Mit Kindern beten - Herausforderung und Chance zeitgemäßer Kindergartengestaltung

von Friedrich Schweitzer

 

Das mir gestellte Thema nehme ich gerne auf. Der Kindergarten ist mir wichtig: Er ist mir wichtig als Religionspädagogen und Theologen, weil ich die Arbeit, die Sie für und mit den Kindern leisten, für eine ganz entscheidende Grundlage des Lebens und Glaubens der künftigen Generation ansehe und weil ich meine, daß diese Arbeit häufig nicht die Beachtung und Anerkennung findet, die sie verdient. Der Kindergarten ist mir aber auch wichtig als Vater von zwei Kindern im Vorschulalter: Meine Tochter geht begeistert in ihren Kindergarten, in dem freilich - leider - von Religion und Glaube nicht gesprochen wird. Schließlich ist und bleibt mir der Kindergarten aber auch deshalb wichtig, weil ich dort einmal, zu Beginn meiner eigenen Ausbildung, gearbeitet und meine ersten Schritte als Pädagoge tun durfte.

Das Thema „Mit Kindern beten“ ist heute kein einfaches Thema mehr. Viele fühlen sich unsicher bei dieser Frage, besonders, wenn es die eigene Person betrifft: ´Soll ich mit Kindern beten? Darf ich das tun, oder zwinge ich den Kindern etwas auf? Kann ich das überhaupt: Kann ich selbst noch beten? Ich beginne deshalb mit einigen Beobachtungen zur Situation:

 

Beobachtungen: Schwierigkeiten mit dem Beten
Zunächst zu einer Autobiographie: Eines der letzten Bücher, die zum Thema „Gebet“ erschienen sind, trägt den sprechenden Titel „Weil ich beim Beten lügen mußte“ . In diesem Buch rechnet die Autorin Monika Schaefer, Jahrgang 1940, mit ihrer religiösen Erziehung, unter deren Folgen sie bis heute zu leiden habe. Sie wandelt auf den bekannten Spuren von Tilmann Mosers „Gottesvergiftung“, wenn sie die Unfreiheit und den Zwang ihrer religiösen Sozialisation beschreibt. So etwa ihre Mutter:

„Der liebe Gott mag keine kleinen Mädchen, die frech sind, die lügen, die laut sind, die eigensinnig sind, die bockig sind. Wegen dir ist der liebe Gott ganz traurig, und denk’ immer daran, was würde Jesus jetzt sagen, was würde Jesus in diesem Fall tun“ (S. 5).

Immer wieder beklagt Monika Schaefer auch, daß und wie sie mit der Mutter beten mußte: Sie hat Angst - „Angst vor Mutters Liedern und dem Betenmüssen“ (S. 49): Nach den Abendliedern „kam der Befehl: ‘Nun beten!’ Ich setzte mich auf, faltete meine Hände, kniff die Augen zu. ‘Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm. Behüte Vati und Mutti und Peter...und alle, die ich lieb habe, und verzeih mir, was ich Böses gemacht habe.“

„Was hast du denn Böses gemacht?’“, fragt die Mutter.

„‘Nichts.’

‘Aber warum sagst du es denn?’

Ich war immer in der Zwickmühle, ein Entrinnen gab es nicht. Abend für Abend diese Frage, und ließ ich den Teil des Gebetes weg, fragte sie, ob ich denn nichts vergessen hätte... Oft überdachte ich schon gegen Abend hin den Tag und überlegte voller Unruhe, was ich beten könnte. Aber oft mußte ich lügen, dabei hatte Mutter gesagt, daß der liebe Gott keine kleinen Mädchen liebt, die lügen...“

