Von Jörn Neier

 

Das neuartige Corona-Virus legt momentan das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in allen Teilen der Welt weitgehend lahm. Die Entscheidungen hierzu basieren auf wissenschaftlichen Expertisen, die sich weitgehend nicht auf empirische Daten beziehen können. Im Falle des Corona-Virus existiert das Virus zu kurz, als dass es überall ausreichend empirische Grundlagen, bspw. für die getroffene Entscheidung zu Schulöffnungen und die Frage, inwieweit Kinder und Jugendliche das Virus übertragen, überhaupt schon geben könnte. In mehreren Ad-Hoc-Empfehlungen (bspw. vom Deutschen Ethikrat oder der Nationalakademie Leopoldina) werden Fragen zu den Auswirkungen der Einschränkungen des öffentlichen Lebens erörtert und Vorschläge unterbreitet, wie diese verantwortungsbewusst wieder gelockert werden könnten und welche Kriterien dabei eine Rolle spielen sollten. Welche Auswirkungen auf die Infektionslage die Maßnahmen haben, kann erst retrospektiv ausreichend beurteilt werden, wenn die Datenlage es zulässt und Empfehlungen fortlaufend den neuen Erkenntnissen angepasst werden. In einer ähnlich unsicheren Lage wurde 1968 der Hirntod von einer Ad-Hoc-Kommission der Harvard Medical School definiert. Auch dieser Kommission stand keine langjährige empirische Forschung zur Verfügung; die Möglichkeit einer intensivmedizinischen Versorgung von Teilen der Bevölkerung kam erst in den 1960er-Jahren auf – und die Definition des Hirntodes wurde auch deshalb angestoßen, damit die spärlich vorhandenen Intensivbetten der damaligen Zeit nicht von „Langliegern“ ohne Aussicht auf Heilung blockiert blieben, sondern Patient*innen mit größeren Heilungschancen zur Verfügung stünden. Der Hirntoddefinition lagen also zunächst zwei Absichten zugrunde: einen Zeitpunkt zu definieren, zu dem eine intensivmedizinische Behandlung eingestellt werden, und gleichzeitig einen Zeitpunkt festzulegen, zu dem eine Organentnahme zu Transplantationszwecken legitimiert werden konnte. Die Definition des Hirntodes basierte auf der Annahme, das Gehirn sei der Integrator des menschlichen Organismus und mit Eintritt des Hirntodes irreversibel geschädigt, so dass auch bei Fortsetzung einer Behandlung innerhalb kürzester Zeit der Ganztod eintreten würde.1

In der Empirie der folgenden Jahrzehnte wurde die Annahme, das Gehirn diene als Integrator des Organismus, zunehmend bezweifelt und medizinische Fakten stellten die bisherige Definition in Frage. So stellte sich neben vielen weiteren Aspekten bspw. heraus, dass der Organismus auch im Hirntod Infektionen bekämpfen kann, die Körpertemperatur weiterhin reguliert wird, die Verdauung problemlos funktioniert und schwangere Frauen noch Kinder austragen können. Im Jahr 2008 stellte der US-amerikanische Ethikrat schließlich fest: „[…] the brain is not the integrator of the body`s many functions. […] no single structure in the body plays the role of an indispensable integrator. Integration, rather, is an emergent property of the whole organism.“ 2

Die Erfahrungen in der Empirie führten also dazu, dass das Gehirn seine bisher zugeschriebene Integrationsfunktion für den Organismus verlor. Trotzdem wurde am Hirntod als Todeszeitpunkt festgehalten. Die Integrationsfunktion des Gehirns wurde umdefiniert und das Gehirn gilt seither als Struktur, die eine Integration des Organismus in die Umwelt erst ermöglicht.3

An der Praxis der Organentnahme, für die der Hirntod als Kriterium herangezogen wird, hat sich ergo nichts geändert. Seither vollzieht sich bspw. unter Theolog*innen eine Terminologieverschiebung, da hirntote Patient*innen vermehrt als unumkehrbar Sterbende bezeichnet werden – was m.E. eine andere Qualität der Neudefinition offenbart, da Sterben ein Prozess ist, den nur Lebendiges vollziehen kann. Dennoch scheint die 1968 getroffene Ad-Hoc-Definition des Hirntodes als eines Endzeitpunkts nach wie vor hohe Strahlkraft bis in die Gegenwart hinein zu besitzen.

