Die Ergebnisse der PISA-Studie als Herausforderung für den Religionsunterricht?

von Hilmar Grundmann

 

I. Vorbemerkungen

Keine Frage: Auch wenn die Wogen, die die Ergebnisse der PISA-Studie über die Leistungsfähigkeit der 15-jährigen Schüler bzw. unseres Schulsystems ausgelöst haben, längst nicht mehr so hoch schlagen wie in den ersten Wochen nach ihrer Veröffentlichung Anfang Dezember vergangenen Jahres, so ist doch unstrittig, dass der Schock immer noch sehr tief sitzt. Das liegt vor allem daran, dass nun niemand mehr an der Tatsache vorbei kann, dass es um das deutsche Schulsystem weitaus weniger gut bestellt ist, als wir uns immer eingeredet haben, vor allem nicht im internationalen Vergleich. Mehr noch: Nichts war so falsch wie unsere Auffassung, dass das deutsche Schulsystem den Schulsystemen aller anderen Länder überlegen sei, haushoch sogar, und zwar mit der Begründung, dass die Dreigliedrigkeit unseres nicht nur von uns so hoch gelobten Systems in Grund-, Haupt- / Realschule und Gymnasium – übrigens einzigartig in der Welt – schon von vornherein dafür sorge, dass die Probleme gar nicht erst entstehen, mit denen sich der Rest der Welt herumschlagen müsse. Schön wär’s ja gewesen. Aber seit PISA wissen wir: Nichts davon ist wahr, das Gegenteil ist vielmehr der Fall, d.h. die (Zer-)Gliederung des deutschen Systems ist ganz offensichtlich die eigentliche Ursache dafür, dass die deutschen Schüler im internationalen Vergleich so schlecht dastehen,1 übrigens ganz im Gegensatz zu den Berufsschülern, die regelmäßig bei internationalen Vergleichen die vordersten Plätze belegen. Und seit PISA haben es manche auch schon immer gewusst, warum die Gliederung in die drei erwähnten Schulformen die Wurzel allen Übels ist: Weil sie dazu verführt, jene Schüler, die leistungsmäßig oder aus anderen Gründen nicht mithalten können, auf eine Schule ‘abzuschieben‘, die einen geringer wertigen Abschluss verleiht, anstatt sich darum zu bemühen, gerade diese Schüler ganz besonders zu fördern. Das ist wohl auch so, und deswegen ist es auch nicht von der Hand zu weisen, wenn manche sogar soweit gehen, wie z.B. Bernhard Dressler, das Schulsystem in Deutschland als "das Schulsystem mit der brutalsten Selektionswirkung und einer trotzdem nur geringen Leistungsdifferenzierung"2 zu attackieren. Auf jeden Fall haben die Anhänger dieser Auffassung die von der PISA-Studie zutage geförderten Ergebnisse auf ihrer Seite. So hat diese Studie nämlich ermittelt, dass Jugendliche aus bestimmten sozialen Schichten in unserem Lande nicht deswegen so schlecht abgeschnitten haben, weil es ihnen an entsprechenden kognitiven Fähigkeiten mangelt, sondern weil bestimmte Kompetenzen wie z.B. die Lesekompetenz nicht in ausreichendem Maße gefördert werden. Genauer, so jedenfalls der Vorwurf der PISA-Autoren: Es gelingt den deutschen Schulen im Vergleich zu den kanadischen, amerikanischen und allen voran den schwedischen Schulen nicht, herkunftsbedingte Nachteile der Schüler wie z.B. die Defizite der Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien dadurch auszugleichen, dass sie auf besondere Weise gefördert, konkret ihre deutschen Sprachkenntnisse verbessert werden.

Aber ist die Dreigliedrigkeit unseres Schulsystems tatsächlich verantwortlich dafür, dass die deutschen Schüler im internationalen Vergleich so schlecht abgeschnitten haben, so schlecht sogar, dass manche geradezu von einem Desaster bzw. "PISA-Debakel"3 sprechen? Zweifel sind angebracht, vor allem dann, wenn man die Erfahrungen heranzieht, die Länder mit eingliedrigen Schulsystemen machen bzw. die Schwierigkeiten berücksichtigt, mit denen sie zu kämpfen haben. Wenn eingliedrige Schulsysteme dennoch dem deutschen Schulsystem offensichtlich überlegen sind, so m.E. aus einem Grunde, den Dressler in seinem ohne pardon formulierten ‘editorial‘ auch anspricht, d.h. wenn er darauf hinweist, dass die Lernkultur in Deutschland unterentwickelt4 sei, also die Wertschätzung der Schüler dem schulischen Unterricht ganz generell und den Unterrichtenden insbesondere gegenüber. Allerdings gilt dies sicher bedingt auch für die Lehrkultur, was z.B. dann der Fall ist, wenn, wie bereits gesagt, die Unterrichtenden weniger leistungsbereite Schüler oder solche mit scheinbar weniger entwickelten kognitiven Fähigkeiten nicht als besondere Herausforderung an ihre pädagogische Profession auffassen, sondern zum Anlass nehmen, sie an Schulen ‘abzuschieben‘, die geringere Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Schüler stellen, und dies wohlwissend, dass sie damit nicht etwa ein Problem gelöst, sondern dass sie sich dieses Problems auf legale Weise entledigt haben. Das ist natürlich in Ländern mit einem eingliedrigen Schulsystem per se nicht möglich, was wiederum den Schluss nahe legt, dass die eigentliche Ursache allen Übels denn doch in der Dreigliedrigkeit unseres Schulsystems zu suchen ist. Aber dennoch bleibt, dass nicht das System dafür verantwortlich gemacht werden kann, was es hervorbringt, sondern allein diejenigen, die mit damit umgehen, d.h. ob sie seine Stärken nutzen oder seine Schwächen ausnutzen. Ein Beleg dafür ist übrigens eine andere OECD-Studie. Denn dieser Studie zufolge verfügen die gegenwärtig 55 bis 64 Jahre alten Deutschen "über die zweithöchste Lese- und Schreibfähigkeit in der Erwachsenenbevölkerung in Europa."5 Und das Schulsystem war zu ihren Schulzeiten das Gleiche wie das gegenwärtige. 

