandards dominiert würden, darum gehe, neben der kritischen Auseinandersetzung mit Konzepten der „klassischen Reformpädagogik“ deren Innovationspotenzial und Anregungsgehalt weiter wahrzunehmen und zu diskutieren: „Die methodische Innovation, die Gestaltung des Schullebens, die Ermöglichung sozialer und kultureller Erfahrungen, die Förderung der individuellen Potenziale – diese für eine gelingende Pädagogik unverzichtbaren Elemente markieren in unterschiedlicher Ausprägung die nach wie vor fruchtbaren Kernbereiche der Reformpädagogik.“10 Das lässt sich so verstehen, dass es nach Barz einen Grundbestand an reformpädagogischem Anregungspotenzial gibt, der pädagogisches Denken und Handeln gegenwärtig weiterhin sinnvoll beschäftigt. Susanne Thurn, ehemalige Schulleiterin der Laborschule Bielefeld (1990 – 2013) – eine Schule, die untrennbar mit dem Namen ihres Gründers Hartmut von Hentig verbunden ist – setzt auf eine „Reformpädagogik nach der Reformpädagogik“.11  Diese basiert auf und realisiert sich für sie in der Überzeugung und Erfahrung, dass Schulreformen Reformschulen brauchen.12  Dabei handelt es sich um Schulentwicklung aus der Praxis für die Praxis – sozusagen von unten. Modellbildend steht ihr dafür der Schulverbund „Blick über den Zaun“ vor Augen, der 1989 von rund 15 Schulen, darunter u.a. mehrere Landerziehungsheime wie Schule Schloss Salem, Landheim Schondorf, Birklehof, Odenwaldschule und Ecole d’Humanité, als Initiative befreundeter Schulleiter*innen begann und in dem, unterstützt von der Robert Bosch Stiftung, ein Evaluationskonzept, das auf Gegenseitigkeit beruhte, entwickelt wurde.13  Als reformpädagogische Urüberzeugungen beschreibt Thurn folgende:
•    Schule in der Demokratie muss Schule für alle ohne jegliche Ausgrenzung sein.
•    Bildung heißt, sich bilden; Schule heißt, Kinder dazu zu befähigen.
•    Lernen gelingt besser im Zusammenhang der Dinge.
•    Wo mit Interesse gelernt wird, ist Zeitverlust Zeitgewinn.
•    Vorbild bewirkt mehr als Belehrung.
•    Lernen wird durch Zwang nicht gefördert.14

Der Theologe und Pädagoge Ralf Koerrenz, der sich seit seiner Dissertation über Landerziehungsheime während der Weimarer Republik (1992) durchgehend mit reformpädagogischer Forschung beschäftigt, wählt zur Klassifizierung von Reformpädagogik einen bildungstheoretischen Zugang, in dem er zwei Wesensmerkmale als konstitutiv ausmacht: Als erstes zentrales Merkmal von Reformpädagogik ist zu benennen, dass sie immer in kritischer Auseinandersetzung bzw. Abgrenzung zur jeweiligen zeitgenössischen Kultur entwickelt wurde, im 18. Jahrhundert im Gegenüber zu der im Entstehen begriffenen bürgerlichen Gesellschaft und ihren Machtstrukturen, im 19. Jahrhundert als kritischer Gegenentwurf zur Industrialisierung und der darin enthaltenen Vermassung des Individuums.


Und ihr zweites zentrales Merkmal ist die Ausrichtung pädagogischen Denkens und Handelns auf die Lernenden. „Reformpädagogik ist untrennbar verbunden mit der kritischen Analyse der jeweiligen Kultur, und Reformpädagogik geht es um die Bedingungen und Möglichkeiten des Lernens aus der Perspektive der Lernenden.“15 Insofern wird man mit der Reformpädagogik niemals fertig werden können. Es wird immer pädagogische Entwicklungen als kritische Reflexionen und Reaktionen auf die jeweilige gesellschaftliche Kultur geben, die sich an der Perspektive der Lernenden orientiert.


