Durch mehrere Faktoren in den letzten Jahren ist das Interesse an orthodoxen religionspädagogischen Perspektiven im Bereich der evangelischen und katholischen Religionspädagogik signifikant gestiegen. Der relevanteste Faktor dabei ist Präsenz orthodoxer Schüler*innen im katholischen und evangelischen sowie demnächst christlichen Religionsunterricht (gemeinsam verantwortet allerdings nicht von allen christlichen Konfessionen). Dieser Tatsache, dass viele orthodoxe Kinder und Jugendliche konfessionsfremd unterrichtet werden, liegen verschiedene Faktoren zu Grunde. Einer davon ist das geringe Angebot an orthodoxem Religionsunterricht vor Ort. In Niedersachsen wird orthodoxer Religionsunterricht derzeit nur an einer Schule erteilt. So bemühen sich viele evangelische und katholische Religionslehrkräfte und fühlen sich dabei herausgefordert, ihren Religionsunterricht konfessionssensibel zu erteilen und dabei auch mehr auf Bedürfnisse orthodoxer Schüler*innen einzugehen.
Orthodoxe Schüler*innen – eine heterogene Gruppe
Wer bildet nun die Gruppe der orthodoxen Schüler*innen? In diesem Beitrag gehe ich auf die byzantinisch-orthodoxe Kirche in Deutschland ein. Eine Liste der in Deutschland präsenten Diözesen findet man auf der Webseite der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD).1 Die OBKD ist ein 2010 gegründetes Gremium, in dem alle Bischöfe der Diözesen in den Fragen, die alle Diözesen betreffen, zusammen agieren. Wichtig ist für unseren Kontext, dass zu solchen Fragen auch der orthodoxe Religionsunterricht und insgesamt religiöse Bildung an Schulen gehören, also auch Fragen bezüglich konfessioneller Kooperation. Orthodoxer Religionsunterricht richtet sich dabei an alle orthodoxen Schüler*innen, die einer dieser Diözesen angehören. Die Liste der Diözesen verrät zugleich eine kulturelle Vielfalt: russisch-orthodox, georgisch-orthodox, griechisch-orthodox, serbisch-orthodox, rumänisch-orthodox, bulgarisch-orthodox usw. Orthodoxe Schüler*innen haben in ihrer Mehrheit einen Migrationshintergrund. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Präsenz der Orthodoxie in Deutschland insgesamt auf mehrere Migrationswellen zurückzuführen ist. Verschiedene Faktoren waren im Spiel, wie etwa die Arbeitsmigration, Zerfall des Sowjetblocks in den 1990er-Jahren, die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in die Europäische Union oder zuletzt die Fluchtwelle aus der Ukraine. Orthodoxe Schüler*innen sind dementsprechend eine sehr heterogene Gruppe: Viele von ihnen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, viele von ihnen sind aus anderen Ländern mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen.
Sprachliche Heterogenität
Des Weiteren sei erwähnt, dass die meisten orthodoxen Schüler*innen mehrsprachig aufwachsen. Die Kenntnisse in deutscher Sprache können unterschiedlich ausgeprägt sein, u.a. je nach Zuwanderungszeitpunkt: Für die meisten orthodoxen Schüler*innen ist Deutsch ihre Muttersprache. Dazu können noch Sprachen kommen, die eventuell in der Familie gesprochen werden: Serbisch, Russisch, Ukrainisch, Georgisch, Griechisch etc. Aber das ist noch nicht alles mit Blick auf die Mehrsprachigkeit, die für Religionsunterricht relevant ist. Manche orthodoxe Kirchen verwenden ähnlich zum Lateinischen vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil Sprachen in ihrem Gottesdienst, die nicht mehr gesprochen werden. In den russisch-orthodoxen Gemeinden verwendet man Kirchenslawisch, georgisch-orthodoxe Christ*innen beten auf Altgeorgisch und in den griechisch-orthodoxen Gemeinden wird als liturgische Sprache Altgriechisch verwendet. Inwiefern orthodoxe Christ*innen diese Sprachen bis in die Einzelheiten verstehen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Wiederum andere Diözesen, z. B. die rumänisch-orthodoxe, verwenden die heute gesprochenen Sprachen (wie Rumänisch), obwohl das Deutsche hier und da in den Gottesdienst integriert wird, z. B. wenn die Bibellesungen oder das Vaterunser bilingual gesprochen werden. Aber insgesamt führen nur ganz wenige Gemeinden in Deutschland ihr Gottesdienst- und Gemeindeleben komplett auf Deutsch. Wichtig ist für den Religionsunterricht: Wenn orthodoxe Schüler*innen den Inhalten ihrer religiösen Tradition im Alltag begegnen, dann geschieht das meistens nicht in Deutsch. Im Religionsunterricht, der aber in deutscher Sprache stattfindet, sollen dann orthodoxe Schüler*innen eine Übersetzungsleistung erbringen, wenn sie die Auskunft über ihre Tradition geben sollen. Deutlich veranschaulicht dies das folgende Zitat der 19-jährigen Anna2, die orthodox ist und den Religionsunterricht einer der beiden großen Konfessionen besucht hat:
„Für mich war es persönlich auch immer noch sehr schwer, da ich in der Kirche immer nur auf Russisch geredet habe, kannte ich alles nur auf Russisch. Dementsprechend, wenn mich mein Lehrer – ich war, glaube ich, in der zehnten oder elften Klasse – gefragt hat: ‚Anna, habt ihr denn Wallfahrten?‘ Und ich hab ihn wirklich dumm angeschaut und gefragt: ‚Was sind denn Wallfahrten?‘ Ich hab das Wort noch nie zuvor in meinem Leben gehört. Was sind Wallfahrten? Und dann hat er mir angefangen zu erzählen: ‚Ja, Wallfahrten sind sowas wie Pilgerfahrten.‘ Und ich so: ‚Ja, natürlich haben wir sowas.‘ Aber es war, also es hat mich tatsächlich, ich hab mich manchmal sehr deswegen gedemütigt gefühlt vor der Klasse, weil ich nicht auf die Fragen antworten konnte, die er hatte, weil ich das einfach auf Deutsch nicht ausdrücken konnte. So ist es auch heute teilweise, jetzt schon nach der Schule.” 3
Dass sich die Gebrauchssprachen in Bezug auf eigene religiöse Tradition einerseits und Sprache im Unterricht andererseits unterscheiden, gilt im gleichen Maße auch für den orthodoxen Religionsunterricht. Dabei wird im orthodoxen Religionsunterricht Vielfalt unter orthodoxen Schüler*innen zum Ausgangspunkt für die Prozesse des religiösen Lernens. Ein Anspruch auf Homogenität wird gar nicht erst gestellt. Orthodoxer Religionsunterricht hat diese sprachliche Dimension besonders im Blick. Lehr- und Bildungspläne weisen explizit darauf hin: Im Lehrplan für Nordrhein-Westfalen ist „Sprache der Religion“4 als ein eigenes Inhaltsfeld und im Lehrplan für das Land Baden-Württemberg ist religiöse Sprachfähigkeit als eigenständige Kompetenz ausgewiesen („religiöse Sprache für sich erschließen und verwenden“5 ). Im orthodoxen Religionsunterricht wird Mehrsprachigkeit der Schüler*innen in den Lernprozessen aktiv einbezogen. Und das ist nicht nur als ein Zugang zum Lerngegenstand, sondern auch insgesamt als eine Wertschätzung gegenüber sprachlichen Ressourcen zu verstehen, die Schüler*innen in die Schule mitbringen und die so oft im schulischen Kontext bei der Normsprache Deutsch und den üblichen Fremdsprachen keine Beachtung finden.
Religiöse Heterogenität
Es ist normal, verschieden zu sein, wenn man als orthodoxer Mensch in der Diaspora lebt. Das ist auch ein wesentlicher Unterschied der Situation der Orthodoxie in Deutschland zu der in den Herkunftsländern, wo auf einem Territorium in der Regel nur eine Orthodoxe Kirche zu Hause ist (z. B. Serbische Orthodoxe Kirche in Serbien). Zu der oben beschriebenen sprachlichen Heterogenität kommt religiöse Heterogenität unter orthodoxen Schüler*innen dazu. Diese bringen je unterschiedliche kirchliche Sozialisationen mit. Manche sind gut vertraut mit der eigenen religiösen Tradition, weil sie zum Beispiel an den Angeboten religiöser Bildung in ihrer Gemeinde teilnehmen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass religiöse Bildung in den Gemeinden im Unterschied zum orthodoxen Religionsunterricht der Verantwortung einzelner orthodoxer Diözesen obliegt. Die Zielgruppe sind dabei meistens orthodoxe Kinder und Jugendliche der jeweiligen Diözese. Auch im Unterschied zum orthodoxen Religionsunterricht finden Angebote der religiösen Bildung in den Gemeinden nicht in deutscher Sprache statt, sondern z. B. in Russisch, Griechisch oder Serbisch. Während orthodoxer Religionsunterricht den Fokus auf das gemeinsame Orthodoxe legt und dabei die Aspekte der jeweiligen Lokaltraditionen im Blick hat, hat religiöse Bildung in den Gemeinden öfters zusätzlich eine stärkere kulturelle Verortung und trägt insgesamt zum Spracherhalt bei. Im Unterschied zum orthodoxen Religionsunterricht ist das Feld der religiösen Bildung in den Gemeinden viel breiter aufgestellt. Dazu gibt es verschiedene Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche der jeweiligen Diözese, die bundesweit oder gar im internationalen Format stattfinden.
