pelikan

Freiheit – lutherisch: eine Angelegenheit des Herzens

von Johannes von Lüpke


Extreme Theologie1 

„Nun freut euch“, so stimmt Luther eines seiner bekanntesten Lieder an. Die „lieben Christen“ sind eingeladen, „fröhlich [zu] springen“, „getrost und all in ein mit Lust und Liebe [zu] singen“ (EG 341,1). Die reformatorische Botschaft von der christlichen Freiheit will als Freudenbotschaft ankommen. So wie Christenmenschen „mit Lust und Liebe singen“, so dürfen und können sie dann auch „mit Lust und Liebe“ ans Werk gehen, froh und frei. Das ist der Grundton in Luthers Lied, in dem man evangelische Theologie dramatisch verdichtet kennenlernen kann.

Dazu gehören freilich auch die keineswegs erfreulichen Erfahrungen, die in den beiden folgenden Strophen erinnert werden. Die Erinnerung gilt den feindlichen Gewalten, die den Menschen in der Sünde von außen und von innen bedrängen, ja beherrschen. So wie Luther es in seiner eigenen Biografie erfahren hat: Gefangenschaft unter dem Teufel, Verlorenheit im Tod, Qual der Sünde, all das von Geburt an und mit negativ abfallender Tendenz: 
„Ich fiel auch immer tiefer drein, / es war kein Guts am Leben mein, / die Sünd hatt’ mich besessen.“

Drastischer, dunkler, schwärzer kann man die Unfreiheit des Menschen kaum schildern. Und die dritte Strophe (EG 341,3) setzt noch eins drauf: 
„Mein guten Werk, die galten nicht, / es war mit ihn’ verdorben, / der frei Will hasste Gotts Gericht, / er war zum Gutn erstorben; / die Angst mich zu verzweifeln trieb, / dass nichts denn Sterben bei mir blieb, / zur Hölle musst ich sinken.“ 

Mit eigenen Kräften kann sich der Mensch aus diesem Elend offenbar nicht herausarbeiten.

Luther geht auf die Extreme. Es geht um Tod und Leben, nichts und alles. Je massiver die tödlichen Gewalten einen Menschen gefangen hielten, desto größer das befreite Aufatmen, wenn die Befreiung wirklich erfolgt ist und in der Rückschau allererst deutlich wird, was es heißt, von der Sünde „besessen“ zu sein.

Aber ist eine solch radikale Befreiung wirklich denkbar und nachvollziehbar? Es sind gerade die radikalen, kompromisslosen Aussagen, wie sie Luther im Streitgespräch mit Erasmus vorgebracht hat, die zum Widerspruch herausfordern. So diagnostiziert Klaas Huizing bei Luther „ein tiefschwarzes Menschenbild“, „einfältige Vereinfachung“, „Sündenverbiesterung“.2  Müsste man nicht differenzierter vom Menschen reden: statt Schwarz-weiß-Malerei also Schattierungen zwischen Freiheit und Unfreiheit einzeichnen? Menschen sind doch nicht in jeder Hinsicht unfrei, verdorben, unfähig zum Guten. Es gibt doch so etwas wie den freien Willen. Wir setzen ihn voraus, wann immer wir ethische Mahnungen aussprechen und zu Entscheidungen auffordern.

Das Herz: wo der Mensch seiner selbst nicht mächtig ist

Auch Luther weiß das. Auch er kennt „gute Werke“. Er weiß um das Faktum des „freien Willens“. Jedoch „frei“ ist der Wille, über den der Mensch von Natur aus verfügt, zunächst lediglich im Sinne der Willkür. Der Mensch kann wählen. Und er muss es auch. Er tut dies jedoch durchaus wechselhaft, je nach dem, was ihm gerade durch den Kopf geht und was ihm gut erscheint. Genauer gesagt: Was er will und dann auch im Handeln ausführt, entscheidet sich im Herzen, dort, wo der Mensch von Affekten bewegt wird und seine Gedanken ihn hin und her treiben. Hier geht es durchaus bunt zu. In der Vorrede auf den Psalter von 1528 wirft Luther einen Blick ins menschliche Herz und entwirft zwei Bilder: 
„[...] ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt her Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude an gegenwärtigen Gütern. Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und den Grund herausschütten.“