Resonanz anstelle entfremdender und entfremdeter Distanz und Gleichgültigkeit

Im 21. Jahrhundert erfüllt die Resonanzpädagogik sowohl das Kriterium der kritischen Abgrenzung gegen vorherrschende gesellschaftliche Lebensbedingungen als auch die Ausrichtung pädagogischen Handelns auf die Lernenden.16  Mit ihrer Resonanzorientierung in Folge des sozialphilosophischen Entwurfs von Hartmut Rosa wendet sie sich gegen die Bedrohung, dass Beziehungen des Menschen zur Welt durch beschleunigte, technische und kausal orientierte Handlungsorientierungen immer stärker zum Schweigen gebracht werden. Rosa beschreibt das vorherrschende Weltverhältnis als ein entfremdetes, das sich in ständiger Reichweitenvergrößerung, zunehmender Kontrolle und Verfügbarmachung ausdrückt. In der Tradition der kritischen Theorie entfaltet er die daraus resultierenden Wahrnehmungen einer verstummten Beziehung zwischen Subjekt und Welt. „Das Alltagsleben durchschnittlicher spätmoderner Subjekte in den Zonen, die der sogenannten ‚entwickelten westlichen‘ Welt zugerechnet werden, konzentriert sich und erschöpft sich mehr und mehr in der Abarbeitung von explodierenden To-do-Listen, und die Einträge auf dieser Liste bilden die Aggressionspunkte, als die uns die Welt begegnet … wir müssen erledigen, besorgen, wegschaffen, meistern, lösen, absolvieren.“ 17 Auf diesem gesellschaftsanalytischen Hintergrund entwickelt Rosa sein Gegenkonzept der Resonanz: „Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten.“18 Übertragen auf das Bildungs- und Schulsystem gerät dessen Ressourcenorientierung kritisch in den Blick: „Die Ressourcenorientierung besagt, dass schulisches Lernen und Lehren darauf abzielen, Bildung als Ressource im Sinne eines Kapitals zu vermehren. Eine Schule muss demnach sicherstellen, dass sie zur effektiven Vermehrung von Wissen, Können und Fertigkeiten oder kurz: zur Kompetenzsteigerung beiträgt.“19  Bildung wird zu einer Ware, wie es der Bildungsforscher El-Mafaalani beschreibt: „Derzeit dominiert sowohl in der Bildungspolitik als auch in der Bildungsforschung ein Begriffsverständnis, das auf ökonomische Verwertbarkeit, Messbarkeit und gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtet ist, das heißt, Bildung hat zunehmend den Charakter einer Ware und einer Währung. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass diese gesellschaftlichen Setzungen neu sind. Sie waren immer präsent, sind heute aber expliziter und dominanter denn je.“20  Bildung als Humankapital verstanden – dabei handelt es sich um die Summe wirtschaftlich und gesellschaftlich verwertbarer Fähigkeiten und Kenntnisse von Personen – wird zum Leitbegriff, gegen den resonanzpädagogisches Handeln sich positioniert. Bezogen auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Lernens Heranwachsender, betont die Resonanzpädagogik, dass für den Erwerb von Kompetenzen, Wissen und Fähigkeiten, für das Aneignen von Ressourcen sowie für das Entstehen von Leistungsbereitschaft durch intrinsische Motivation die Qualität der Interaktionsbeziehungen entscheidend ist. „Die Grundintuition der Resonanzpädagogik lautet: Von der Qualität der Weltbeziehung hängt ab, ob Bildung und Schule gelingen oder misslingen.“21