Ich lasse Monika Schaefer hier nicht deshalb so ausführlich zu Wort kommen, weil ich glauben würde, daß alle Erwachsenen in ihrer Kindheit solche Erfahrungen gemacht hätten. Aber ich denke, Monika Schaefers Bericht trifft sich doch mit einem weitverbreiteten Unbehagen - mit einem Unbehagen gegenüber der eigenen religiösen Erziehung bei heutigen Eltern und auch Erzieherinnen, die in den 40er, 50er oder 60er Jahren großgeworden sind: Vielfach haben auch sie ihre religiöse Erziehung nicht als befreiend oder überhaupt als freiheitlich erfahren, sondern als Unfreiheit und als Zwang. Wenn wir heute beten wollen, wenn wir mit Kindern beten wollen oder sollen, dann liegt darin immer auch die Frage nach unseren eigenen Kindheitserfahrungen: Wie haben wir die Gebete unserer Kindheit erfahren? Denke ich gerne zurück an das Abendgebet mit der Mutter, dem Vater oder mit wem auch immer? Habe ich ein gutes Gefühl bei solchen Erinnerungen - oder überkommt mich vielmehr die Angst?

Ich denke, für ein pädagogisch verantwortliches Beten mit Kindern ist es wichtig, daß wir zuerst unser eigenen Verhältnis zum Beten bedenken. Nur wenn wir selbst wirklich frei und bereit dazu sind, können wir sinnvoll mit Kindern beten. Beim Beten mit Kindern geht es nicht nur um die Worte, die gesprochen werden. Viel wirksamer sind unter Umständen die Gefühle, die hier wach werden. Und die Gefühle der Erwachsenen übertragen sich auf die Kinder.

Die Frage nach dem Gebet in unserer eigenen Lebensgeschichte ist das eine, daß wir dem Bericht von Monika Schaefer entnehmen können. Das andere ist schwerer zu sehen. Es liegt gleichsam tief unter der Oberfläche dieses negativen und erziehungskritischen Buches verborgen: An einigen wenigen Stellen des Buches klingt an, daß selbst dieses kleine Mädchen, das so sehr unter dem Betenmüssen leidet, noch eine zweite, offenbar andersartige Gebetserfahrung kennt. In besonders schwierigen Situationen, in Situationen der Angst, des Alleinseins und der Verzweiflung betet sie nicht ohne Zweifel oder ohne Vorwurf gegenüber Gott; aber sie betet doch ihr eigenes Gebet und in der Hoffnung auf Hilfe: „Abends im Bett betete ich...die auswendig gelernten Psalmen, denn vielleicht würde mich ja der liebe Gott doch nicht irgendwann hören...“ (S. 244).

Soweit zu Monika Schaefer und ihren Kindheitserfahrungen. Meine zweite Beobachtung betrifft die Erfahrungen, die Kinder heute in ihrem Aufwachsen mit dem Beten machen. Ich kann mich dabei kurz fassen. Denn das Bild fällt einfach aus: Erfahrungen mit gemeinsamen Beten machen Kinder heute nur noch in wenigen Fällen.

Dabei spielt vor allem das Elternhaus eine große Rolle. In den letzten Jahrzehnten haben sich die religiösen Gewohnheit in der Familie allerdings stark verändert. Früher weithin verbreitete Andachtsformen wie das Tischgebet oder auch das Morgengebet werden kaum mehr gepflegt. Katholische Umfragen, die vor 10 Jahren dazu durchgeführt wurden, ergab, daß etwa 10-2% der Familien solche religiöse Riten pflegen. Inzwischen dürften die Zahlen noch einmal geringer geworden sein. Eine größere Verbreitung besitzt allerdings das Abendgebet mit den Kindern, das von etwa 40% der Eltern zumindest eine Zeitlang gepflegt wird. Im Abendgebet besitzt das gemeinsame Beten noch einen Halt. Im ganzen aber ist es deutlich auf dem Rückzug.

Dabei läßt sich interessanterweise nicht behaupten daß heutige Menschen überhaupt nicht beten. Untersuchungen bei Jugendlichen und Erwachsenen zeigen vielmehr immer wieder, daß das persönliche Beten viel weiter verbreitet ist als beispielsweise die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst. Demnach gibt es heute sehr viele Menschen, die zwar so gut wie nie in die Kirche gehen die aber doch zu Gott beten. Dadurch wird das Beten zu einer reinen Privatsache der im gemeinschaftlichen Leben kein Raum mehr gegeben wird.