Allerdings hat sowohl die Lernkultur wie auch die Lehrkultur, die zusammengenommen die Unterrichtskultur bestimmen, sehr viel damit zu tun, wie die verantwortlichen Politiker mit der Schule generell und mit den dort Unterrichtenden insbesondere umgehen. Auf jeden Fall kann man nicht sagen, dass sie sich in der Vergangenheit dadurch hervorgetan haben, dass sie die Lehrer in ihrer Rolle als Erzieher gestärkt und die Schulen in ihrer Funktion als Bildungseinrichtung gefördert haben. Das Gegenteil ist viel mehr der Fall. Erinnert sei zum einen an die Reproduktion von Klischees in der Öffentlichkeit über die Leistungsbereitschaft der Lehrer an unseren Schulen, an der sich, wie bekannt, so mancher führende Politiker in unserem Lande beteiligt hat, und zum anderen an den Umgang der politisch Verantwortlichen mit den Schulen selbst. Damit ist z.B. die chronische Unterversorgung der Schulen mit (jüngeren) Lehrern gemeint, ferner die seit Jahren ständig nachlassende Bereitstellung von notwendigen Unterrichtsmaterialien, die nachlassende Bereitschaft zur Beseitigung baulicher Mängel und nicht zuletzt die Beförderung der Vorstellung, dass die Schulen ausschließlich dazu da seien, die Jugendlichen mit verwertbaren Qualifikationen auszustatten, nicht aber auch dazu, sie in die Lage zu versetzen, ihrem Leben Sinn zu geben bzw. die Sinnhaftigkeit ihres Tuns erfahren zu können. Das auffälligste Beispiel für diese Behauptung: Das ist die Geringschätzung jener Unterrichtsfächer, sei es an den allgemein bildenden, sei es an den berufsbildenden Schulen, in denen nicht die Vermittlung instrumentellen Wissens im Zentrum steht, sondern die Förderung reflexiver und ästhetischer Fähigkeiten, also Fähigkeiten, die auf das Innewerden, auf das Wahrnehmen und Deuten der Welt gerichtet sind, in denen ferner Lernprozesse in den Mittelpunkt gerückt werden, in denen es darum geht, Ich-Stärke auszubilden und die Schüler mit gelungenen Lebensentwürfen und humanen Vorbildern zu konfrontieren, die ihnen helfen, sich in der immer flüchtiger und zerbrechlicher werdenden Welt zurechtzufinden bzw. die ihnen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen; kurz: in denen menschliches Verhalten, individuelle Einstellungen und Haltungen auf dem Prüfstand stehen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang z.B. daran, dass der Deutschunterricht an den weiterführenden allgemein bildenden Schulen in vielen Bundesländern gekürzt wurde6, und dies in Anbetracht des Sachverhaltes, dass in keinem europäischem Land so wenig muttersprachlicher Unterricht erteilt wird wie in Deutschland. So beträgt z.B. der prozentuale Anteil des muttersprachlichen Unterrichts am gesamten Unterricht in Italien 23%, in Dänemark 20%, in Frankreich 17% und in Deutschland ganze 12%.7 Erinnert sei ferner an die permanent vorgetragene Forderung der Handelskammern, an den allgemein bildenden Schulen das Schwergewicht auf die Vermittlung von abprüfbarem Wissen zu legen.8 Und erinnert sei nicht zuletzt an den massiven Druck der Kultusministerien auf die berufsbildenden Schulen, im Deutschunterricht und sogar im Religionsunterricht den Berufsbezug durchzusetzen, d.h. mit Blick auf den Religionsunterricht den Lebensbezug der Inhalte durch den Berufsbezug zu ersetzen.9 Wissen die Kultusministerien eigentlich, was sie da tun bzw. was sie da den Jugendlichen antun? Aber wie dem auch sei: Nimmt man all dies zusammen, dann darf man sich in der Tat nicht wundern, wenn es um die Unterrichtskultur so – schlecht – bestellt ist, wie es darum gegenwärtig bei uns in der Tat bestellt ist, d.h. dass von einer positiven, nämlich leistungsfördernden Lern- und Lehrkultur an unseren Schulen immer weniger die Rede sein kann. Erstaunlich ist es allerdings, oder auch nicht, dass in Anbetracht der Ergebnisse der PISA-Studie m.W. bisher kein Kultusminister auf den Gedanken gekommen ist, hier den Hebel anzusetzen, d.h. auch solche Maßnahmen einzuleiten, die dazu beitragen, die Lern- und Lehrkultur in unserem Lande zu verbessern. Denn ich bleibe dabei: Sie sind das A und O für erfolgreiches Lernen, eben weil sie über die Leistungsbereitschaft aller am Unterrichtsgeschehen Beteiligten entscheiden, und wenn Lern- und Lehrkultur unterentwickelt sind, dann hilft auch ein noch so hoch entwickeltes und ausgeklügeltes Schulsystem nicht. Oder anders formuliert: Die Schüler müssen auch wollen, was sie sollen, und wenn sie nicht wollen, was sie sollen, dann hilft es – fast – nichts, wenn man beim Sollen ansetzt wie die meisten der von den Kultusministerien bisher als Reaktion auf die Ergebnisse der PISA-Studie vorgeschlagenen Maßnahmen, wie z.B. verbesserte Angebote für Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien. Und wo sollte man nun in der Tat mit Maßnahmen ansetzen, um den Trend umzukehren, d.h. um die Leistungsfähigkeit der deutschen Schulen zu verbessern bzw. sie wieder auf Erfolgskurs zu bringen? Dazu später mehr.