 
Die herausfordernden und belastenden Situationen von Kindern, Jugendlichen und Studierenden während der letzten langen Monate der Pandemie haben gezeigt, wie zentral der soziale Interaktionsraum Schule nicht nur fürs Lernen, sondern auch für die Lebenszufriedenheit und persönliche Entwicklung von Heranwachsenden ist. Kinder brauchen Kinder, Jugendliche brauchen Jugendliche, und alle gemeinsam brauchen bildende Resonanzräume. Beziehung und Verbindung sind aus pädagogischer Perspektive die zentralen Kategorien von Resonanz. Im Gegenüber zu einem überwiegend ökonomisch orientierten Bildungsverständnis werden im Folgenden zentrale Denkfiguren von Resonanzpädagogik entfaltet, deren Nähe zu grundlegenden reformpädagogischen Denkfiguren sich unmittelbar zeigen lässt. Es geht um die Bedeutung des Berührt-Werdens für nachhaltige Lern- und Verstehensprozesse, um Selbstwirksamkeit als zentrale Figur in Bildungsprozessen, um die Öffnung von vielfältigen Resonanzräumen unabhängig von Herkunftsfamilien sowie um das Zusammenspiel von Kognition und Leiblichkeit in Prozessen des Lernens.


Berührt werden

„Man kann richtige Worte gebrauchen und richtige Zusammenhänge richtig sagen, ohne zu wissen, was eigentlich los ist“.22  Die Beobachtung, mit der Martin Wagenschein 1980 entfremdetes Lernen beschreibt, trifft auch gegenwärtig auf viele Lernprozesse zu. Bulimie-Lernen ist ein – wenn auch kein modernes – weit verbreitetes Phänomen. „Es gibt ein substanzielles Element eines Bildungsprozesses, das in den Einrichtungen nicht immer gelingt: das Berührt- und Bewegt-Werden. Oder genauer, dass eine Erkenntnis mein Selbst-Welt-Verständnis berührt und bewegt. Etwas Äußeres, Fremdes wird zum Inneren, Eigenen – und somit verändert man sich selbst beziehungsweise verändert sich das Selbst.“23  Anstelle von hochtourigem Lernen24, das überwiegend aus Kumulation und Anpassung besteht, liegt eine Herausforderung für nachhaltiges Lernen in dem Beziehungsaufbau und der -bildung zu den Gegenständen. Solchem Lernen ist nicht gleichgültig, was in Unterricht und Schule passiert. Bildungsgeschehen ist Beziehungsgeschehen im Modus des konstruktiven Dialogs mit Sachen und Menschen. Resonanzpädagogik legt den Fokus des Lernens zentral auf Berührt-Werden und sich Berühren-Lassen. Bildung wird dabei als Weltbeziehung und nicht als Ressourcenbildung verstanden. Unter Resonanz versteht man Beziehungen, die ein Moment der Unverfügbarkeit, der Affizierbarkeit, der Selbstwirksamkeit und der Transformation enthalten.25 Die soziale und kulturelle Welt soll den Menschen so berühren, dass er in seiner Seele oder seinem Verstand bewegt wird, sich bewegen lässt. Bildungsstoffe werden dabei als etwas erfahren und verstanden, dass Lernenden etwas Wichtiges zu sagen hat.26 Christoph Türcke charakterisiert gegenwärtige Lernkultur in den Schulen als einen „Kompetenzgenerierungsbetrieb“, der massenweise „Kompetenzkrüppel“ erzeugt, „die erschreckend wenig wissen, weil sie zwar alles googeln können, aber unfähig sind, sich in Sachverhalte so zu vertiefen, dass sie ihnen zu eigen, vertraut und lieb werden.“27
 
Unterricht als einen bildenden Resonanzraum zu verstehen, akzentuiert das Berührt-Werden, ein sich Berühren-Lassen von den Inhalten, neu und bezieht es als zentralen Faktor des Unterrichts- und Lerngeschehens in die Didaktik ein. Resonante Didaktik zielt darauf, dass Lernende sich mit Inhalten verbinden und ihnen nicht beziehungslos oder gleichgültig gegenüberstehen. Resonanzpädagogik ist Beljan zufolge am ehesten vergleichbar mit einer Beziehungsdidaktik, die von einem Primat der Beziehung ausgeht: „Resonanzpädagogik zielt auf die Ermöglichung spezifischer Beziehungserfahrungen zwischen Menschen, Bildungsstoffen und den über diese vermittelten Weltausschnitte.“28  Er versteht sie als „Weltbeziehungsbildung“, die für ihn einen dritten Raum zwischen der Kompetenzorientierung und der ästhetischen Bildung darstellt und auf beide angewiesen ist. Gelingende Weltbeziehungen sind Beziehungen mit einer spezifischen, einer resonanten Wechselwirkung. „In Resonanzbeziehungen machen wir die Erfahrung, dass es da draußen aber auch in uns Dinge gibt, die uns ansprechen, uns herausfordern, infrage stellen – kurz: die uns berühren und uns bewegen.“29