Damit komme ich zu meiner dritten Beobachtung, die eigentlich eine Frage oder eine These ist. Wenn das Beten etwas ist, das viele tun, über das aber kaum einmal gesprochen und das auch nicht öffentlich gezeigt wird, dann ist das Beten zu einem Tabu geworden. Man darf nicht darüber sprechen - es ist peinlich, wenn man vom eigenen Beten spricht... Ein amerikanischer Kollege erzählte mir einmal, daß es in USA heute leichter sei, über das eigene Sexualleben zu sprechen als über das persönliche Gebetsleben. Hat das Beten die Sexualität als Tabu abgelöst? Belastet die Erziehung heute das Kind mit einem religiösen Tabu?

Vielleicht greift diese These zu weit. Das ist durchaus möglich. Unabweisbar aber scheint mir angesichts der genannten Beobachtungen die Frage, ob wir heute nicht in der Gefahr sind, den Kindern das Beten als eine wichtige Möglichkeit des Glaubenslebens vorzuenthalten. Wenn viele heute aufgrund ihrer Erfahrungen mit der eigenen religiösen Erziehung ihre Kinder nicht mehr religiös erziehen wollen und wenn das gemeinsame Beten immer seltener wird, dann erhalten die Kinder auch keine Hilfe mehr, um zu einer eigenen Gebetspraxis zu gelangen.
Nun werden manche das freilich nicht weiter schlimm finden. Wir müssen daher die grundlegende Frage aufwerfen: Brauchen Kinder das Beten? Sollen sie das Beten überhaupt lernen

 

Sollen Kinder beten?
Ich beginne mit der Frage: Ist Beten für Kinder überhaupt wichtig? Fünf Gründe scheinen mir von besonderem Gewicht. Es sind Gründe, die gleichermaßen aus der Pädagogik wie aus der Theologie erwachsen. Das Gebet ist immer zugleich auf den Glauben und auf die Bildung des Herzens als Zentrum menschlicher Existenz bezogen.

Der erste Grund hat mit dem Stillwerden zu tun: Beten als Ruhigwerden und als Stille. Von Maria Monetessori haben in den letzten Jahren viele Pädagogen und Pädagoginnen wieder neu gelernt, wie elementar bedeutsam Stille für Kinder sein kann. Offenbar gehört das Ruhigwerden als eine Art Sammlung und Meditation für den Menschen zu den elementaren Erfahrungen, die sie einfach brauchen.

Das konzentrierte Hören nach Innen, das Hören mit dem „dritten Ohr“, wie manche es fast überschwenglich bezeichnen, ist heute zu einem seltenen Gut geworden. Die laute Welt der Medien und der Unterhaltungsindustrie machen es Kindern und Erwachsenen schwer, zur Stille zu finden. Deshalb gehört die Pflege des Stillwerdens zu den pädagogischen Aufgaben, die sich angesichts des Wandels der Kindheit und der kindlichen Lebenswelt auch schon für den Kindergarten stellen. Wie ich selber in meiner Arbeit mit Kindern erfahren habe, lassen sich Kinder heute von der Stille neu faszinieren. Für die Kinder ist Stille eine fremde, eine ungewohnte und dadurch fast schon abenteuerliche Erfahrung.

Vielleicht kann man sagen, daß Stilleübungen immer auch ein Stück Gebetsvorbereitung sind, so wie umgekehrt das Beten mit Kindern stets einen Beitrag zu einer pädagogischen Kultur der Stille leisten sollte. Die Faszination der Stille jedenfalls bedeutet einen wichtigen Grund für das Beten mit Kindern.

Ganz ähnlich sieht es - zweitens - aus mit dem Gebet als Ritual. Lange Zeit war ja das Beten aus eben diesem Grunde verpönt: Das Kindergebet, so hieß es damals, sei eben ein leeres Ritual, ständig wiederholt, aber eben ohne wirkliche Bedeutung.