   

II. Was gemessen wurde und wie 

Zunächst zur PISA-Studie selbst. Es handelt sich dabei um eine Studie, die von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in Auftrag gegeben wurde und an der sich neben den 28 OECD-Ländern noch vier weitere Länder beteiligt haben. Dabei steht PISA für "‘Programme for International Student Assessment‘ – ein Programm zur zyklischen Erfassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generation ... und ist Teil eines Indikatorenprogramms der OECD, dessen Ziel es ist, den OECD-Mitgliedsstaaten vergleichende Daten über die Ressourcenausstattung, individuelle Nutzung sowie Funktions- und Leistungsfähigkeit ihrer Bildungssysteme zur Verfügung zu stellen." (S. 3)10 Holland hat allerdings keine Ergebnisse zur Verfügung gestellt, so dass am Ende 31 Länder in die Wertung gekommen sind. Die PISA-Studie ist auf drei Erhebungen und drei "Hauptbereiche" (S. 4) hin angelegt, wobei die Hauptbereiche aus der Lesekompetenz, der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Grundbildung bestehen. Die erste Erhebung hat im Jahre 2000 stattgefunden, die nächste wird im Jahre 2003 durchgeführt und die übernächste im Jahre 2006. Dabei wird jedes Mal ein anderer Hauptbereich "gründlicher und differenzierter getestet", während "in den beiden anderen Bereichen ... jeweils globale Leistungsprofile erfasst" (S. 4) werden. In der Erhebung des Jahres 2000 war es die Lesekompetenz, die ‘gründlicher und differenzierter getestet‘ wurde. Das ist auch der Grund, warum ich mich hier auf die im Zusammenhang mit dieser Kompetenz ermittelten Ergebnisse beschränke. Und diese Ergebnisse haben es in sich, zumal wenn man hinzunimmt, dass aufgrund des Umfangs des Samples jeder Zweifel an der Repräsentativität dieser Studie ausgeschlossen ist. So wurden in jedem Land zwischen 4.500 und 10.000 SchülerInnen getestet, insgesamt 180.000 SchülerInnen im Alter von 15 Jahren – davon in Deutschland 5.000 Jugendliche von 219 Schulen. Parallel zu dieser internationalen Untersuchung fand in Deutschland eine zweite statt, an der noch einmal 50.000 15-jährige SchülerInnen am Ende der Sekundarstufe I von 1.466 Schulen teilgenommen haben. In dieser Untersuchung ging es darum, die Leistungsunterschiede auf nationaler Ebene zu testen, d.h. einmal von Bundesland zu Bundesland und zum anderen zwischen den verschiedenen Schulformen. Diese Ergebnisse sollen Mitte dieses Jahres der Öffentlichkeit präsentiert werden, und keine Frage, dass sie ein weiteres Mal eine heftige Diskussion auslösen werden, vor allem wenn zutrifft, was durchgesickert ist: Dass nämlich die 15-jährigen Schülerinnen aus den norddeutschen Bundesländern um einiges den gleichaltrigen Schülern aus den süddeutschen Ländern hinterherhinken. Und bekannt geworden ist auch, dass in Hamburg und Berlin ‘nachgetestet‘ werden muss, und zwar weil zu wenige der ausgesuchten Schüler ihre Ergebnisse abgeliefert haben. 

