Religion und Aufklärung

Von Petra Bahr

 

Soll denn der Knoten der Geschichte so aufgehen – die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Religion mit der Barbarei?” Eindringlich fragt so der große protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher seine Zeitgenossen auf dem Zenit der Aufklärungsepoche. Das ist lange her. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts scheint es, als hätten sich die beiden stärksten Stränge der europäischen Kultur aus ihrer Verbindung gelöst, allerdings in anderer Richtung, als der große Gelehrte aus Berlin befürchtete: Die Aufklärung mit einer Tendenz zur Barbarei und die Religion mit einer Tendenz zum Unglauben. Noch vor wenigen Jahren prognostizierten Intellektuelle das Ende der Religion, ohne viel öffentlichen Widerspruch zu ernten. Und selbst die, die vorsichtiger von einem Gestaltwandel des Christentums hin zu einer sehr intimen Religionspraxis ohne starke Bindung an Theologie und Kirche sprechen, beschreiben den allmählichen Rückzug des Glaubens aus der modernen Alltagswelt, genauer: das Erwachen von Glaubensformen jenseits der etablierten Religionen. Verschwörungsnarrative in der Pandemie, in denen die eigene Ohnmacht durch in sich geschlossene Sinn- oder Schulderzählungen bewältigt wird, oft verbunden mit menschenverachtenden Vorstellungen und der darin artikulierten Sehnsucht nach einer „neuen Welt“, die sich in politischen Umsturzforderungen widerspiegelt, vor allem aber abgeschlossen gegen jede Form der Reflexion oder gar Kritik, zeigen, dass sich starke säkularreligiöse Glaubensgemeinschaften jenseits der Kirchen entwickeln. Der christliche Glaube mit seinen religionskritischen Begleitformen, mit den institutionellen Zweifeln, nicht zuletzt der universitären Theologie, die religiöse Praxis und religiöse Aussagen immer wieder überprüft, bekommt Konkurrenz durch starke Glaubenswelten, die sich völlig gegenüber Debatten abschließen. Soziale Medien fördern solche Parallelgemeinschaften.

Indes wirkt auch die Aufklärung erschöpft. Auch ihren Argumenten fehlt der Brustton starker Überzeugungen. Die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist eine anstrengende Sache – lieber sucht man die Schuld da bei anderen und erwartet die Lösung von dort. Der Bruch mit den Traditionen führt zur kulturellen Amnesie, die den Sinn für Herkunft und für Zukunft verstellt; der Sturm auf die Autoritäten hinterlässt diffuse Sehnsüchte nach Orientierung, die man nicht so recht zugeben mag; die Wissenschaften haben zwar die Fragen ins Unendliche vermehrt, auf die großen Probleme der Menschheit aber nach wie vor keine Antwort gefunden. Fast scheint es so, dass nun die Aufklärung selbst Unglauben erntet, und zwar da, wo sie wie eine Religion mit Heilsversprechen aufgetreten ist: als geistige Befreiung des Menschen. Die technische und ökonomische Dynamik der instrumentellen Vernunft, wenn man so will, die um Geist und Bildung halbierte Aufklärung, ist hingegen ungebrochen. Noch die Künste, in Emphase der Aufklärung die vorzüglichsten Medien des Ausdrucks der Freiheit des Menschen von allen Zwecken, werden als Ware deklariert und sogar die Religion soll sich, wenn man manchen Religionssoziologen Glauben schenken darf, auf dem „Markt der Sinnangebote” behaupten.

Unerwartet schiebt sich in dieser Situation der zweifachen Erschöpfung die alte Frage von Schleiermacher wieder in den Vordergrund. Denn die Religion hat sich in der Gestalt des Islam mit Macht zurückgemeldet in der Mitte westlicher Gesellschaften. Die Konsequenz und Sichtbarkeit dieser gelebten Religion zwingt zu neuen Fragen nach dem Verhältnis von Religion und Aufklärung. Das Christentum bleibt davon nicht unberührt. Im Gegenteil: Eine Debatte um unser kulturelles Selbstverständnis ist eröffnet, in der auch die Frage nach der bleibenden Relevanz des Christlichen gestellt wird.