An dieser Kritik ist bleibend richtig, daß das Beten mit Kindern nicht zu einer toten Form, einer bloßen Gewohnheit ohne Sinn werden darf. Als viel größer wird inzwischen freilich die Gefahr wahrgenommen, daß unsere Gesellschaft den Kindern keinerlei feste Formen mehr bieten kann und daß den Kindern von Anfang an diejenigen Rituale fehlen, die sie für ihr Aufwachsen brauchen.
In der Kinderpsychologie wird die Bedeutung des Rituals wieder neu erkannt Rituale geben dem Menschen Sicherheit, sie schützen vor Angst und Verlassenheitsgefühlen. Aber wo erleben Kinder noch solche Rituale? Die Mahlzeiten im Elternhaus sind weitgehend entritualisiert. Alles geht schnell und möglichst formlos vonstatten. Ein-Eltern-Familien und wechselnde Schlafstätten für die Kinder, eine wechselnde Zahl von Betreuungspersonen oder Babysittern - all das macht es schwer, den Kindern feste Abläufe mit rituellem Charakter zu bieten.

Das Beten gewinnt deshalb gerade als eine Form des festen Rituals wieder neu an Bedeutung. Wie alle Rituale lebt es davon, daß es beständig und verläßlich wiederkehrt. Es lebt davon, aß seine Form sich gleichbleibt und daß es als Wiederholung kenntlich ist: als Gebet am Tagesbeginn, als Gebet vor dem Essen, als Gebet zum Schluß des Kindergartentages oder der Kindergartenwoche.
Stille und Ritual bezeichnen elementare menschliche Erfahrungen. Auch der dritte Grund für das Beten mit Kindern hat mit einer menschlichen Grunderfahrung zu tun: mit der Erfahrung von Vertrauen und Geborgenheit. Vielleicht nehmen wir uns an dieser Stelle einen Moment Zeit und versuchen, uns an unsere ersten positiven Gebetserfahrungen zu erinnern. Für mich selbst ist dabei das Gefühl der Geborgenheit ganz entscheidend: Das Gebet mit der Mutter, das Gebete am Ende des Tages, schon im Bett, an der Grenze des Schlafens, das Gefühl von Wärme, von Sicherheit... „Es gibt einen Gott, der uns hilft, der mich beschützt“ - so oder ähnlich können es Kinder erfahren, wenn sie sich im Gebet an Gott wenden. Es ist das Gefühl des Behütetseins, der Sicherheit, die von einer umfassenden, uns haltenden Macht ausgeht.

Damit ist schon ein vierter Grund für das Beten mit Kindern angesprochen, der allerdings häufig vergessen wird: das kleine Wort „mit“ - mit Kindern beten heißt es ja. Und das bedeutet doch, daß hier jemand da ist, der dies zusammen mit dem Kind tut. Die Gemeinschaft mit dem Kind - die besondere Gemeinschaft, die zwischen betenden Menschen entstehen kann -, diese Gemeinschaft kann von Kindern besonders intensiv erfahren werden. Immer wieder haben mir junge Erwachsene erzählt, wie sehr sie sich gewünscht haben, daß die Mutter oder der Vater mit ihnen als Kindern beten sollte. Dabei war es nicht so sehr ein bestimmtes Gebet, nach dem sie sich gesehnt haben, sondern es war die ungeteilt dichte Gemeinschaft mit den Eltern.

Das Beten als Form der Gemeinschaft, das ist also der vierte Grund für das Beten mit Kindern. Der fünfte und letzte Grund, den ich hier nennen möchte, ist nicht weniger wichtig als die ersten vier. Vielleicht ist er sogar der wichtigste von allen: Beten ist ein Zeichen der Hoffnung. Es ist ein Weg, auf dem Hoffnung gelernt und gestärkt werden kann. Im Gebet, so wie es die Bibel versteht, darf und soll gegen alles Leiden in dieser Welt gehofft und geseufzt werden. Beten heißt, angesichts von Bedrohungen und von Hoffnungslosigkeit an der Hoffnung festhalten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, so betet nicht erst Christus am Kreuz, sondern so haben vor ihm und nach ihm viele den 22. Psalm gebetet.

Hoffnung lernen, Hoffnung angesichts von Angst und Bedrohung, das haben auch die Kinder heute nötig. Angst vor der Atomkatastrophe; Angst vor dem Krieg den die Flüchtlingskinder in der Nachbarschaft selbst erlebt haben; Angst vor der Ölpest; Angst vor der nächsten Katastrophe, die wir heute noch nicht kennen - all das macht es so wichtig, den Kindern den Weg zu einer solchen Hoffnung zu zeigen.