Von nicht unerheblicher Bedeutung für die Bewertung der einzelnen Ergebnisse ist die Beantwortung der Frage, wie die Lesekompetenz gemessen worden ist, d.h. genauer mit Hilfe welcher Textsorten. Dies ist deswegen aus ‘deutscher‘ Sicht eine Frage von besonderer Bedeutung, weil die Autoren der PISA-Studie ausdrücklich das Schwergewicht nicht auf solche Texte gelegt haben, die "üblicher Weise in der Schule" (S. 1) anzutreffen sind, sondern auf solche, die "Erwachsenen im Laufe ihres Lebens", vor allem "im Berufsleben ... begegnen". (S. 1) Wörtlich heißt es: "Jugendliche und Erwachsene begegnen in ihrem privaten oder beruflichen Alltag und im öffentlichen Leben verschiedensten Arten von Texten. In PISA wurde deshalb eine große Bandbreite an Textsorten verwendet." (S. 10) Das heißt konkret, dass Textsorten, die im traditionellen Literaturunterricht an deutschen Schulen üblicher Weise behandelt werden wie z.B. poetische Texte, in der PISA-Studie nur eine äußerst untergeordnete Rolle spielen. Statt dessen dominieren die sog. "nicht kontinuierlichen" Texte bzw. "bildhaften Darstellungen" (S. 10) wie Diagramme / Graphen, Tabellen, schematische Zeichnungen, Karten, Formulare und Anzeigen neben Anweisung, Argumentation, Beschreibung, Darlegung und Erzählung, die als "kontinuierliche Texte" (S. 10) bezeichnet werden, eine Terminologie übrigens, die neu ist. Dies ist natürlich nicht ganz unproblematisch, und zwar weil es nichts anderes bedeutet als dass die Lesekompetenz mit Hilfe von Textsorten getestet worden ist, mit denen die Schüler an deutschen Schulen kaum konfrontiert werden, d.h. dass sie im Umgang mit diesen Textsorten eher ungeübt sind. Aber nicht nur das. Auch jene Fähigkeiten, die lt. PISA-Studie zusammengenommen die Lesekompetenz ausmachen, stehen nicht gerade im Zentrum des Literaturunterrichts an unseren Schulen. Das ergibt die Beschreibung dessen, was PISA unter Lesekompetenz versteht. So ist diese Kompetenz, wie es nachdrücklich heißt, "mehr als einfach nur lesen zu können." Vielmehr ist darunter die Fähigkeit zu verstehen, "geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können, sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen." Und da die Autoren der PISA-Studie offensichtlich darum wissen, dass das hier beschriebene Leseverständnis nicht in Einklang zu bringen ist mit dem Leseverständnis, das in unseren Schulen dominiert, zumindest nicht im Literaturunterricht, fügen sie denn auch erklärend hinzu, was für ihr Leseverständnis spricht: Dass Lesekompetenz, wenn in ihrem Sinne definiert, "nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele, sondern eine Bedingung für die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten – also jeder Art selbstständigen Lernens – und eine Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" (S. 10) ist.

Um ein paar Beispiele zu nennen, die belegen, warum die Lesekompetenz, von der die PISA-Autoren ausgehen, sich nicht mit der Lesekompetenz deckt, die im traditionellen Literaturunterricht gefördert wird. Vorausgeschickt sei allerdings, dass auch nach literaturdidaktischer Auffassung Lesekompetenz mehr ist als nur die Fähigkeit, einen Text erlesen zu können. Aber damit ist es denn mit der Gemeinsamkeit auch schon vorbei. So gehört z.B. die Fähigkeit, ‘geschriebene Texte in ihrer formalen Struktur verstehen zu können‘, nach gegenwärtiger pädagogisch-didaktischer Auffassung nicht zur Lesekompetenz, d.h. die Förderung dieser Fähigkeit wird seit Jahren als überflüssig abgetan. Das Gleiche trifft für die Fähigkeit zu, ‘Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht nutzen zu können‘, mehr noch: Ihre Förderung gilt im schulischen Unterricht geradezu als verpönt, geht man doch von der Vorstellung aus, dass es sich bei literarischen Texten um Bildungsgüter handelt, und Bildungsgüter unterscheiden sich nach unserer Auffassung von Qualifikationen bekanntlich dadurch, dass sie ihren Nutzen sozusagen in sich tragen bzw. dass sie ausschließlich dem Einzelnen selbst zugute kommen, während der Erwerb von Qualifikationen stets anderen zugute kommt, d.h. der Einzelne erwirbt sie nicht für sich, sondern allein zu dem Zweck, damit sie andere nutzen bzw. verwerten können. Um den prinzipiellen Unterschied zwischen der Lesekompetenz nach Auffassung der PISA-Autoren und der Lesekompetenz, wie sie in unserem Literaturunterricht gefördert wird, auf den Punkt zu bringen: Erstere definieren diese Kompetenz pragmatisch, verwertungsorientiert bzw. zweckgerichtet; deutsche Literaturlehrer eher zwecklos bzw. subjektorientiert, d.h. für sie steht der persönlichkeitsbildende Aspekt der Lesekompetenz im Vordergrund.

   