Sei es orthodoxer Religionsunterricht oder religiöse Bildung in den Gemeinden – diese Angebote sind für orthodoxe Kinder und Jugendliche für ihre Identitätsbildung wichtig. Sie nehmen sich so als eine Gemeinschaft in einer mehrheitlich nicht-orthodoxen Umgebung wahr. Sie nehmen wahr, dass sie nicht alleine sind. Diesen Aspekt thematisiert auch das Schulbuch „Mit Christus unterwegs“: „Maria, Natalija, Samira, Niko und Alexander gehen in die Schule. Sie sind Schulkinder – so wie du. Sie sind in verschiedenen Klassen. Aber Religionsunterricht haben sie zusammen. Denn sie sind alle orthodox. Sie gehören zu der einen Orthodoxen Kirche, in der viele verschiedene Sprachen gesprochen werden.“6
Religionspädagogik im Kontext: Diaspora
Was macht die Grundlinien der orthodoxen Religionspädagogik in der deutschsprachigen Diaspora aus? Die Lehr- und Bildungspläne für den orthodoxen Religionsunterricht zeigen es deutlich: Eine große Bedeutung kommt dem Kennenlernen eigener Tradition zu. Aus der Perspektive der heutigen evangelischen und katholischen Religionspädagogik wirkt dieser Ansatz katechetisch orientiert und wird als dem heutigen Entwicklungsstand der Religionspädagogik nicht mehr zeitgemäß gewertet. Man soll doch nicht etwa hinter die Würzburger Synode zurückfallen. Nun ist die Frage: Wie ist diese Ungleichheit in den religionspädagogischen Profilen zu deuten und was wünschen sich orthodoxe Schüler*innen im Religionsunterricht? Hören wir wieder der 19-jährigen Anna zu. Auf die Frage im Interview, welche Inhalte sie in einem orthodoxen Religionsunterricht interessieren würden, antwortet sie mir:
„Auf jeden Fall Katechesis. Hm, aber auch generell: Wie ist die Kirche aufgebaut? Was gehört alles zur Liturgie? Woraus besteht sie? Was bedeuten die verschiedenen Gesänge? Was passiert zu dieser Zeit im Altarraum? Was bedeuten all die geheimen Gebete, die der Priester liest? Warum sind sie geheim? Also alles in dieser Richtung. Warum Proskomidie7 ? Was genau passiert bei der Proskomidie? Was bedeuten die verschiedenen Prosphoren8 auf der Proskomidie? Warum wird die Nachtwache meist am Abend im Voraus gefeiert? Warum wird in Klöstern der Matutin9 direkt am selben Tag vor der Liturgie abgehalten? Warum ist der Gottesdienst zu Ostern länger als zu Weihnachten? Nein, anders rum. An Weihnachten ist es länger als an Ostern. Ähm, also alles um den Gottesdienst herum.“ (Anna, 19 Jahre alt).
Die kursiv markierten Stellen sind im Originaltext in russischer Sprache. Mindestens zwei Beobachtungen kann man anhand dieses Textes machen und anschließend noch eine Frage stellen. Erstens interessieren Anna explizit katechetische Inhalte bezüglich ihrer Tradition. Sie hat bereits breites Vorwissen und möchte dieses weiter ausbauen. Zweitens liegt dieses Vorwissen bei Anna in russischer Sprache vor. Die Arbeitssprache für den Bereich ihrer religiösen Tradition ist Russisch. Religionsunterricht kann hier einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass auch Deutsch zu einer Arbeitssprache für die eigene religiöse Tradition wird und somit auch die Dialogfähigkeit in Bezug auf die eigene religiöse Tradition und Identität fördern. Die sich anschließende Frage ist: Inwiefern ist ein evangelischer, katholischer oder demnächst christlicher Religionsunterricht in der Lage, dem Interesse und den Bedarfen von Anna gerecht zu werden?