Fünf elementare Gründe für das Beten mit Kindern habe ich nun genannt: Stille, Sicherheit durch Rituale, Geborgenheit, Gemeinschaft der Betenden und das Lernen von Hoffnung. Aber all das ist noch ganz aus der Sicht des Erwachsenen gesehen. Wie steht es nun mit den Kindern selbst? Was sagen und denken sie vom Beten?
Leider gibt es bis heute nur sehr wenige entwicklungspsychologische Untersuchungen zum Gebet und zum Gebetsverständnis der Kinder. Immerhin lassen die verfügbaren Erkenntnisse doch einige wichtige Aussagen zu.

Bei Kindern im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren hat man drei Entwicklungsphasen im Gebetsverständnis festgestellt:

  • Die Fünf- bis Siebenjährigen besitzen noch keine festumschriebene Vorstellung davon, was Beten heißt. Sie sehen jedoch, daß das Gebet mit Gott zu tun hat. Weiterhin heben sie besonders die äußerlich wahrnehmbaren Formen und Verhaltensweisen hervor: Beten heißt Hände falten, bestimmte Worte gebrauchen usw.
  • An der Betonung der äußerlich wahrnehmbaren Vollzüge ändert sich auch bei den Sieben- bis Neunjährigen noch wenig. Deutlicher wird jetzt aber die Erwartung, daß Gott wirklich etwas tut. Gott soll die Gebetswünsche der Kinder erfüllen, wobei diese Wünsche häufig recht ich-bezogen und von materieller Art sind.
  • Bei den Neun- bis Zwölfjährigen hingegen findet sich ein verändertes Bild: Die äußeren Vollzüge des Betens wie das Händefalten gelten jetzt als unwichtig. Das Gebete wird als persönliches Gespräch mit Gott aufgefaßt. Das Bitten ist entsprechend nicht mehr der einzige Inhalt des Gebets. Und gesehen wird jetzt auch, aß das Gebet sich nicht nur auf Gott beziehen kann, sondern daß es vor allem eine Wirkung auf den Betenden selber hat.

Welche Folgerungen lassen sich aus solchen Untersuchungen ziehen? Im vorliegenden Zusammenhang scheinen mir besonders zwei Punkte wichtig:

Erstens zeigen diese Befragungen, daß auch Kindergartenkindern selbst die äußere Gestaltung des Gebets besonders eindrücklich und wichtig ist. Das spricht dafür, das Beten im Kindergarten mit äußerlich wahrnehmbaren Formen oder Ritualen zu verbinden - mit bestimmten Sprachformen, Körperhaltungen oder Sitzordnungen sowie mit Stilleübungen. Offenbar sind dies Erkennungszeichen, die den Kindern selbst entgegenkommen, die ihnen helfen.

Zweitens gibt es offenbar auch beim Beten eine Entwicklung, die dafür sorgen kann, daß Kinder nicht bei ihren Kindergebeten stehenbleiben. Die Gefahr, daß wir das Beten durch angeblich harmlose Kindergebete auf Dauer verderben, scheint mir deshalb gering. Für gewichtiger halte ich das Problem, daß die kindliche Entwicklung heute im Bereich des Betens ohne Anregung bleibt. Einfache, auf die Kinder eingestellte Gebete, sind daher berechtigt. In der weiteren Entwicklung können und sollen sie dann durch andere Gebete abgelöst werden.

An dieser Stelle stoßen wir wieder auf uns selbst als Erwachsene. Die Entwicklung des Gebetsverständnisses beginnt in der Kindheit, kann aber das ganze Leben lang weitergehen. Unser eigenes Gebetsverständnis kann noch wachsen, und Kinder fordern uns dazu heraus. Von daher kann man sagen: Mit Kindern beten heißt auch, mit ihnen unterwegs sein auf dem Weg zu einem Gebetsverständnis, das unserem Leben im Wandel der Erfahrungen gerecht wird.