III. Was dabei herausgekommen ist 

Aber damit kein Missverständnis entsteht: Diese unterschiedliche Auffassung darüber, was die Lesekompetenz ausmacht bzw. worauf es bei ihrer Förderung ankommt, vermag zwar die Ergebnisse der deutschen Schüler etwas zu relativieren, erklärt aber noch lange nicht ihr schlechtes Abschneiden im internationalen Vergleich. Nun zu diesen Ergebnissen selbst, d.h. zu den aus deutscher Sicht auffälligsten. So nehmen die deutschen Schüler auf der ‘Gesamtskala Lesen‘ den 21. und auf den Gesamtskalen ‘mathematische Grundbildung‘ und ‘naturwissenschaftliche Grundbildung‘ den 20. bzw. 22. Rang ein, d.h. wenn man es sportlich sehen will, sie liegen weit abgeschlagen auf den Abstiegsplätzen der Tabelle, und zwar in allen drei Ligen. Dies ist genaugenommen kein Zufall, sondern vielmehr eine eindrucksvolle Bestätigung der in der PISA-Studie aufgestellten These, dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen der Lesekompetenz und allen anderen für die kognitive Entwicklung wichtigen Kompetenzen, d.h. es hängt von der Entfaltung der Lesekompetenz ab, ob und inwieweit sich alle anderen wichtigen Kompetenzen auch entwickeln. Aber nicht die schlechte Platzierung der deutschen Schüler auf den erwähnten drei Gesamtskalen ist der eigentliche Grund dafür, dass so viele im Zusammenhang mit den Ergebnissen der PISA-Studie von einem Debakel reden. Der besteht vielmehr darin, dass nahezu 23% der getesteten 15-jährigen Schüler über eine so gering ausgebildete Lesekompetenz verfügen, dass sie von den PISA-Autoren als "potenzielle Risikogruppe" (S. 15) eingestuft werden. Das heißt, diese Jugendlichen sind nur fähig, "auf einem elementaren Niveau zu lesen" (S. 15), und das reicht nach Jürgen Baumert, einer der Väter der PISA-Studie, nicht einmal aus, um z.B. "einen Einstellungstest der Industrie- und Handelskammer"11 oder der Ausbildungsbetriebe zu bestehen. Das gilt insbesondere für jene 10% der 15-jährigen Jugendlichen, die weder in der Lage sind, in einem Text "explizit angegebene Informationen zu lokalisieren", also die vorhandenen Informationen zu ermitteln, noch "den Hauptgedanken oder die Intention eines Autors in einem Text" zu erkennen, und dies selbst dann nicht, wenn es sich dabei um ein Thema handelt, das ihnen vertraut ist oder wenn "der Hauptgedanken relativ auffällig ist", z.B. "weil er am Anfang des Textes erscheint oder wiederholt wird". Und schon gar nicht sind sie in der Lage, "einfache Verbindungen zwischen Informationen aus dem Text und allgemeinem Alltagswissen" (S. 11) herzustellen. In der PISA-Studie werden diese Jugendlichen als "extrem leseschwach" eingestuft, verfügen sie doch nicht über das "Minimum eines halbwegs verständigen Umgangs mit authentischen Texten." (S. 35). Keine Frage, dass solche ‘extrem leseschwachen‘ Schüler auch in den anderen Ländern, die sich an der PISA-Untersuchung beteiligt haben, ermittelt wurden. Aber es sind sehr viel weniger, d.h. das Dramatische dieses Anteils von 10% ‘extrem leseschwacher‘ Jugendlicher unter den deutschen Schülern besteht darin, dass er im Vergleich zu den anderen Ländern so hoch ist, nämlich immerhin 4%-Punkte über dem "Durchschnitt aller OECD-Mitgliedsstaaten" (S. 15). Nur in ganzen vier Ländern (Brasilien, Mexiko, Lettland und Luxemburg) ist dieser Anteil noch höher. Nicht viel besser sieht es bei weiteren 13% der getesteten 15-Jährigen aus, die als ‘leseschwach‘ bezeichnet werden. So waren sie nur dann in der Lage, einen Text zu verstehen, wenn es sich dabei um einen Inhalt handelt, der äußerst geringe Anforderungen an die Interpretationsfähigkeit stellt. Fazit der PISA-Studie: "Mit etwa 20% des Altersjahrgangs ist der Anteil schwacher und schwächster Leser in Deutschland ungewöhnlich groß" (S. 15), und damit eben auch der Anteil jener, die ohne jede Aussicht sind, sich am gesellschaftlichen Leben aktiv beteiligen zu können, d.h. sie müssen sich mehr oder weniger gefallen lassen, auf den gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie Mündel behandelt zu werden, weil sie sich dort nicht mündig verhalten können. Dabei wird in PISA ausdrücklich darauf hingewiesen, woran es diesen Schülern vor allem mangelt: An der Fähigkeit nämlich, über einen Text reflektieren und seine Aussagen bewerten zu können. Im Übrigen nicht nur den hier gemeinten ‘extrem leseschwachen‘ und ‘leseschwachen‘ Schülern, sondern in dieser Hinsicht schneiden die deutschen Schüler insgesamt schlechter ab als die Schüler aller anderer OECD-Staaten, die an dieser Untersuchung teilgenommen haben. Fürwahr ein Ergebnis, das schockierender kaum sein kann, vor allem wenn man berücksichtigt, dass wir immer das Gegenteil behauptet haben, genauer: Wir haben die zunehmenden Klagen darüber, dass die Schüler am Ende ihrer Schulzeit immer weniger die Kulturtechniken wie erwartet beherrschen, mit dem Argument relativiert bzw. zurückgewiesen, dass sie dafür um so besser in der Fähigkeit des Reflektierens und des Bewertens ausgebildet seien. Nun steht fest: Nichts davon ist wahr.