Der Resonanzpädagogik liegt dabei der Begriff des bildenden Lernens zugrunde. Dabei geht es nicht um das Erlernen oder die Aneignung einer Wissensressource, sondern resonante Lernerfahrungen führen zu einer Transformation des Selbst-Welt-Verhältnisses. Unterricht bringt resonanztheoretisch verstanden Prozesse in Bewegung. Er ist ein Anstoß der Lehrenden für Resonanzprozesse zwischen Lernenden und dem Lerngegenstand innerhalb einer Lerngemeinschaft. Seine Aufgabe liegt darin, die Zusammenhänge und Differenzen, Wirkungen und Brüche an Koordinaten der und Zugangsweisen zur Welt bewusst zu machen und Schüler*innen Richtungen und richtungsweisende Resonanzachsen zur Orientierung und Lebenswirksamkeit zu eröffnen.

Resonantes Lernen vollzieht sich in der Spannung zwischen Ergriffensein und dem selbsttätigen Ergreifen. Was eine*n Lernende*n berührt und beschäftigt, entscheidet sich im Selbst. „Denn das Prinzip der intellektuellen Entwicklung kommt von innen, vom Lernenden selbst: Die Entdeckungen macht jeder selbst; die Disziplin ist Selbstdisziplin, und jede Selbstverwirklichung ist das Ergebnis der eigenen Initiative. Unsere Aufgabe als Lehrer*in und Dozent*in ist es, Enthusiasmus zu wecken und die Umgebung für Entdeckungen, Eigeninitiative und Selbstdisziplin zu schaffen.“30 Im Zentrum solchen Lerngeschehens steht die Überzeugung von der Selbstentwicklung in individuellen Bildungsbiografien, die angeregt und angeleitet werden sollen. Schule soll so organisiert sein, dass Aufmerksamkeit, zähes Staunen und ein gründliches sich Einlassen auf sowie eine persönliche Auseinandersetzung mit Bildungsstoffen immer wieder möglich wird. Selbstwirksamkeit und intrinsische Motivation der Schüler*innen leiten das Unterrichtsgeschehen. Eine resonanzorientierte Lernkultur unterstützt die Herausbildung von Erkenntnissen, die durch gründliche Auseinandersetzung, Nachdenken und in lebendiger und eingeübter Dialogkultur entstehen. Ihnen wird Zeit und Raum gegeben für eigene Fragen und Lernwege, für selbstständiges Erkunden und Forschen.