Das gemeinsam Christliche und Konfessionsspezifische entdecken: religionsdidaktische Perspektiven
Es wäre für die Religionslehrkräfte überfordernd und vermutlich auch der Sache nicht angemessen, wenn die Orthodoxie bzw. die orthodoxe Perspektive im Religionsunterricht rein additiv zu anderen Inhalten hinzukäme. Das größere religionsdidaktische Potenzial sehe ich in einem multiperspektivischen Zugang in Anlehnung an Käbisch und Woppowa.10
Bei der näheren Betrachtung der Lehr- und Bildungspläne für den orthodoxen Religionsunterricht lassen sich viele Gemeinsamkeiten zu anderen christlichen Religionsunterrichten feststellen, z. B. bezogen auf die Inhalte bzw. Inhaltsfelder (Bibel, Kirchenraum, Umgang mit Tod und Auferstehungshoffnung, ethische Themen, Anthropologie usw.). Es böte sich an dieser Stelle das Lernen an einem gemeinsamen Lerngegenstand an.11 Wenn es etwa um den Kirchenraum geht, so kann man hier sowohl Gemeinsamkeiten entdecken lassen, seien es liturgische Gegenstände oder die Multifunktionalität eines Kirchenraumes an sich. Auch lässt sich konfessionell Spezifisches wahrnehmen, wiederum in der Besonderheit dieser liturgischen Gegenstände, ihrer Bedeutung im liturgischen Vollzug oder in Funktionen, die ein Raum erfüllen kann. Besonders spannend kann die Auseinandersetzung mit den orthodoxen Kirchenräumen vor Ort sein. Diese sind im Unterschied zu den Kirchenräumen in Herkunftsländern der Orthodoxie wie Serbien oder Rumänien durch hybride Formen geprägt. Viele orthodoxe Gemeinden nutzen gastweise katholische oder evangelische Kirchenräume. So wird z. B. in einer barocken katholischen Kirche in Münster eine Klappikonostase aufgestellt, die wichtigsten liturgischen Gegenstände ausgelegt und so kann die Feier der Göttlichen Liturgie beginnen. Gerade in solchen konfessionell hybriden Kontexten kann man den Blick auf das Gemeinsame und elementar Christliche schärfen.
Anmerkungen
- www.obkd.de (06.04.2025).
- Name geändert.
- Das Zitat stammt aus einem Interview, durchgeführt im Rahmen des Habilitationsprojektes der Verfasserin zum Thema „Religiöse Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft. Versuch eine mehrperspektivischen Grundlegung subjektorientierter religiöser Bildung in der christlich-orthodoxen Diaspora.“
- Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Kernlehrplan für die Sekundarstufe I, 16.
- Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Sekundarstufe I. Orthodoxe Religionslehre.
- Keller, Mit Christus unterwegs, 6.
- Der erste Teil der Liturgie, in dem Gabenbereitung erfolgt.
- Das für das Sakrament der Eucharistie verwendete Brot.
- Morgengottesdienst.
- Vgl. Käbisch / Woppowa, Qualitätskriterien.
- Zur Anthropologie siehe Vorschlag von Danilovich/ Schambeck/Simojoki, Der Mensch – ein Schlüsselthema des Religionsunterrichts?
Literatur
- Danilovich, Yauheniya / Schambeck, Mirjam / Simojoki, Henrik: Der Mensch – ein Schlüsselthema des Religionsunterrichts? Ökumenisch-didaktische Grundlegungen und Konkretisierungen am Beispiel der Theosis-Vorstellung, in: Herausforderung Mensch. Jahrbuch der Religionspädagogik 39, Göttingen 2023, 30-45
- Käbisch, David / Woppowa, Jan: Qualitätskriterien für kooperative Formate im Religionsunterricht, in: Religionspädagogische Beiträge (45/2) 2022, 33-45
- Keller, Kerstin (Hg.): Mit Christus unterwegs 1/2. Das orthodoxe Schulbuch, Berlin 2016
- Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.): Sekundarstufe I. Orthodoxe Religionslehre, https://kurzlinks.de/4313 (15.05.2025)
- Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Orthodoxe Religionslehre, Düsseldorf 2011