Und wie ist es mit der Lesekompetenz der anderen 77% der deutschen Schüler bestellt, die nicht als ‘extrem leseschwach‘ und ‘leseschwach‘ eingestuft worden sind, d.h. schneiden sie zumindest um einiges besser ab? Das ist in der Tat so, aber keineswegs in dem Maße, dass es irgendeinen Grund gäbe, in Euphorie zu verfallen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Denn auch sie erreichen nicht einmal OECD-Durchschnitt, genauer: In mehr als der Hälfte der an der PISA-Untersuchung beteiligten Länder verfügen die Schüler mit besseren Leseleistungen über eine höher entwickelte Lesekompetenz als die entsprechenden deutschen 15-jährigen Jugendlichen. Zwei weitere ‘deutsche‘ Besonderheiten kommen hinzu, wobei die eine die PISA-Autoren ebenso überrascht hat wie die andere. Das ist einmal das Ergebnis, dass in keinem Land "der Leistungsabstand zwischen den 5 Prozent leistungsschwächsten und den 5 Prozent leistungsstärksten Schülerinnen und Schülern" (S. 13) so groß ist wie in Deutschland. Darüber sind übrigens die meisten Kommentatoren keineswegs überrascht. Und sie wissen auch, worauf dieses Ergebnis zurückzuführen ist: Eben auf die erwähnte Dreigliedrigkeit unseres Schulsystems. Das gilt auch für die andere ‘deutsche‘ Besonderheit. Damit ist gemeint, dass in keinem der OECD-Teilnehmerstaaten der Zusammenhang zwischen der Lesekompetenz der Schüler einerseits und der "Sozialschichtzugehörigkeit" (S. 34), der sie angehören, anderseits so direkt ist wie in Deutschland. Genauer: Je sozial privilegierter die Familie, aus der die Schüler kommen, desto höher ist ihre Lesekompetenz entwickelt. Umgekehrt gilt das Gleiche: Je niedriger die soziale Schicht der Schüler, desto geringer ihre Lesekompetenz. Im Jargon der PISA-Studie: Der Anteil der "Risikopersonen", also der Anteil derjenigen, die zu den ‘extrem leseschwachen‘ und ‘leseschwachen‘ Jugendlichen gehören, "ist in der Sozialschicht, die durch Familien ungelernter Arbeiter bestimmt wird, am größten." (S. 35) Damit kein Missverständnis entsteht: Der hier beschriebene "Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der am Ende der Sekundarstufe I erworbenen Lesekompetenz" ist lt. PISA "in allen Ländern ... nachweisbar" (S. 40). Aber nachweisbar ist auch, dass er in keinem anderen Land so unmittelbar ist wie bei uns, nicht einmal in den Vereinigten Staaten, die ja bekanntlich, worauf denn auch in der PISA-Studie ausdrücklich hingewiesen wird, "immer wieder als Beispiel für größte soziale Disparitäten in den Bildungschancen angeführt werden." (S. 40) Und das bei der in den 70er Jahren so leidenschaftlich geführten Debatte über die Nachteile der Kinder aus der Unterschicht gegenüber den Kindern aus der Mittelschicht und der Notwendigkeit der Kompensation dieser herkunftsbedingten Benachteiligungen im Unterricht unserer Schulen! Erinnert sei an die vielen Veröffentlichungen über den restringierten Sprachcode der Unterschicht und den elaborierten Sprachcode der Mittelschicht, an die vielen Auseinandersetzungen über den Sinn des kompensatorischen Sprachunterrichts und ganz generell über die Verpflichtung der Gesellschaft, gesellschaftlich zu verantwortende Defizite auch in gesellschaftlicher Verantwortung zu beseitigen und die Betroffenen nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Genützt hat es offensichtlich nichts. Auf jeden Fall sehen die meisten der Kommentatoren12 in diesen ‘sozialen Disparitäten‘ den eigentlichen Skandal bzw. den Bankrott unseres – dreigliedrigen – Schulsystems, und zwar deswegen, weil es ganz offensichtlich genau an der Stelle versagt, wo eigentlich seine ganze Stärke zur Geltung kommen müsste: zu aller erst für die Schwächsten unserer Gesellschaft da zu sein.

Exkurs: Bei dieser Gelegenheit sei am Rande auf ein Experiment hingewiesen, das ich kürzlich in einem Seminar mit Studenten gemacht habe, die allesamt u.a. das Fach Germanistik studieren. Auf ausdrücklichen Wunsch der Studenten wurden ihnen einige der Aufgaben zur Lösung vorgelegt, die auch die 15-jährigen Schüler im Rahmen der PISA-Untersuchung zu lösen hatten. Das Ergebnis, das natürlich alles andere als repräsentativ ist und deswegen hier auch nur angedeutet werden soll: Die Studenten waren von dem Anspruch der Aufgaben überrascht und noch mehr überrascht über das Niveau ihrer eigenen Lesekompetenz im Sinne der PISA-Studie. So musste ein Teil der Studenten zugeben, dass sie nicht die oberste der fünf Kompetenzstufen erreicht hatten, nach denen die PISA-Studie die Leseleistungen der Schüler eingeteilt und bewertet hat. Eine ähnliche Erfahrung wurde bei einem Experiment mit knapp 500 Studenten der Betriebswirtschaftlehre an der Universität Leipzig gemacht. Dort mussten die Studenten im Rahmen einer Klausur eine mathematische Aufgabe (aus dem Gebiet des Prozentrechnens) lösen, die in der PISA-Studie zur Ermittlung der mathematischen Grundbildung den 15-jährigen Schülern gestellt worden war, übrigens ohne dass die Studenten wussten, dass es sich dabei um eine Aufgabe aus der PISA-Studie handelte. Das in der Tat erschütternde Ergebnis: 43% der Studenten haben diese Aufgabe nicht richtig lösen können.

