„Stürzen wir nicht fortwährend?“ – Ein Praxisbeispiel zur Erschließung literarischer Texte durch die Gestaltung von Comics im Religionsunterricht

Von Anna Suslov

Nietzsches Parabel „Der tolle Mensch“ (1882) bleibt als nihilistische Zeitdiagnose fesselnd: Ein Praxisbeispiel, wie man mit Comicgestaltung im Religionsunterricht literarische Texte erschließen kann1  


Wie vermochten wir, das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?“

Nietzsche lässt einen „tollen Menschen“ sprechen, der die Menschen als Gottesmörder entlarvt und gnadenlos die Folgen ausmalt. Dabei springen die sprachlichen Bilder die Leser*innen regelrecht an und lassen sie fast schon körperlich erfahren, welch folgenschwerer Schritt hier thematisiert wird: „Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?“ Nietzsche fordert also im Gegensatz zu Feuerbach, Marx und Freud – mit deren Theorien wir uns im Religionskurs 12 im Zusammenhang mit dem Kompetenzbereich „Streit um die Wirklichkeit Gottes – Was hält der Kritik stand?“ auseinandergesetzt hatten – nicht erst, den Gottesglauben aufzugeben, sondern postuliert vielmehr, dass diese Abwendung von Gott längst stattgefunden habe. Das macht die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Hinblick auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext gewissermaßen aktuell. Die vielen bildgewaltigen rhetorischen Fragen fordern geradezu zu kreativer Arbeit heraus, und es wäre an sich schon lohnenswert, sie bildlich darstellen zu lassen. 

Nietzsches „Prophet“ (der „tolle Mensch“ aus seiner Parabel erfährt sich selbst als einen, der zu früh gekommen ist, um verstanden zu werden) bleibt bei der Erkenntnis der Bodenlosigkeit, die der „Gottesmord“ verursacht, allerdings nicht stehen, sondern postuliert, der Mensch müsse um dieses Mordes willen nun selbst göttlich werden. Diesen Gedankengang, sein Geschrei auf dem Markt, schließlich sein Eindringen in verschiedene Kirchen, die für ihn nur noch „Grabmäler Gottes“ sind, bilden eine dynamische Handlung mit mehreren Erkenntnisschritten. 

Der Comic bietet die Möglichkeit, beides miteinander zu verknüpfen: die Visualisierung der gewaltigen Sprachbilder und die Veranschaulichung des dramatischen Geschehens. Wichtig ist dabei, dass im Vorfeld der Arbeit vermittelt wird, wie ein Panel sinnvollerweise aufgebaut werden kann.

Welches Bild bzw. welche Bilder müssen besonders groß sein, welche eher klein? Wieviel Schrift wird benötigt? Wie kann mit Perspektiven gearbeitet werden, um die Ausdruckskraft zu erhöhen? Welche Szenen müssen bspw. als Panoramabild veranschaulicht werden, wo hingegen ist ein Detail so wichtig, dass es ein Bild für sich bekommen soll? Dabei bietet eine entsprechende gestalterische Arbeit im Religionskurs – spätestens, wenn in der Auswertungsphase dann über die jeweilige Gestaltung und die damit einhergehende Deutung der Parabel diskutiert wird – die Schulung aller prozessbezogenen Kompetenzen. Die Schüler*innen müssen den Text zunächst wahrnehmen und deuten, weiterhin darstellen und gestalten, um schließlich im Dialog miteinander zu urteilen. 

Der Schüler Sven Scharrenbach reflektiert seine gestalterische Arbeit folgendermaßen: „Charakteristisch für den Text sind meiner Meinung nach eine düstere Stimmung und ein verrückter, bohrender Protagonist, der die anderen Menschen eher verschreckt und zunächst ratlos zurücklässt. Das habe ich dann versucht in den Comic einfließen zu lassen. Genau wie auf die Leute auf dem Markt, sollte auch der „tolle Mensch“ auf den*die Leser*in zunächst abschreckend wirken, weshalb ich ihn eher gruselig und verwirrt gezeichnet habe. Für mich ist ein Comic immer sehr szenisch. Der Wechsel zwischen Perspektiven macht, finde ich, die Dynamik eines Comics aus und erzeugt beim Leser fast schon die Illusion eines Films. Außerdem sollte ein Comic die wichtigsten Aussagen bildlich und deutlich darstellen, deswegen habe ich besonders die beiden Bilder mit den Grabsteinen in den Vordergrund gesetzt. Nietzsches „toller Mensch“ fragt sich vor allem nach der Bedeutung von Gottes Tod für die Menschheit. An sich hat Nietzsches Text für mich schon eine sehr bildliche Sprache. Ich habe dann versucht, das Gefühl und die Bilder, die mir beim Lesen in den Kopf gekommen sind, in das Comic einfließen zu lassen.“
 

Anmerkung

  1. Im Unterricht wurde mithilfe des Themenheftes „Die christliche Antwort auf die Gottesfrage“ (Stuttgart: Klett 2012, 70f.) gearbeitet.