In dieser Situation mehren sich Stimmen, die den Knoten der Geschichte erneut zum Platzen bringen wollen. Die einen sehen in der Aufklärung den eigentlichen Preis der Moderne und fordern eine strikte Neubesinnung auf das christliche Erbe, um aus der Gewissheit des eigenen Glaubens den Dialog mit der anderen Religion zu führen. Nur wenn unsere Gesellschaft die Ressourcen der eigenen Religion wiederentdecke, könne sie die endgültige Erschöpfung abwenden. Die anderen schreien „Barbarei, Barbarei!“ und fordern eine Rückwendung zu den Idealen der aufgeklärten Religionskritik, die sich zur prinzipiellen Religionsfeindlichkeit entwickeln kann. In den Auswüchsen der gewaltbereiten Gestalten des Islam sehen sie einen Spiegel der eigenen, gewalttätigen Christentumsgeschichte. So schleichen sich zwei rivalisierende Deutungsmuster über den Geschichtslauf der letzten zweihundert Jahre ein, die mit Forderungen an die fällige Zukunftsgestaltung verknüpft werden: Die einen kündigen die Verbindung von Religion und Aufklärung auf. Religion könne sich nur als Stachel im satten Fleisch der aufgeklärten Moderne behaupten. Die Formen dieses Gegenmodells sind vielfältig. Mal ist es eine neue Intellektuellenreligion, in der lateinische Messen oder ästhetische Überwältigungserfahrungen die Leerstellen des Wunders ausfüllen sollen, ein anderes Mal ist es die Wellnessreligion gestresster Dreißigjähriger, die sich endlich einmal ohne Sinn und Verstand selbst transzendieren wollen. Die anderen sehen in diesen Phänomenen geradezu den Beleg dafür, dass wir nie richtig aufgeklärt gewesen sind. Solange es theologische Fakultäten, Religionsunterricht und eine starke Rolle der Kirchen in der Öffentlichkeit gebe, dürfe man sich nicht wundern, dass im Schatten dieser akzeptierten Präsenz der Religion neue Formen des Fundamentalismus blühen, schimpfen sie.

Wie ein fernes Echo klingt da der polemische Streit der Aufklärer und ihrer Gegner, die Schleiermacher in seinen „Reden an die Gebildeten unter den Verächtern der Religion” so eindringlich an die Verbindung von Religion und Aufklärung erinnert. Er beschwichtigt die Kontroversen nicht, sondern verweist auf die produktive Spannung beider, indem er an die alten Grundanliegen der Aufklärung erinnert: an die Mündigkeit, die vernünftige Urteilskraft und das Programm der Bildung. Die drei Leitbegriffe präzisieren nicht nur das ursprüngliche Anliegen der Aufklärung, sondern auch das der Religion, wie der große protestantische Kirchenvater sie verstanden hat. Aufklärung im anspruchsvollen Sinne ist eben keine Epoche der Geistesgeschichte, sondern eine bleibende Aufgabe, der sich weder die Religion noch andere Bereiche des Lebens entziehen sollen. Denn erst diese drei Grundanliegen eröffnen den Spielraum der Freiheit, der unter sich ständig verändernden historischen Bedingungen eine Zukunft mit menschlichem Antlitz möglich macht. Mündigkeit versetzt in die Lage, kundig Auskunft zu geben, denn Mündigkeit kommt von Mündlichkeit, sie steht für das Sprachvermögen, für das individuelle Gewissen, für die kritische Urteilskraft des Einzelnen und für die Fähigkeit, unterscheiden zu können, auch zwischen Politik und Religion. Keine Autorität der Welt kann diese Mündigkeit beschneiden oder gar verbieten, ohne Verrat an den Wurzeln des christlichen Glaubens zu begehen. Mündigkeit und Sprachvermögen nötigen zwangsläufig zur Bildung in und über die eigene Religion. Mündigkeit ist demnach weniger ein Zustand als eine Übung. Mündigkeit ist auch die erste Voraussetzung für einen Dialog der Religionen, der seinen Namen verdient. Denn nur, wer mündig spricht, der hat eine Position, von der aus er mit Haut und Haaren argumentiert, ohne beim ersten Angriff sofort umzufallen.

