Einer fremden Welt begegnen - Die ‚Bibel in gerechter Sprache‘ im Evangelischen Religionsunterricht der Sekundarstufe II

von Alexander Dölecke

 

Die Bibel erzählt in dichterischer Form an ihrem Beginn von dem, was Mensch-Sein in dieser Welt ausmacht. Sie beschreibt dabei die menschlichen Grundbeziehungen zu Gott, zum Mitmenschen, zum Partner, zur Familie, zu Tierwelt und Natur. Am Ende des als Urgeschichte bezeichneten Abschnittes (Gen 1–11) thematisiert die Bibel ätiologisch die Vielfalt der menschlichen Sprachen und Dialekte und legt in der Erzählung vom Turmbau zu Babel diese dem Handeln der Gottheit JHWH selbst zugrunde: Damit die Menschen sich nicht einen Namen machen können, der die Zeit überdauert und auch in Ewigkeit Bestand hat, beschließt JHWH, am Anfang schon zu beenden, was grausam zu werden droht, und zerstreut die Menschheit von Babylon aus über die Erdfläche und bringt die Sprechweise der ganzen Erde durcheinander.

Menschen sind demnach grundsätzlich auf Übersetzungen angewiesen, wollen sie sich wechselseitig mitteilen, was sie denken, hoffen, fühlen, verstehen oder glauben. So sind auch die Texte der Bibel selbst, von konkreten Menschen für bestimmte Gruppen geschrieben und in verschiedenen historischen Situationen entstanden, geprägt von der Kultur, der Geschichte, der Religion und eben auch der Sprache des bzw. der Schreibenden. – Den Graben zu heutiger Lebenswelt und Sprache gilt es nun zu überwinden, wollen sie nicht zu einem Museumsobjekt verkommen, wollen wir stattdessen auch heute noch auf das hören und das wahrnehmen, was dem Volk Israel in der Hebräischen Bibel einerseits, den Christen aus den Völkern in den neutestamentlichen Schriften andererseits grundlegend gesagt ist. Von daher sind wir fundamental auch auf Übersetzungen der biblischen Texte angewiesen.

 

Bleibende Fremdheit

Mit und in der Bibel begegnet uns dabei eine zunächst fremde und auch fremd bleibende Welt, die in die unsrige hinübergesetzt werden muss, wenn sie dieser nicht unverbunden gegenüberstehen soll. Jedoch ist es dabei darum zu tun, diese Fremdheit nicht einzuebnen, sondern die biblischen Texte zuallererst als fremde Texte wahrzunehmen. Die uns als fremd begegnende „neue Welt der Bibel“ (K. Barth) muss zunächst als solche akzeptiert werden, wollen wir in ihr nicht nur das finden, was wir ohnehin schon kennen, und uns so selbst täuschen, ja, wollen wir Anspruch und Würde des Textes achten.[1]

Als „fremde Welt“ – angesichts der Pluralität der in ihnen aufgehobenen Erfahrungen erscheint es wohl angemessener, von „fremden Welten“ zu sprechen – sind die biblischen Texte im Unterricht zur Geltung zu bringen.[2] Es geht nicht zunächst um ihre ‚Aneignung‘ oder ‚Vermittlung‘, sondern um eine ‚Begegnung‘ mit ihrer Welt. In einem Gespräch mit der Bibel entdecken Schüler und Lehrende gemeinsam Neues.[3] Dabei gilt: Auch wenn Schülerinnen und Schüler ein Recht haben, Erfahrungen mit der Welt der Bibel zu machen, muss ihnen zugleich immer auch die Möglichkeit der Distanznahme der Bibel gegenüber bleibend gewährt werden. Die bildende Kraft der biblischen Botschaft liegt doch gerade auch in ihrer die Lesenden irritierenden, infragestellenden und eben nicht das Gegebene bestätigenden Dynamik: „Muss nicht gerade deshalb die Fremdheit der biblischen Texte und damit die Distanz zu ihnen eher noch vergrößert als verringert werden?“[4]

Die Fremdheit eines biblischen Textes ist im Unterricht daher nicht in eine schnelle Vertrautheit umzuwandeln. Dies betrifft auch und insonderheit die gewählte Übersetzung. Dem Text und den Lernenden selbst wird gerecht, wenn Begegnung als methodischer Zugang zur Bibel gewählt wird. Der Lehrende wird dabei zum Moderator dieser Begegnung, der beide Welten kennen muss. Eine dergestalt textgemäße und adressatenorientierte Bibeldidaktik setzt bewusst auf die Fremdheit biblischer Texte, die ja gerade das Interesse der Lernenden hervorrufen kann, und wählt diese – sie weder verwischend noch nivellierend – als Ausgangspunkt der Begegnung von Text und Leser.

 

Bibel mit besonderem Profil

Mit der ‚Bibel in gerechter Sprache‘[5] (im Folgenden: BigS) liegt nun ein Übersetzungsprojekt vor, das den Anspruch der bleibenden Fremdheit einzulösen sucht.[6] Wenn auch die umfassende kritische Diskussion zu dieser Übersetzung hier nicht wiedergegeben werden kann, sei wenigstens ihr inhaltliches Profil kurz vorgestellt.[7]

