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Erlebnis, Erfahrung und Evidenz Gottes oder „Gott überall“?

von Matthias Surall

Gott ist nicht einfach evident. Er erschließt sich nicht unmittelbar oder automatisch aus menschlichem Erleben oder auch Erleiden heraus. Ich kann als Mensch nach Gott fragen, mich auf die Suche nach ihm begeben. Aber ich kann seiner niemals habhaft werden, ihn nicht dingfest machen. Gott ist nicht objektivierbar, vermessbar, regulierbar oder funktionalisierbar. Zwar kann ich „Gott als Geheimnis der Welt“1  theologisch annehmen, zu verstehen suchen und mit Hilfe oder auf der Basis von Schrift, Bekenntnis und Kirchen- wie Theologiegeschichte auch erforschen. Wie aber komme ich als Mensch allgemein – und konkret: wie kommen Kinder, Jugendliche und Schüler*innen zu einem Gotteserlebnis, einer Gotteserfahrung, dazu, einen Eindruck, eine Vorstellung dessen entwickeln zu können, wer und was Gott ist und bedeutet?

Das geht im überwiegenden Normalfall menschlicher Existenz nur vermittelt. Vermittelt über die Gotteserfahrungen anderer, wie sie in biblischen Erzählungen berichtet werden oder diesen zugrunde liegen. Vermittelt auch über die Lebenserfahrung anderer, die diese auf Gott hin oder von ihm her deuten. Vermittelt also letztlich durch den Gottesglauben anderer Menschen und hierbei vor allem solcher Menschen, denen Kinder, Jugendliche und Schüler*innen im Alltag begegnen, mit denen sie regelmäßig zu tun haben, an denen sie sich orientieren oder auch abarbeiten und „reiben“.

Neben dieser auf Gott hin oder von ihm her gedeuteten Lebenserfahrung anderer kann diese notwendige Vermittlung auch durch die Gottesvorstellung anderer Menschen geschehen. Dabei geht es keineswegs nur um theoretische Beiträge in schriftlicher Erörterungsform. Nein, viel anschaulicher und ergiebiger kann diese Gottesvorstellung anderer beispielsweise in Gestalt oder durch das Medium eines Kunstwerkes lebendig werden und speziell Schüler*innen in unterrichtlichen Kontexten ansprechen und zur eigenen Annäherung an, Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott anregen.

Wenn es ein entscheidendes Kennzeichen guter Kunst ist – und ich bin fest davon überzeugt, dass das so ist –, dass sie implizit oder explizit große, also existenzielle Fragen des Menschseins in den Blick nimmt, traktiert, dann nimmt es nicht Wunder, dass die Gottesfrage immer wieder aufs Neue in unterschiedlichster Herangehensweise zum Thema eines Kunstwerkes wird. Und da ein Kunstwerk Menschen, die es rezipieren, auf diversen Ebenen anspricht, erreichen, inspirieren und irritieren kann, liegt in der Auseinandersetzung mit einem Medium der Kunst wie einem Bild oftmals die Chance einer ganzheitlichen „Ansprache“.

So kann ein Kunstwerk dann zu einer Art Sehhilfe in Sachen Glaube und Gott werden, also quasi einen hermeneutischen Schlüssel dafür anbieten, wie, wo und wann die Frage nach Gott, die Suche, das Sehnen nach ihm, das Herantasten an ihn in der Suchbewegung und Fragehaltung sowie dem Antwortversuch eines anderen Menschen Gestalt gewinnen, Form annehmen und Wirklichkeit atmen kann.

Ein sehr sprechendes, ausdrucksstarkes und bildmächtiges Beispiel für diese Art von Sehhilfe ist die Arbeit „Gott überall“ – ein Gemeinschaftswerk von Marco Tollkühn und Nicole Lorenz aus dem „Wilderers Atelier“, einer Gruppe von Künstler*innen mit Assistenzbedarf unter dem Dach der Diakonie Himmelsthür in Hildesheim.

Ich staune oft darüber, was Bildkunstwerke zu sehen geben, was in, mit und unter ihnen sichtbar zu werden vermag, was sie zeigen und wie sie dies tun.

Da ist zunächst das, was der*die Künstler*in im Bild mit Absicht sichtbar macht. Das Bild jedoch wirkt weit darüber hinaus. Es zeigt sowohl mehr als auch mehreres zugleich.

Ein Bild, das sich nicht abschließt, indem es sich auf eine einzige Bildaussage zurückzieht, öffnet sich in der Anschauung, bringt die Betrachtenden ins Spiel. Nicht in der Eindeutigkeit liegt das Potenzial des künstlerischen Bildmediums, sondern in seiner Vieldeutigkeit, die das Bildsehen produktiv werden lässt. So können wir von einer Bilderfahrung sprechen, weil etwas mehrfach im Bilde sichtbar wird. Wir sind als Betrachtende gefragt, wenn uns das Bild anspricht. Das Phänomenale am Bild ist doch, dass das, was sichtbar wird, nicht mit dem zusammenfällt, worin es sichtbar wird. Aus dem Bildgrund entspringt eine Bilderscheinung, die über die Farbe auf der Leinwand und die bildnerischen Mittel hinausgeht.