Das deutsche Transplantationsgesetz sieht eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung zur Organspende vor. Hierzu sollen alle Bürger*innen ab dem 16. Lebensjahr von den Krankenkassen mit geeigneten Informationen versorgt werden und sich auf deren Basis für oder gegen eine Organspende entscheiden.4 „Die Aufklärung hat die gesamte Tragweite der Entscheidung zu umfassen und muss ergebnisoffen sein.“

Folglich gehört die Aufklärung über die Bedeutung des Hirntodes unbedingt zur Mündigkeit hinsichtlich der Organspende dazu – gerade weil er auf dem Organspendeausweis gar nicht explizit erwähnt wird, bei Angehörigen von Spender*innen aber die größten Irritationen hervorrufen kann, da das allgemeine Todesverständnis doch erheblich von dem Zustand, in dem sich ein hirntoter Patient befindet, abweicht. Immerhin wird der Organismus noch künstlich aufrechterhalten und die Patient*innen werden selbstverständlich weiterhin beatmet und weisen optisch keinerlei Unterschiede zu Patient*innen auf, die eine kurative Behandlung auf einer Intensivstation erhalten. 

Der Aufruf zur Entscheidung für oder gegen eine Organspende fällt zeitlich mit dem Leitthema „Sterben und Tod als Anfrage an das Leben“ im niedersächsischen Religionsunterricht an Gymnasien6 und ähnlich gelagerten Kompetenzbereichen an anderen Schulformen zusammen und bildet so eine hochgradig lebensweltlich verankerte Anforderungssituation, die aufgegriffen werden sollte. Lehrer*innen muss dabei bewusst sein, dass die Beschäftigung mit der Thematik nicht einzig die ethische Urteilsbildung beeinflusst, sondern einen direkten Entscheidungsfindungsprozess anstößt, der durch den Unterricht maßgeblich mitgestaltet wird. Die gefällte Entscheidung kann dabei unmittelbar relevant werden und ist durch Dritte im Prinzip nicht revidierbar.

Eine Thematisierung im Religionsunterricht darf daher nicht interessengeleitet sein, sondern muss sich ergebnisoffen zeigen und fundiert sowie reflektiert erfolgen – sowohl theologisch als auch medizinethisch. Hierfür ist es von hoher Relevanz, Lehrer*innen für diese hochkomplexe und fächerübergreifende Thematik zu sensibilisieren und umfassend aus- bzw. fortzubilden.

Mir persönlich ist im Zuge der Erarbeitung der Thematik im Unterricht wichtig, die Schüler*innen dahingehend zu sensibilisieren, eine eigenverantwortliche Entscheidung pro oder contra Organspende zu treffen und zu kommunizieren und diese nicht, wie auf dem Organspendeausweis explizit auch als Entscheidungsmöglichkeit vorgegeben, auf Angehörige abzuwälzen: Im Falle eines diagnostizierten Hirntodes müssten diese nämlich im Sinne ihres verstorbenen Angehörigen entscheiden, und möglicherweise stellt sie dies vor große Gewissenskonflikte, da ihre eigene Einstellung zu einer Organspende von der Einstellung ihres Angehörigen abweicht. Die Angehörigen sind es, die mit dieser Entscheidung zu einem unmöglichen Zeitpunkt – nämlich einer plötzlichen Krise, wenn bspw. der Sohn oder die Tochter plötzlich unumkehrbar Sterbende sind – konfrontiert werden und mit dieser Entscheidung weiterleben und sie vor sich selbst immer wieder rechtfertigen müssen. Aus Verantwortung den eigenen Angehörigen gegenüber sollte ihnen diese Last nicht aufgebürdet werden.
 

  1. Vgl. A Definition of Irreversible Coma. Report of the Ad Hoc Committee of the Harvard Medical Scholl to Examine the Definition of Brain Death. In: The Journal of the American Medical Association (JAMA). Vol. 205. No 6. 5 August 1968, 85.
  2. Controversies in the Determination of Death. A White Paper by the President`s Council on Bioethics. Washington DC 2008, 40.
  3. Vgl. ebd. 58ff.
  4. Vgl. Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben (Transplantationsgesetz – TPG). Ausfertigungsdatum 05.11.1997. Zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 16.03.2020. Verfügbar von: http://gesetze-im-internet.de/tpg/TPG.pdf, S. 5 (Zugriff: 27.04.2020).
  5. Ebd.
  6. Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5-10. Evangelische Religion, Hannover 2016, 28.