Schule: ein Haus voll bildender Resonanzräume

Alle empirischen Studien für Deutschland stimmen in dem Punkt überein, dass Klassenzugehörigkeit und Bildungsniveau der Eltern einen klaren Effekt auf die Schul- und Berufslaufbahn von Kindern haben. Bildungsungerechtigkeit ist hierzulande ein starkes Phänomen, das sich durch die einschneidenden Maßnahmen der Corona-Krise verschärft hat. Herkunft bestimmt Zukunft: 86 Prozent der im Deutschen Schulbarometer befragten Lehrkräfte gehen aktuell davon aus, dass sich die Effekte der sozialen Ungleichheit durch die aktuellen Schulschließungen verstärkt haben werden. Schulen brauchen, so die Forderung aus der Erziehungswissenschaft, konzeptionell eine systematische Berücksichtigung sozialer Ungleichheit, die sich in ungleichheitssensibler Förderung ausdrückt, um ungleiche Startbedingungen von sozial Benachteiligten auszugleichen.31 Öffentliche Schule – als ein Haus des Lernens für alle konzipiert– kann eine egalisierende Funktion haben, anstatt Ungleichheiten zu manifestieren, wenn dort erlebt, kennengelernt und gelernt werden kann, was die Welt zu bieten hat. Eine so konzipierte Schule öffnet potenzielle Resonanzräume für alle Heranwachsenden, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Ganztagsschulen bieten dann keine Betreuungsangebote für den Nachmittag, sondern ein jahrgangsübergreifendes Programm. In dieser Konzeption von Schule steckt das reformpädagogische Bildungsideal des Lernens mit Herz, Kopf, Hand und Fuß, in dem eine kognitive und leibliche Ausrichtung des Lernens als untrennbar voneinander verbunden gesehen wird.

Resonante Bildung ist immer kognitiv und leiblich zugleich ausgerichtet – in diesem Zusammenspiel ganzheitlich. Sie geht davon aus, dass Wissen, Gefühle, Fähigkeiten und Fertigkeiten vernetzt miteinander arbeiten, und zielt auf ein Lernen, das handlungsorientiert und aktivierend, stoffreduziert und exemplarisch, problemorientiert und ganzheitlich aufgestellt ist. In vielen der Landerziehungsheime war und ist das akademische Lernen dem praktischen, handwerklichen Tun konzeptionell gleichgestellt, häufig in der Zweiteilung des akademischen Epochalunterrichts am Morgen und des kreativ-körperlichen Tuns am Nachmittag. Töpfern, Malen, Steinmetzen, Schmieden, Nähen, Stricken, Sticken, Musizieren, Singen, Tanzen, Theater spielen, Meditieren, Schreiben, Debattieren, Wandern, Schwimmen, Ski fahren, Nachbarschaftshilfe, Gärtnern, Kochen und vieles mehr gehörte in der Ecole d’Humanité zum Unterricht selbstverständlich dazu. Auch öffentliche Schulen können in multiprofessionellen Teams mit außerschulischen Partner*innen kooperieren, um ein solches Angebot aufzubauen. Statt finanzieller Unterstützung durch Bildungs- und Teilhabeleistungen des sog. Bildungspakets würde das dafür bereitgestellte Geld in die Schulen fließen. Lernen würde nicht länger in die beiden Bereiche Schule (öffentliche Bildung) und Freizeit (privat organisierte Bildung) aufgeteilt, sondern Ganztagsschulen ermöglichten Bildungsangebote auf allen Ebenen des Menschseins. Es geht darum, vielfältige Resonanzflächen anzubieten, denen Kinder und Jugendliche gemeinsam, unabhängig von ihrer Herkunft, begegnen und auf denen sie sich ausprobieren können.


Fortschreibung der Reformpädagogik

Trotz des Bruchs, der durch die Gewaltverbrechen an Kindern und Jugendlichen unter dem Deckmantel des sog. pädagogischen Eros innerhalb der Reformpädagogik geschehen ist und der weder zu verstehen noch mit nichts zu entschuldigen ist, bleibt der kritische Impetus reformpädagogischer Ideen auf gesellschaftliche Entwicklungen in der Perspektive für die Lernenden ein bleibendes Erbe in der Pädagogik. Wenn hier existenziell berührender Unterricht als zentrale Figur resonanzpädagogischen Handelns beschrieben wird, muss am Ende der Ausführungen stehen, dass es zuallererst um ein Berührt-Werden in der Sache und bezogen auf die Sache geht. Das Fach, dessen Inhalte und die darin liegenden welterschließenden Dimensionen machen die Basis der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden aus. Darüber hinaus ist eine Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens, der Geborgenheit und Fürsorge im Klassenzimmer der Nährboden für lebendiges Lernen.