Nicht nur Raum, sondern auch Zeit sind in diesem konkreten malerisch-grafischen ALLOVER in die Fläche des Bildes übersetzt worden. Das geschwungen kreisende grafische Geflecht überzieht die Farbflächen, die mal schärfer gegeneinander abgegrenzt sind, mal sich überlagernd verschränken. Erinnern mich die weißen Markierungen an die Begrenzungen eines Spielfeldes, so wird mir die Bildfläche zum Spielfeld des Lebens. Sehe ich in der Konstellation der Farbflächen eine räumliche Unterteilung, wird sie mir zum Grundriss eines Hauses. Vernehme ich die zeitliche Dimension durch die Ziffern am linken Rand, erweckt die Darstellung den Eindruck von Zeitphasen oder Zeiträumen. „Gott überall“? Weshalb, so frage ich mich, dann jedoch nur von 7.30 Uhr bis 8.00 Uhr? Doch auch die geschwungene, liegende Acht fällt auf und verweist analog zum Bildtitel in die Unendlichkeit. Der Titel „Gott überall“ ist somit kaum nur räumlich zu verstehen.

Der Stempel der „Wilderers“, kontrapunktisch in roter Farbe auf gelbem Grund, verbindet die Zeit/Räume, auch sie sind mit im Bild und umfangen von Gott. Womöglich sind die Künstler*innen des Wilderers Ateliers hier auch stellvertretend für uns alle ins Bild gebracht.

Weiter steigt aus dem grafischen Geflecht eine leuchtend konturierte Figur empor, die einen Schatten wirft. In Kombination mit dem kaum zufällig von den Künstler*innen gewählten Bildtitel lässt sich fragen: Soll hierin die Menschwerdung Gottes, also Gott selber, zu erkennen sein? Oder kann ich mich als Mensch mit dieser Figur identifizieren? Umgeben und gehalten von der Allgegenwart Gottes? Gottes Überall-Sein, hier zum Ausdruck gebracht durch die Farben und Formen, das Abstrakte und Figürliche, das chaotisch Wirkende und das Geordnete wie die Zahlen. Oder sind beides und zugleich noch viel mehr möglich? Sind Gott und Mensch hier etwa künstlerisch zusammengedacht und -gefügt?

Es gibt Mitmenschen, die anderen mit ihrer künstlerischen Begabung zu neuen Sichtweisen verhelfen. Zum Beispiel Nicole Lorenz und Marco Tollkühn vom „Wilderers Atelier“. Sie vermögen mit ihrem Kunstwerk die Augen und Herzen der Betrachtenden dafür zu öffnen, wo und wie „Gott überall“ zu entdecken, wahr-zunehmen ist: in der Farbe, der Fläche und der Weite; in Zahlen, Zeiten und Maßen; im Gewimmel, in der Besonderheit eines jeden Menschen bis hin zu seinem langen Schatten… Gott überall, selbst und vielleicht gerade im Unvollkommenen, Fragmentarischen und Chaotischen!?

So wird deutlich, dass das Medium eines Kunstwerkes wie eben „Gott überall“ beim Verstehen dessen helfen kann, wo und wie überall Gott Menschen ansprechen kann und begegnen will.

Dieses Verstehen, oder manchmal auch nur Erahnen, ereignet sich wie gesagt nicht unvermittelt. Wir benötigen dafür Seh- und Verstehenshilfen, wenn es darum geht, Gott gleichsam auf die Spur zu kommen, ihn wirklich „überall“ zu entdecken, ihm zu begegnen.

Eine besondere Art von Sehhilfe zeigt sich in dem Kunstwerk „Gott überall“ schließlich noch in der ungleichen und etwas irritierend wirkenden Augenpartie der in diesem Bild enthaltenen Figur. Unterschiedliche Blickarten scheinen in ihr vereint. Um etwas zielorientiert zu verfolgen, bedarf es eines fokussierten Blicks, das dargestellte linke Auge zeigt eine solche Fokussierung. Doch wird diese auf Dauer stechend und starr. Der blinde Fleck im Blickfeld nimmt überhand, wenn das Auge unbewegt bleibt, denn das fokussierte Sehen des Einen bedeutet immer auch, (Anderes) nicht zu sehen. Hier ist ein Ausgleich erforderlich. Das andere Auge, als unausgefüllter Kreis dargestellt, symbolisiert eher einen offenen und öffnenden Blick, für das, was noch und anderes möglich ist als beabsichtigt ist oder sichtbar wird. Oder für diejenigen, die aus dem Sichtfeld geraten. Zeigt sich dieses Auge womöglich als ein geschlossenes, gerade um besser sehen zu können?!

Gute Theologie wie gute Kunst ist zuallererst die Kunst der Frage und nicht zuletzt die Frage nach Gott, mitten in den Irrungen und Wirrungen des Lebens und der je aktuellen Zeit – eben die Frage nach „Gott überall“.

Anmerkungen

  1. Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 82010.