 

Mit Kindern beten - aber wie?
Auch wenn man davon überzeugt ist, daß Beten mit Kindern eine wichtige religionspädagogische Aufgabe darstellt, bleibt noch die Frage nach dem Wie. Diese Frage ist am Ende ganz konkret: Wir müssen Gebete finden, aussuchen oder formulieren, mit denen wir arbeiten wollen. Was ich im vorliegenden Zusammenhang anbieten möchte, sind freilich nicht solche konkreten Vorschläge oder einzelne Gebete. Statt dessen sollen noch einmal einige allgemeinere Überlegungen zur Gebetspraxis im Kindergarten vorgestellt werden. Sechs Punkte sind dazu besonders wichtig:
 

  • Mit Kindern beten: Der Nachdruck liegt jetzt ganz auf dem Wort „mit“ - mit den Kindern sollen wir beten, nicht für sie oder an ihrer Stelle. Damit ist gemeint, daß Beten im Kindergarten nicht einfach das Sprechen bestimmter Gebete bedeuten kann. Auch das Beten muß pädagogisch gestaltet und pädagogisch betrieben werden. Es soll abgestimmt sein auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse der Kinder, es soll eingehen auf ihre Reaktionen. Und es soll sie zu eigenem Beten befähigen.
    Auch Kinder sind in der Lage und haben Spaß daran, Gebete auszuwählen, auswendig zu lernen und gemeinsam zu sprechen. Anders als in früheren Zeiten sollte deshalb das aktive Mittun der Kinder auch beim Beten ganz selbstverständlich sein.
  • Das Beten soll kindgemäß sein. Die Sprache der Gebete sollte so gewählt werden, daß sie für Kinder zugänglich ist - einfache Sprache, keine altertümliche Kirchensprache. Und die Gebetsanliegen, die Inhalte des Gebets, sollen offen sein für die Erfahrungswelt der Kinder- für die guten und schlechten Erlebnisse, für ihre Freude etwa am Spiel, Spielsachen, Kinderfreundschaften und Tieren, aber auch für ihre Ängste und Sorgen. Wenn neuere Gebetsbücher sich hier entschieden in die Kinderwelt hineinwagen, so ist das zwar immer eine Gratwanderung auf der Grenze zum Banalen. Ein Fortschritt gegenüber der Kunstwelt manch älterer Bücher ist es aber allemal.
    Kindgemäß beten soll nun aber nicht heißen - und das möchte ich ganz ausdrücklich betonen -, daß alle Gebete der Erwachsenen ausgeschlossen sein sollten. Zum Beispiel erobert sich das Vaterunser heute zu Recht wieder einen Platz auch unter den Kindergebeten. Der Streit, ob wir ausschließlich einfache Kindergebete verwenden sollten oder ob auch einmal ein schweres, für Kinder noch kaum verständliches Erwachsenengebet dabei sein darf, dieser Streit erscheint mir müßig. Kinder wollen meiner eigenen Beobachtung zufolge beides: Sie wollen plappern mit Regine Schindler: „Müd ist mein Bein, müd ist mein Arm, ich liege im Bett, da ist es warm“ - aber sie wollen auch einmal etwas ganz anderes ausprobieren und wie die Großen sagen: „Vater unser im Himmel“.
    Der Einsatz verschiedener Gebete sowie unterschiedlicher Weisen, in denen Gott angeredet wird, tragen zugleich dazu bei, daß die Kinder etwas von der Vielfalt der Gebetsmöglichkeiten und Gebetserfahrungen entdecken können. Damit wird den Kindern der Weg zu einer individuell-persönlichen Gebetspraxis eröffnet. - Bei Eltern, die sich bewußt mit den Fragen der religiösen Erziehung auseinandersetzen, ist mir immer wieder der Wunsch begegnet, die Kinder nicht einseitig festzulegen - z.B. auf Vorstellungen von Gott im Himmel oder auf männliche Gottesbilder. Diese Anliegen ist gerade bei der Gebetserziehung ernstzunehmen: Durch ihre Einprägsamkeit tragen Gebete auch zur Ausbildung der Gottesvorstellungen bei. Aus diesem Grund eist - eine im übrigen auch biblisch begründete - Vielfalt geboten.
  • Die Frage der Kindgemäßheit führt weiter zum Kriterium der Echtheit. Wir sollten mit Kindern nichts beten, was wir nicht selbst beten können, hinter dem wir nicht stehen. Kindern haben sehr feine Antennen dafür, womit es uns ernst ist und womit nicht. Was wir selbst nur dahinsagen können oder was uns innerlich widerstrebt, das sollten wir auch dann nicht mit Kindern beten, wenn es bestimmte Eltern, Pastoren oder Lehrbücher gut finden.
