In der orthodoxen Theologie ist die Freiheit etwas, was das Bild Gottes im Menschen ausmacht. Deshalb könnte man sagen, dass das Anliegen der orthodoxen Frömmigkeit in der Wiedererlangung des Bildes Gottes besteht oder als Kampf um die Freiheit beschrieben werden könnte: Alles im Kirchenraum, im Alltag und sogar im alltäglichen Denken soll die Gläubigen stets an die Befreiung erinnern, ihnen dabei helfen, sich auf das Erlangen der Freiheit zu konzentrieren und ihnen Kräfte für den Kampf liefern. Die langen Gottesdienste mit ihrem konzentrierten Gebet, den Gesängen, dem Weihrauch, dem äußerst dichten Geschehen sind dazu da, den Gläubigen zu helfen, die Perspektive auf sich selbst und das eigentlich Wichtige zu korrigieren. Die orthodoxe Spiritualität versetzt sie quasi ins Jenseits, wo Gott „jede Träne abwischt“ (vgl. Offb 21,4), wo man von allen Sorgen befreit sein darf, wenigstens für die kurze Zeit des Gottesdienstes, aber mit der Verheißung der kommenden absoluten Befreiung von Sorgen, Leid, Ungerechtigkeit, den eigenen Abhängigkeiten, fehlender Souveränität im Denken und Handeln, dem steten Wunsch, anderen zu gefallen.
Allem voran handelt es sich um die Befreiung von den Folgen der Gottferne (als „Sünde“ bekannt): von Angst, vor allem Todesangst, aber auch von der Angst, sich nicht (genug) geliebt, anerkannt, gesehen zu wissen. Eine schwache Vorahnung dieser Befreiung vom Tod schenkt uns die Botschaft von der Auferstehung Jesu, die sich schwer mit dem kombinieren lässt, was wir aus unserer Erfahrung kennen.
Die orthodoxe Asketik (modern gesprochen, eine Art Psychologie) hat die Beobachtung gemacht: Wenn der Mensch von der Todesangst oder der Angst vor dem Nicht-Geliebt-Sein überwältigt ist, versucht er, sie zu unterdrücken, indem er sein irdisches Leben intensiviert und sich müht, die Angst durch Vergnügungen zu lindern. Die irdischen Vergnügungen machen ihn aber nicht frei. Bestenfalls lenken sie ihn für kurze Zeit ab, schlimmstenfalls versklaven sie ihn. In seinem Kampf um sein Wohlergehen konzentriert sich der Mensch nur noch auf sich selbst und verliert die Fähigkeit zur selbstlosen Liebe. Ein solcher Mensch will immer etwas (nur noch) für sich. In diesem Zustand ist er ein Sklave: Er dreht sich im Kreis der eigenen Ängste und findet keinen Ausweg aus der Falle der Ich-Bezogenheit.
Die orthodoxe Anthropologie sagt: Der menschliche Wille verfügt unter bestimmten Bedingungen doch über eine gewisse Freiheit. Sobald man in sich bestimmte Mechanismen zu erkennen lernt, die das ich-bezogene Denken und die angstbestimmte Haltung beherrschen, kann man nach dem Ausgang aus diesem Labyrinth suchen. Die orthodoxe Asketik sagt aber, dass die Suche nach diesem Ausgang einer Schulung bedarf. Das griechische Verb „askeo“ bedeutet „ich übe“; „Askese“ bedeutet somit „Training“. Dieses besteht in der steten Selbstbeobachtung, die dazu da ist, unterscheiden zu lernen, welche Ängste und Bedürfnisse natürlich sind und welche von außen – etwa durch Werbung, Mode, gesellschaftliche Tendenzen – aufgezwungen werden. Die fremdeingewirkten Bedürfnisse werden traditionell als die Leidenschaften (modern gesprochen Abhängigkeiten und Zwänge) bezeichnet; genannt werden dabei versklavende „Sperren“ wie Geld- und Habsucht, Neid, Ruhmsucht, Stolz, Zorn usw.
Wenn die orthodoxe Frömmigkeit von der Freiheit redet, meint sie im ersten Schritt das Bewusstwerden der eigenen Versklavung und den steten Kampf um die Befreiung von den inneren „Sperren“ (den Leidenschaften), die dem Menschen die Sicht auf das eigentlich Wichtige (Gott und sein Vorhaben mit dem Menschen) verschließen und ihn deshalb das Leben voller Ängste, Abhängigkeiten und Verzweiflung leben lassen.
Die Sammlung der Texte asketischer Schriftsteller, die ein solches Training und eine solche Selbstbeobachtung behandeln, heißt „Philokalia“, d.h. „die Liebe zum Schönen“ (also zu Gott). Sie enthält Texte von Mönchen, die zwischen dem 4. und 15. Jahrhundert gelebt haben, und ist gewissermaßen ihr Lehrbuch, eine Art Grundstein moderner Psychologie. Einer großen Beliebtheit erfreute und erfreut sich in dieser Hinsicht auch die Sammlung der „Sprüche der Wüstenväter“ aus dem 4. bis 6. Jahrhundert. Beide Sammlungen sind auch ins Deutsche übersetzt worden. Das Mönchtum wird in der Orthodoxie als eine intensivere Form der Suche nach dem Ausgang aus dieser versklavenden ego-Falle gesehen.
Um die Mechanismen der Versklavung erkennen zu lernen, muss man noch kein Christ sein. Das ändert sich, sobald man sich fragt, was man mit der angestrebten Freiheit will. An dieser Stelle kommt der Glaube ins Spiel. Die orthodoxe Kirche glaubt, dass Gott den Menschen zum freien Zusammensein mit ihm geschaffen hat und durch die freie Menschwerdung seines Sohnes und dessen selbstlosen Dienst am Menschen – einen solchen Dienst, der keine Gegenleistung voraussetzt, – zu sich führt. Eine geistliche Freiheit, die den Menschen nicht von etwas (von den Abhängigkeiten), sondern für etwas (für Gott) frei macht, ist deshalb, wie die orthodoxe Asketik sagt, nur in der Gemeinschaft mit Christus möglich.
Ein weiteres Beispiel absoluter Freiheit wird in dem Schöpfungsakt Gottes gesehen, während dessen Gott die Welt schafft, derer er nicht bedarf. Der schöpferisch handelnde Mensch wird als eine Art Medium der frei schaffenden göttlichen Kraft betrachtet, weil er etwas schafft, was davor nicht existiert hat und wessen er nicht zur Befriedigung seiner Egozentriertheit bedarf.
Die asketischen Autoren geben auch konkrete, einfache Tipps, wie man sich dieser Freiheit annähern könnte: vor allem alles zu meiden, was den Verstand hemmt oder mit schädlichen Eindrücken füllt, etwa fremden Gesprächen folgen, über andere Menschen lästern, zu viel Bedeutung dem eigenen Aussehen oder gutem Essen beimessen, zu viel Angst haben, „zu kurz zu kommen“, zu viel an die eigene Bequemlichkeit denken. Es sei ganz leicht zu prüfen, so die Väter, ob man im Laufe der Zeit etwas freier geworden ist: Man werde irgendwann weder vom Lob noch von der Rüge gerührt und aufgewühlt; es koste keine Mühe, sich zugunsten anderer Menschen zurückzunehmen usw. Das Gebet wird zum Raum der Freiheit, zum Erholungsort, der dem Menschen erlaubt, den Verstand auf die andere Realität blicken zu lassen, in der viele Dinge, die im ständigen irdischen Wettbewerb wichtig sind, nichts zählen.