  

IV. Was tun, z.B. im Religionsunterricht? 

Nimmt man all das zusammen, was bisher an Maßnahmen vorgeschlagen worden ist, um mit Erfolg gegen die von der PISA-Studie zutage geförderten Defizite der deutschen Schüler und des deutschen Schulsystems zu Felde zu ziehen, dann ergibt sich ein erstaunlich einheitliches Bild. So ist man sich ganz offensichtlich einig, und zwar von der Kultusministerkonferenz über die Gewerkschaften bis hin zu den Experten in Sachen Bildung und Schule: Neue Lehrer und neue Schulen braucht das Land, d.h. einmal Lehrer, die sich als "Profis fürs Lernen"13 verstehen, und zum anderen Schulen, die als "Kinderschulen"14 einzurichten sind, d.h. Ganztagsschulen, in die die Kinder bereits mit 5 Jahren eingeschult und rundum betreut werden. Die PISA-Studie selbst schlägt einen anderen Weg vor. So steht für sie zwar fest, dass die entscheidenden Lektionen in den Grundschulen versäumt werden, aber sie macht darüber hinaus klar, dass die Lesekompetenz mit Erfolg auch in den späteren Schuljahren noch gefördert werden kann, und zwar dann, wenn jene Faktoren systematisch gefördert werden, die "bestimmen, wie gut ein Schüler oder eine Schülerin liest". (S. 17) Das sind neben der kognitiven Grundfähigkeit die Decodierfähigkeit, das Lernstrategiewissen und das Leseinteresse. "Mit gutem Grund" könne nämlich angenommen werden, so die Autoren der PISA-Studie, "dass die drei genannten Faktoren pädagogisch beeinflussbar (kursiv, H.G.) sind" (S. 17). Also sei hier auch mit den entsprechenden Fördermaßnahmen anzusetzen. Wenn dem so ist, dann ist natürlich auch klar, dass hier bestimmte Unterrichtsfächer auf ganz besondere Weise herausgefordert sind, jene nämlich, in denen die Förderung genau der Faktoren im Zentrum der Unterrichtsprozesse steht, die lt. PISA-Studie die Lesekompetenz ausmachen. Und klar ist auch, welche Fächer dies sind: in erster Linie der Literaturunterricht und – wahrscheinlich mehr noch – der Religionsunterricht. Die Begründung liegt auf der Hand: Weil es in beiden Fächern darum geht, Texte sinnentnehmend lesen zu lernen, d.h. die Auseinandersetzung sowohl mit literarischen Texten wie mit Texten aus religiösen Schriften im schulischen Unterricht hat genaugenommen nur das eine Ziel, nämlich den Sinn des jeweiligen Textes zu ermitteln, wobei der Unterschied darin besteht, dass der Sinn religiöser Texte mehr oder weniger feststeht – eine Behauptung, die m.E. nicht im Widerspruch zur Exegese steht –, während literarische Texte in der Regel mehrere Sinnangebote enthalten und es Sache des Lesers ist, für welche Deutung er sich entscheidet. Und was ist sinnentnehmendes Lesen in diesem Sinne anderes als das, was nach Auffassung der PISA-Autoren die Lesekompetenz ausmacht, nämlich, um es zu wiederholen: die Fähigkeit, einen Text decodieren zu können, lernstrategisches Wissen einzusetzen und Interesse an der Lektüre von Texten generell bzw. Lesefreude. Allerdings haben religiöse Texte unter diesem Gesichtspunkt literarischen Texten eines voraus, und das ist hier wesentlich: Erstere sind direkter, irritierender und damit in gewisser Hinsicht sinnlicher bzw. ästhetischer. Das liegt ganz einfach daran, dass sie oft höhere Anforderungen an unsere Wahrnehmungs- und Vorstellungsfähigkeit stellen, ferner dass das (Welt-)Wissen, das sie vermitteln wollen, für uns häufig irritierender ist als das Wissen in literarischen Texten; schließlich dass sie in erster Linie belehren und nicht unterhalten wollen, kurz: Religiöse Texte sind per se so angelegt, dass sie den Leser häufig weitaus mehr zur Reflexion herausfordern, häufig auch zum Überschreiten unserer Erfahrungsräume, aber auch zum Innewerden, zur Besinnung auf sich selbst, als dies in der Regel literarische Texte vermögen; noch kürzer: Sie fordern zur ästhetischen Tätigkeit auf ganz besondere Weise heraus. Dabei besteht unter dem Aspekt der Wirksamkeit das Entscheidende darin, dass – literarische wie religiöse – Texte nicht gezielt zu ästhetischer Tätigkeit herausfordern, sondern dies geschieht sozusagen nebenbei, und dennoch zwangsläufig, d.h. niemand kann sich dieser Tätigkeit entziehen, wenn er sich auf sie einlässt – und genau das macht den Erfolg der von diesen Texten ausgelösten ästhetischen Tätigkeit aus, macht diesen Erfolg sozusagen unvermeidbar und zudem besonders ergiebig.