Das Herz ausschütten, dazu laden die Psalmen sowohl in den Klagepsalmen als auch in den Lob- und Dankpsalmen ein. Und diese eröffnen noch einmal einen anderen Blick: 
„Da siehst du allen Heiligen ins Herz wie in schöne lustige Gärten, ja wie in den Himmel, wie feine, herzliche, lustige Blumen darinnen aufgehen von allerlei schönen, fröhlichen Gedanken gegen Gott und seine Wohltat.“3 

Hier das stürmische Meer, dort der Garten voller Blütenpracht, hier der drohende Untergang, dort eine Welt, die Gottes schöpferische Wohltat empfängt und darüber fröhlich gestimmt wird – so gegensätzlich die beiden Szenen sind, so wird doch eine Grunderfahrung deutlich: Der Mensch ist seiner selbst im Innersten nicht mächtig. Mag er auch seine Gedanken und Handlungen willentlich lenken, im Herzen ist er gefragt, von welchen Mächten er sich wirklich bewegen lässt. In dieser Einsicht trifft sich Luthers Verständnis des Menschen mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds: Der Mensch ist nicht Herr im Haus seiner Seele.

Das erste Gebot: Spiegel der Sünde und Quelle der Gnade

Hier ist freilich auch der Punkt, an dem die Theologie als Gotteslehre ins Spiel kommt. Nach Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus entscheidet ja „das Dichten und Trachten“ des Herzens darüber, wen oder was ein Mensch als Gott ansieht und verehrt. „Woran du nun […] dein Herz hängst und verlässt dich darauf, das ist eigentlich dein Gott.“4  Allerdings „macht das Vertrauen und Glauben des Herzens beide, Gott und Abgott. Sind Glaube und Vertrauen richtig, so ist auch dein Gott richtig, und umgekehrt: Wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der wahre Gott nicht.“5  Im Kleinen Katechismus fasst Luther es noch kürzer: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Das ist der Hauptsatz, von dem her alle einzelnen Gebote auszulegen sind. Gottes Wille, so wie er dem Menschen als unbedingtes, kategorisches Sollen entgegentritt, trifft jedoch im Menschen auf einen Willen, der alles Mögliche will, ohne doch dieser Forderung des Ersten Gebots nachkommen zu können.

Im Spiegel des Ersten Gebots verdeutlicht sich für Luther, was Sünde ist: nicht die Übertretung dieser oder jener moralischen Gebote, auch wenn sich die Sünde darin äußert. Die größte Sünde ist es, „an Gottes Barmherzigkeit [zu] verzweifeln“6 . Wenn Luther von dieser „höchste[n] Sünde“ behauptet, sie sei „unvergebbar“, heißt das allerdings nicht, dass der Mensch ihr rettungslos, hoffnungslos ausgeliefert bleiben müsste. „Unvergebbar“ ist diese Sünde nur, sofern sich der Mensch in ihr gegenüber dem verschließt, was ihn doch retten und heilen könnte. Sie ist „unvergebbar, es sei denn, die Gnade holt einen zur rechten Zeit zurück“7 . Die unvergebbare Sünde ist also die, die gar nicht anders als durch Gnade überwunden werden kann.