    Aus diesem Grund muß auch jeder und jede einzelne von uns den eigenen Weg des Betens mit Kindern finden. Nur den Weg, den wir selber gut finden, können wir auch den Kindern zeigen.
    Mit der Frage der Echtheit will ich im übrigen keine falschen oder überhöhten Ansprüche unterstützen. Es scheint mir übertrieben, wenn wir uns bei jedem Wort eines Gebets zuerst fragen müssen, ob wir das auch wirklich nachsprechen wollen. Es ginge uns dann wahrscheinlich so, daß uns kaum noch Gebete übrigbleiben und wir am Ende ganz auf uns selber gestellt wären. Aber das ist bei Gebeten ebensowenig erforderlich wie beispielsweise bei Liedern, die wir ja auch singen, obwohl uns die Texte nicht immer ausnahmslos gefallen.
    Das Kriterium der Echtheit kann im übrigen auch bei der Frage der Kindgemäßheit weiterhelfen. Auch hier gilt: Kein Gebet sollte so kindlich - oder besser: so kindisch - sein, daß wir es als Erwachsene gar nicht mehr mitsprechen können.
  • Das Beten mit Kindern mußt eingebettet sein in die religiöse Erziehung. In der Religionspädagogik wird manchmal darüber gestritten, ob das Beten, ob Lob und Klage nicht das erste sein müßten in der religiösen Erziehung, so daß zum Beispiel biblische Geschichten erst viel später kommen. Mir selber kommt das übertrieben vor. Das Beten ist angewiesen auf Geschichten, aus denen Kinder Gott doch erst kennenlernen, und umgekehrt verlangen die Geschichten nach dem Beten, weil Gott sonst nicht zu einem lebendigen Gegenüber werden kann.
    Ich selbst habe das vor allem als Vater gelernt. Als ich mit meiner damals etwa zweijährigen Tochter damit anfing, Abendgebete zu sprechen, hat sie mich mit ihren Reaktionen unsanft, aber wirksam auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht: Für sie standen damals Gott und Donald Duck noch auf ein und derselben Ebene, und von beiden ließ sich am besten im Lied ‘Alle meine Entchen’ singen. - Was ich offenbar völlig falsch gemacht hatte, war der Versuch, mit dem Beten zu beginnen, ohne daß ich ihr schon etwas von Gott oder Jesus erzählt gehabt hätte.
  • Eine besondere Aufgabe und Chance des Kindergarten sehe ich darin, die Ökologie des Betens zu pflegen. Mit der Ökologie des Betens meine ich, daß besonders für Kinder zum Beten auch eine gestaltete Umwelt gehört: vielleicht eine Kerze, die in der Mitte brennt; eine bestimmte Zeit am Tag, die immer wiederkehrt; eine bestimmte Haltung von Körper und Händen; eine festliegende Eingangsformel auch bei wechselnden Gebeten; eine wiederkehrende musikalische Einleitung oder sogar Einrahmung usw.
    Nach allem was wir über die Entwicklungspsychologie des Gebets wissen, sind solche festen gestalteten Formen, die ich hier als Ökologie oder Umwelt des Gebets bezeichne, für Kinder besonders wichtig. Für Kinder ist ein Gebet erst dann ein Gebet, wenn all das auch richtig getan wurde - wenn alles richtig war. Ich möchte deshalb dazu ermutigen, an dieser Stelle zu experimentieren und kreativ zu werden. Auch als Protestanten, die in ihrer Tradition beispielsweise nur wenig mit Farbe oder Licht gearbeitet haben, sollte es hier kein Tabu geben.
  • Schließlich fügt sich das so verstandene und so gestaltete Gebet auch ein in ein zeitgemäßes Konzept des Kindergartens. Gestaltete Zeiten und Räume, ein durchgestalteter Tagesablauf mit wiederkehrenden rituellen Vollzügen, mit Konzentrations- und Stilleübungen, mit elementaren Erfahrungen im sinnlichen wie im sozialen Bereich - all das wird heute angesichts des Wandels der Kindheit immer wichtiger. Alle diese Veränderungen bieten zugleich auch Möglichkeiten und Anknüpfungspunkte für das Beten mit Kindern. Deshalb gilt auch umgekehrt: Das Beten kann beitragen zur Gestaltung des Kindergartenalltags - das Gebet ist eine Chance für den zeitgemäßen Kindergarten!