Aber man muss den Religionsunterricht, genauer den Religionslehrer auch lassen. Damit ist gemeint, dass nicht durch staatlich verordnete Vorgaben dafür gesorgt wird, dass den Schülern das vorenthalten wird, was das Besondere des Religionsunterrichts ausmacht, nämlich jene Lernprozesse zu initiieren, für die dieses Fach zuständig ist, und zwar genuin, und die zudem – nebenbei – der Förderung der Lesekompetenz zugute kommen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn man dieses Unterrichtsfach überhaupt in Frage stellt oder wenn ihm nur eine untergeordnete Rolle im Kanon der schulischen Unterrichtsfächer zugestanden wird. Oder noch schlimmer, worauf bereits hingewiesen wurde: Wenn vom Kultusministerium gefordert wird, im Religionsunterricht an den berufsbildenden Schulen den Lebensbezug der Inhalte durch den Berufsbezug zu ersetzen. Was dabei am Ende herauskommt, hat die PISA-Studie ans Tageslicht befördert: Nicht nur in ihrer Persönlichkeitsentwicklung deformierte Jugendliche, sondern zudem solche, die, weil nicht ausbildungsfähig, zu einem ‘potenziellen Risiko‘ für die Gesellschaft werden. Die Frage ist natürlich: Wollen wir das? In gewisser Weise ist der Fächerkanon an unseren Schulen vergleichbar mit einem Orchester. Fängt man an, z.B. um Kosten einzusparen, die weniger lauten Instrumente zu reduzieren oder ganz abzuschaffen, weil man glaubt, dass man auf sie ihrer leisen Töne wegen am ehesten verzichten könne, dann geht dies ja nicht nur zu Lasten des Beitrages, den diese Instrumente zum Gesamt des Orchesters leisten, sondern es führt auch dazu, und zwar zwangsläufig, dass sich das Orchester insgesamt verändert. Genau das ist es, was wir wohl in der Vergangenheit im Umgang mit unseren Schulen übersehen haben: Dass am Ende die Schule insgesamt aus den Fugen gerät, wenn durch einseitige Beschneidung bestimmter Unterrichtsfächer die Balance zwischen der Vermittlung instrumentellen Wissens und der Förderung der Ich-Entwicklung verloren geht. Und dass sie gegenwärtig aus den Fugen geraten ist, ist offensichtlich ausgemacht, und zwar nicht weil die Ergebnisse der PISA-Studie so sind, wie sie sind, sondern weil sich kein anderes Fazit aus den Reaktionen ziehen lässt, die diese Ergebnisse ausgelöst haben. Auf jeden Fall ist mir nicht eine einzige Reaktion auf die Ergebnisse der PISA-Studie bekannt, in der diese Ergebnisse nicht zum Anlass genommen werden, um über die Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsystems den Stab zu brechen.

 

Anmerkungen 

  1. Vgl. Hilmar Grundmann, Vom Volk der Dichter und Denker zum Volk der Analphabeten?, in: Die berufsbildende Schule, Heft 2 / 2002, S. 41ff.. Und: Ders., Die Ergebnisse der PISA-Studie als Herausforderung für den (Deutsch-) Unterricht an berufsbildenden Schulen?, in: Erziehungswissenschaft und Beruf, Heft 1 / 2002, S. 127ff.
  2. Bernhard Dressler, editorial, in: Loccumer Pelikan, Heft 1 / 2002, S. 1
  3. Steffen Welzel, Preis der frühen Auslese. E&W-Gespräch mit Klaus Klemm, in: Erziehung und Wissenschaft, Heft 12 / 2001, S. 10
  4. Bernhard Dressler, editorial , a.a.O., S. 1
  5. Almut Hoppe, Lehrplansynopse, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Heft 2 / 2001, S. 262
  6. Ebd., S. 223ff.
  7. Vgl. ebd., S. 260
  8. Vgl. Hilmar Grundmann, ‘Schöne neue Arbeitswelt‘. "Reform" durch Eliteförderung und Privatisierung des öffentlichen Schulsystems gefordert, in: hlz (Hamburger Lehrerzeitung) 2 / 3 2001, S. 17ff.
  9. Vgl. Hilmar Grundmann, Zum Berufsbezug des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen oder zu den Auswüchsen eines ‘abnehmerorientierten‘ berufsschulischen Unterrichts, in: Erziehungswissenschaft und Beruf, Heft 3 / 2000, S. 377ff. In leicht veränderter Form wieder abgedruckt in: Loccumer Pelikan, Heft 1 7 2002, S. 3ff.
  10. OECD PISA 2000, Schülerleistungen im internationalen Vergleich, Nationaler Ergebnisbericht, zit. nach www.mpib-berlin.mpg.de/pisa. Alle in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Quelle.
  11. Wieso, weshalb, warum? Über die Ursachen der Bildungsmisere und wie man Schule besser machen kann. Jürgen Baumert und Hermann Lange im ZEIT-Gespräch, DIE ZEIT, zit. nach: www.zeit.de 2001/50/Hochschule/200150_pisa-interview-l.html, 18.1.2002, S. 2
  12. Vgl. z.B. Max Loewe, Am Geld allein liegt’s nicht, in: Erziehung und Wissenschaft, Heft 12 / 2001, S. 7
  13. Vgl. Hilmar Grundmann, 23% der 15-Jährigen berufsunfähig? Zu den Ergebnissen der PISA-Studie und den Konsequenzen für die berufsbildenden Schulen, erscheint in: Winklers Flügelstift, Heft 2 / 2000
  14. Ebd.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2002

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