John Hattie fordert leidenschaftliches und schülerzentriertes Lehrerhandeln, das sich für ihn in drei Dimensionen auffächert: Es geht um die Liebe der Lehrkraft zum Fach und zu dessen Inhalten. Dazu gehört der Wunsch, andere mit der Liebe zum unterrichteten Fach zu erfüllen. Und gleichzeitig fordert er als professionelles Lehrkräftehandeln eine Haltung der ethischen Fürsorge in der Gruppe. Lehrkräfte sollen ihre Kräfte zur Entwicklung eines sozio-emotionalen Klimas im Klassenzimmer einsetzen, in dem sich alle Schüler*innen gesehen und gemeint fühlen. Das Klima lebt davon, dass dort eine Lehrperson handelt, die davon ausgeht, dass alle lernen und Fortschritte erzielen können – und die sich für solches Lernen einsetzt.32 Diese ethische Fürsorge umfasst ebenfalls das Gespür und die Achtung von angemessener Distanz und Nähe in der Beziehung einer Lehrkraft zu den Lernenden.

Anmerkungen

  1. Vgl. Hanusa, Dimension, 171-216.
  2. Vgl. Keupp et. al., Odenwaldschule. Und auch Brachmann, Tatort.
  3. „Sie ist spätestens bei der Feier ihres hundertjährigen Bestehens im Jahre 2010 nicht nur zur berühmtesten, sondern auch zur berüchtigtsten Schule der Reformpädagogik in Deutschland geworden.” Ulrich, Reformpädagogik, 408.
  4.  Auch Paul Geheeb habe, so zeigt die Analyse von Elternbriefen aus der Zeit von 1930 bis 1934 auf Anschuldigungen zu sexuellem Missbrauch durch Lehrpersonen und sexuellen Übergriffen seitens anderer Schüler*innen, beschwichtigend und nicht problembewusst reagiert. Vgl. Lembke-Ibold / Geheeb, 304.
  5. Von Hentig schreibt über die Beziehung: „Gerold hat mich gesucht, um sich aus der Abhängigkeit von den Jungen zu lösen. Seine Liebe zu mir – ich glaube fest, dass es Liebe war – sollte ihn von den eigenen Abgründen retten. Sie hat es nicht“ (Hentig, Leben, 477f.).
  6. Es haben sich insgesamt 132 Betroffene bei den Juristinnen gemeldet, die mit der Berichterstellung und Dokumentation der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule betraut waren. Der Rostocker Pädagogikprofessor Jens Brachmann geht von mehr als zwei Dutzend Tätern unter den pädagogischen und technischen Mitarbeitern der Schule aus, darunter fünf sog. Intensivtäter. Vgl. Brachmann, Tatort, 123.
  7. Helsper, Nähe, 283.
  8. Über den nationalsozialistischen Einschnitt in der Odenwaldschule vgl. Hanusa, Dimension, 40-43.
  9. Zur Abgrenzung der Reformpädagogik vgl. Koerrenz, Anfang, 157. Koerrenz weist explizit auf zwei Konstruktionslinien innerhalb der Diskussion über Reformpädagogik hin: Zum einen ob es sich ob es sich um ein nationales, spezifisch deutsches Phänomen handele oder um einen internationalen Entwicklungsprozess. Zum anderen ob Reformpädagogik auf eine kritische Überwindung der Aufklärung ziele oder als eine konsequente Aufnahme von Aufklärungsmotiven vor allem hinsichtlich der Frage der Menschenrechte zu verstehen sei.
  10. Barz, 4.
  11. Thurn, Regelschulen, 571.
  12. Vgl. Huber, Reformschulen brauchen Schulreform.
  13. Vgl. www.blickueberdenzaun.de (23.05.2021). Aus dem Arbeitskreis sind mittlerweile über 150 Schulen geworden, darunter viele Schulpreisträgerschulen. Gemeinsam ist ihnen über alle Schulformen hinweg, dass sie Schulentwicklung „von unten“ betreiben, durch den Austausch von Erfahrungen und die Bündelung gemeinsam erkannter Vorstellungen, wie Schule insgesamt sich entwickeln und verändern sollte. Vgl. Thurn, Regelschulen, 573.
  14. Thurn, Regelschulen, 572.
  15. Koerrenz, Reformpädagogik, 168.
  16. Zur Diskussion um Resonanzpädagogik in religionspädagogischer Perspektive, vgl. Leonhard / Hanusa, Kompetenz.
  17. Rosa, Unverfügbarkeit, 13.
  18. Rosa, Resonanz, 762.
  19. Beljan, Resonanzpädagogik, 32.
  20. El-Mafaalani, Mythos, 26.
  21. Beljan, Resonazpädagogik, 13.
  22. Wagenschein, Naturphänomene, 27.
  23. El-Mafaalani, Mythos, 24.
  24. Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, 143.
  25. Beljan, Schule.
  26. Vgl. Beljan, Resonanzpädagogik, 17.
  27. Türcke, Lehrerdämmerung, 18.
  28. Beljan, Resonanzpädagogik, 38.
  29. A.a.O., 13.
  30. Lesch, Bildung, 125.
  31. Vgl. Al-Mafaalani, Mythos, u.a. 98, 210.
  32. Hattie, Lernen, 153.