An Gottes Gnade kann der Mensch allerdings auch zweifeln, ja verzweifeln. Wenn er auf sich selbst, seine Befindlichkeit, seine Fähigkeiten und Leistungen schaut, hat er allen Grund dazu. Soll er dennoch Gnade erfahren, dann muss diese ihm als vertrauenswürdig verbürgt sein. An dieser Stelle entscheidet sich für Luther alles. Es entscheidet sich, wenn man das erste Gebot noch einmal anders hört, wenn man die dem Gebot voraus- und zugrundeliegende Zusage vernimmt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei, geführt hat.“ Übertragen auf die innere Versklavung – das „Ägyptenland“ des seelischen Chaos – liegt darin für Luther „die Zusage aller Zusagen, Quelle und Haupt aller Religion und Weisheit, das den zugesagten Christus umfassende Evangelium“8 . Christus ist die menschliche Gestalt der göttlichen Selbstzusage, auf die der Mensch sich im Glauben ganz verlassen kann. Auf ihn ist Verlass, weil er sich „selber ganz für dich“ gegeben hat (EG 341,7).

Freiheit in der Spontaneität und Freude der Liebe

In diesem Sinn hat Luther die Freiheitsbotschaft des Ersten Gebots, die sich im biblischen Kontext an der Erfahrung der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei festmacht, aufgenommen und auf die im Innersten des Herzens zu vollziehende Befreiung transponiert. Ob er im Interesse an dieser vertieften Freiheitserfahrung das Recht der „leiblichen Freiheit“, für das die Bauern 1525 gekämpft haben, verkannt hat, bleibt kritisch zu fragen. Deutlich ist jedoch, dass die innere Freiheit nicht ohne äußere, leibliche Vermittlung zu haben ist. Das gilt für ihre Bildung, sofern sie sich der Zusage von außen – nicht zuletzt durch Menschen als Zeugen der Gnade und Liebe Gottes – verdankt. Und es gilt für ihre Wirkung, sofern Menschen kraft der Liebe, die sie erfahren haben, nun auch in der Lage sind, „von sich aus und fröhlich“ („sponte et hilariter“) Liebe zu üben im Sinne des Doppelgebots der Liebe. So ergibt sich die Konsequenz,
„dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott. Aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und in göttlicher Liebe [...]. Siehe, das ist die rechte geistliche christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde.“ 9

In dieser Freiheit ist der Mensch der Sorge um sich selbst sowie der Qual der Wahlfreiheit enthoben. Er kann gar nicht anders als „von Herzen“ Gutes zu tun – so wie ein Baum von Natur aus gute Früchte bringt und ein wohlbewässerter Garten die Pflanzen blühen lässt.

Anmerkungen

  1. Unter dieser Überschrift hat Jörg Baur Luthers Theologie prägnant charakterisiert: Luther und seine klassischen Erben, 3-12.
  2. Huizing: Schluss mit Sünde!, 46f.
  3. Luthers Vorreden zur Bibel, 67.
  4. Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der ev.-lutherischen Kirche, 515.
  5. Ebd.
  6. Luther: Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bd. 2:, 401-441, Zitat 417 (De lege, These 38). 
  7. Ebd. 
  8. Luther, WA 30/II; 358,1–4 (Glossen zum Dekalog, 1530), aus dem Lateinischen übersetzt.
  9. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 315.

Literatur

  • Baur, Jörg; Luther und seine klassischen Erben, Tübingen 1993
  • Huizing, Klaas: Schluss mit Sünde! Warum wir eine neue Reformation brauchen, Hamburg 2017
  • Luther, Martin: Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung, hg. v. Johannes Schilling, Leipzig 2006, 401-441
  • Luther, Martin: Luthers Vorreden zur Bibel, hg. v. Heinrich Bornkamm, Frankfurt a.M. 1983
  • Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen, zitiert nach: Martin Luther: Deutsch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1: Glaube und Leben, hg. v. Dietrich Korsch, Leipzig 2012
  • Luther, Martin: Werke – Weimarer Ausgabe (WA) 30/II; 358,1-4 (Glossen zum Dekalog, 1530)
  • Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der ev.-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, hg. vom Amt der VELKD. 6. Aufl., Gütersloh 2013