Mit dieser letzten These - Beten als Chance zeitgemäßer Kindergartengestaltung - ist heute allerdings auch noch ein weiteres Thema angesprochen: Wie kann in einem seiner Zusammensetzung nach multikulturellen und multireligiösen Kindergarten noch gebetet werden? Auf diese zum Teil drängende Frage geben die Ausführungen in meiner Darstellung noch keine Antwort. Ein multikultureller und multireligiöser Kindergarten muß aber nicht das Ende der religiösen Erziehung bedeuten - das hat die religionspädagogische Diskussion zum ökumenischen und interreligiösen Lernen, auch wenn sie noch jung ist, doch bereits deutlich zeigen können. Was dies im einzelnen heißen könnte, müßte freilich eigens erörtert werden.


Anmerkungen

  1. Der Vortragsstil wurde im folgenden beibehalten, die Literaturhinweise sind entsprechend beschränkt. Stellvertretend verweise ich auf F.W. Bargheer/I. Röbbelen (Hg.): Gebet und Gotteserziehung. Heidelberg 1971; R. Tschirch: Mit Kindern reden- mit Kindern beten. Gütersloh 1988; Zum Zusammenhang meiner eigenen Position vgl. F. Schweitzer: Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter. München 2 1991; Die Religion des Kindes. Gütersloh 1992.
  2. M. Schaefer: Weil ich beim Beten lügen mußte. Rekonstruktion einer verlorenen Kindheit. Stuttgart 1992.
  3. Vgl. zum folgenden: N.M. Ebertz: Heilige Familie? Die Herausbildung einer anderen Familienreligiosität. In: Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Wie geht’s der Familie? Ein Handbuch zur Situation der Familien heute. München 1988, S. 403ff.
  4. W. Fuchs, Konfessionelle Milieus und Religiosität. In: Jugendliche und Erwachsene ‘85. Generationen im Vergleich. Bd. 1: Biographien, Orientierungsmuster, Perspektiven. Hg. Jugendwerk der Deutschen Shell. Leverkusen 1985, S. 265ff.; J. Eigen: Kirche und Religion - Säkularisierung als sozialistisches Erbe? In: Jugend ‘92. Lebenslagen, Orientierungen und Entwicklungsperspektiven im vereinigten Deutschland. Bd. 2: Im Spiegel der Wissenschaften. Hg. Jugendwerk der Deutschen Shell. Opladen 1992. S. 91ff.
  5. Auch mit weiteren Begründungen G. Faust-Siehl u.a.: Mit Kindern Stille entdecken. Frankfurt/M. 3 1992.
  6. S.bspw. E.H. Erikson: Kinderspiel und politische Phantasie. Stufen in der Ritualisierung der Realität. Frankfurt/M. 3 1992.
  7. Leider sind die entsprechenden Untersuchungen schwer zu greifen und meist in englischer Sprache geschrieben; als eine der neuesten Zusammenfassungen, auch mit neuen eigenen Daten, vergleiche K. Tamminen: Religious Development in Childhood and Youth. Helsinki 1991, S. 209ff.
  8. Das heben auch F. Oser und A. Bucher (Wie beten Kinder und Jugendliche - Entwicklungsstufen und Lernhilfen. In: Lebendige Katechese 7 (1985), S. 163ff.) hervor.
  9. R. Schindler: Erziehen zur Hoffnung. Ein Elternbuch zur religiösen Erziehung. Zürich/Lahr 3 1986, S. 44.
  10. Vergleiche die Diskussion bei H. Siemerink: Prayer and Our Image of God. In: Journal of Empirical Theology 2 (1989), S. 27ff.