Literatur

  • Beljan, Jens / Winkler, Michael: Resonanzpädagogik auf dem Prüfstand. Über Hoffnungen und Zweifel an einem neuen Ansatz, Weinheim 2019
  • Brachmann, Jens: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn 2019
  • El-Mafaalani, Aladin: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln 2020
  • Hanusa, Barbara: Die religiöse Dimension der Reformpädagogik Paul Geheebs, Leipzig 2006
  • Hattie, John: Lernen sichtbar machen, Baltmannsweiler 2013
  • Helsper, Werner / Reh, Sabine: Nähe, Diffusität und Asymmetrie in pädagogischen Interaktionen, in: Thole, Werner (Hg.): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik, Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich 2012, 265-290
  • Hentig, Hartmut von: Noch immer: Mein Leben. Erinnerungen und Kommentare aus den Jahren 2005 bis 2015. Was mit Kindern, Berlin 2016
  • Huber, Ludwig: Reformschulen brauchen Schulreform. In: Huber, Ludwig / Tillmann, Klaus-Jürgen: Versuchsschulen und das Regelschulsystem: Bielefelder Erfahrungen. Unter Mitarbeit von Will Luetgert, Bielefeld 2005, 37-47
  • Keupp, Heiner u.a.: Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt: Eine sozialpsychologische Perspektive, Berlin 2019
  • Koerrenz, Ralf: Reformpädagogik, Paderborn 2014
  • Koerrenz, Ralf: Reformpädagogik am Anfang des 20. Jahrhunderts? in: Heiner Barz (Hg.), Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik, Düsseldorf 2018, 157-167
  • Lembke-Ibold, Birte / Geheeb, Paul: Gemeinschaft und Familie im Landerziehungsheim, Hamburg 2010
  • Leonhard, Silke / Hanusa, Barbara (Hg.): Kompetenz, Performanz, Resonanz. Konzeptionelle Perspektiven zu Religionsdidaktik im Streitgespräch. Loccumer Perspektiven 5, Rehburg-Loccum 2021
  • Lesch, Harald / Forster, Ursula: Wie Bildung gelingt, Darmstadt 2020
  • Meyer-Drawe, Käte: Diskurse des Lernens, München 2008
  • Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016
  • Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 2. Aufl. 2019
  • Thurn, Susanne: Was lernen Regelschulen von Reformschulen? in: Heiner Barz (Hg.), Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik, Düsseldorf 2018, 571-579
  • Türcke, Christoph: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, München 2016
  • Ulrich, Heiner: Reformpädagogik im Zwielicht. Sexueller Missbrauch an der Odenwaldschule, in: Barz, Heiner (Hg.): Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik, Düsseldorf 2018, 409-416
  • Wagenschein, Martin: Naturphänomene sehen und verstehen: genetische Lehrgänge, Stuttgart 1980