Der tiefe theologische Grund dieser Mündigkeit liegt darin, dass Gott den Menschen in seiner Einzigartigkeit anspricht und um Antwort ersucht. In der wissenschaftlichen Theologie hat der Glaube, der auf Mündigkeit aus ist, eine diesen Glauben kritisch und konstruktiv begleitende Vernunft. Sie befragt die christlichen Zeugnisse der Vergangenheit und der Gegenwart und zwingt so zu einer institutionalisierten Nachdenklichkeit, der in allen erdenklichen Belangen an der steten Unterscheidung von Gott und Mensch gelegen ist, einer Unterscheidung, die immer wieder neu gefunden werden muss. Das Christentum trägt so, wenn es sich ernst nimmt, eine eigene Form der Religionskritik in sich. Es kann schon deshalb besonnen auf bisweilen ungerechte oder unflätige Kritik von außen reagieren und ebenso falsche Erwartungen abwehren. Die Kritik bezieht sich nämlich nicht nur auf Texte, auf die Einsicht in das geschichtliche Gewordensein der eigenen Gestalt und in die Vorläufigkeit aller menschlichen Wahrheit. Gute Theologie stellt immer auch Urteilsvermögen und kreative Sprachformen zu Verfügung, um andere kulturelle Phänomene in den Blick zu nehmen. Sie fragt allerdings auch immer, ob die religiösen Sprachformen Menschen überhaupt noch erreichen, nimmt den Maßstab für die Relevanz also nicht an der Selbstzuschreibung von Bedeutsamkeit, sondern daran, ob andere hier Trost und Orientierung finden. An diesem eigenen Anspruch wird sie sich messen lassen müssen. Indem es seine eigene Botschaft selbstbewusst und sprachkräftig vertritt, kann ein mündiges Christentum die Aufklärung davor bewahren, selbst religiös zu werden. Denn wie die Aufklärung die Religion vor ihrer Fundamentalisierung bewahrt, bewahrt eine mündige Religion die Aufklärung vor dieser Gefahr, selbst zur Weltanschauung zu werden, die kein fremdes Urteil mehr erträgt. Im polemischen Gerangel um Religion versus Aufklärung sind wir mit Schleiermacher gut beraten, der die religiösen Verächter der Aufklärung wie die aufgeklärten Verächter der Religion daran erinnert, dass beide sich um der Freiheit des Menschen willen gegenseitig auf die Sprünge helfen sollen. Beide stehen unter Druck, beide sollten sich nicht auseinanderdividieren lassen. Ob Schulen, Universitäten und Kirchen in diesem Sinne Orte der Einübung eines aufgeklärten Glaubens sein können, ist allerdings nicht schon mit heftigem Nicken beantwortet. Erfahrungsräume ändern sich, Zugänge zur Religion auch. Oft gilt ein aufgeklärterer Glaube als kopflastig, kühl und wenig zugänglich. Das ist jedoch ein Missverständnis. Nachdenken und passionierte Hingabe, distanzierte Betrachtung und die Erfahrung der Überwältigung gehören zusammen, weil zur menschlichen Existenz alle Dimensionen des Fühlens, Wollens und Denkens gehören. Allerdings ist die Familie für viele nicht länger der Erfahrungsort eines selbstverständlichen Glaubens, der sich jederzeit, auch schon durch kleine Kinder, kritisch befragen lässt. „Warum machst du das? Glaubst du das wirklich?“ So beginnt Aufklärung, nicht als Belehrung oder Rechtfertigung, sondern als Offenlegung von Gedanken, Fragen und Lebensgeschichten. Es braucht neue Formen und Orte der Erfahrbarkeit einer Gottesbeziehung, die so vital ist, dass sie auch intellektuellen und emotionalen Zweifel zulässt, dazu noch in der Lage ist, das Religiöse von anderen Weltzugängen zu unterscheiden.