Dieses trägt die BigS bereits im Namen: Dem biblischen Grundthema der Gerechtigkeit soll auch die theologische Rede von Gott und Mensch entsprechen. Dabei soll der übersetzte Text vor allem dem Ausgangstext gerecht werden; des Weiteren identifizieren die Übersetzenden drei Bereiche, in denen die Dimension der Gerechtigkeit sprachlich besonders zum Tragen kommt: Erstens ist eine geschlechtergerechte Sprache im Blick. Dabei fällt z.B. die konsequente Rede von „Hirtinnen und Hirten“, von „Pharisäerinnen und Pharisäern“ oder von „Apostelinnen und Aposteln“ sogleich auf. Im Hinblick auf das biblische Israel und das gegenwärtige Judentum stellt sich zweitens die Frage, wie biblische Texte angesichts der Erkenntnisse des christlich-jüdischen Dialogs der letzten Jahre und Jahrzehnte gerecht übersetzt werden können. Dabei ist einer antijüdisch verzerrten Lektüre entgegenzuwirken; z.B. wird Jesu Formel in der Bergpredigt nicht antithetisch („Ich aber sage euch“), sondern seinem jüdischen Hintergrund entsprechend so übersetzt, dass deutlich wird, dass hier ein innerjüdischer Diskurs fortgeführt wird: „Ich lege das heute so aus.“ Drittens wird die sozialhistorische Perspektive stärker als bisher berücksichtigt, wenn etwa statt romantisch-idyllisch von „Knechten und Mägden“ die damalige soziale Realität in unserer Sprache angemessen widerspiegelnd von „Sklavinnen und Sklaven“ gesprochen wird.

Die drei Gerechtigkeitsdimensionen werden schließlich auch auf die Übersetzung des Gottesnamens in der Hebräischen Bibel (JHWH) und dessen neutestamentliches Pendant (kýrios) übertragen. So werden diese nicht einlinig mit „der Herr“ wiedergegeben, sondern verschiedene Lesevorschläge fungieren als Ersatznamen. Diese entstammen unterschiedlichen Traditionen und werden zumeist gendergerecht variiert. Es finden sich u.a. folgende Ersetzungen im Text: Adonaj, Gott, ha-Schem (hebr.: der Name), Er Sie, der Ewige, die Lebendige, der Heilige. Eine Kopfzeile bringt, zufällig ausgewählt, weitere Lesevorschläge ins Gespräch, die aus den 18 insgesamt verwendeten Varianten stammen. Zudem wird das Auftauchen des Gottesnamens im Text kenntlich gemacht. Intention der Übersetzenden ist dabei, vor dem Hintergrund des biblischen Bilderverbotes deutlich zu machen und ernstzunehmen, dass der biblische Gott selbst einen Eigennamen hat, der allerdings weder in unsere Sprache übersetzt werden kann noch ausgesprochen werden darf.

Die BigS mutet uns so neben diesen sprachlichen auch weitere Fragen zu: Verstehen wir das ‚Alte Testament‘ bleibend (auch) als Hebräische Bibel und wie bestimmen wir – auch religionspädagogisch – unser Verhältnis zu Israel und dem Judentum? Wie steht es eigentlich gegenwärtig mit der sozialen Gerechtigkeit? Im Blick auf die Frage der Gleichheit der Geschlechter lässt sie uns nicht müde werden, diese auch einzufordern. Dabei ist je einzeln zu klären, wer wann wo und wie gemeint ist. Eine unterschiedslose Gleichmacherei aller ist nämlich ebenso wenig intendiert und gefragt wie das Festhalten an bestehenden, aber nicht zu legitimierenden Hierarchien. Dies gilt sowohl gesellschaftlich-politisch als auch im Rahmen unserer Schulen und Gemeinden als auch eben sprachlich.

Schließlich stellt die BigS auch die Gottesfrage noch einmal neu: Das biblische Bilderverbot fordert uns stets heraus, nicht bei einer eingefahrenen Theo-Logie stehen zu bleiben, sondern in Verantwortung vor Gott in und vor dieser Welt seinen/ihren Namen so zu bezeugen, dass Gott selbst zur Sprache kommt.

„Weniger an, aber mehr drauf“? – Die der BigS-Wiedergabe von Gen 3,1 entlehnte Überschrift eines FAZ-Artikels wird nun zur Frage bei der Arbeit mit der neuen Übersetzung in der Schule: Geht mit ihr ein Weniger an Textgenauigkeit und somit Textgerechtigkeit einher? Aber auch an Weniger an antijüdischen Stereotypen und Vorurteilen? Hat sie nicht gerade deshalb mehr drauf? Mehr an Gerechtigkeit gegenüber Frauen? Ein Mehr im Blick auf das biblische Israel und das gegenwärtige Judentum? Ein Mehr angesichts der Ergebnisse der sozialhistorischen Forschung? Heißt eine gerechte Übersetzung nicht zugleich ein Weniger an Vertrautem, ja lieb Gewonnenem? Liegt aber nicht vielleicht gerade darin das Mehr, dass der ‚neue Text‘ das Vertraute verfremdet und uns so einen neuen Zugang zur Bibel ermöglicht?[8]

 

Ein Unterrichtsprojekt

Übersetzung als religionspädagogische und bibeldidaktische Frage stellt nun ein seit längerem vernachlässigtes Thema dar. Es findet ausführlich weder in den Arbeitshilfen und Materialbänden Berücksichtigung, die das Thema ‚Bibel‘ zum Schwerpunkt haben, noch gehen die aktuell neu erschienenen Schulbücher für die Sekundarstufe II auf die Fragen von Übersetzung, Übersetzungsproblemen und Übersetzungshermeneutik ein.[9]

Im Folgenden sollen Teilerträge eines Unterrichtsprojekts – gleichwohl skizzenhaft – vorgestellt werden, das am Oberstufen-Kolleg, einer der beiden Bielefelder reformpädagogischen Versuchsschulen, durchgeführt worden ist.[10] Es war u.a. zu klären, in welcher Weise das Anliegen von Übersetzungsgerechtigkeit für Schülerinnen und Schüler heute bedeutsam erscheint. Mit zwei Grundkursen der Sekundarstufe II wurden sowohl Anliegen und Kritik der BigS exemplarisch an der ‚Weihnachtsgeschichte‘ erarbeitet als auch die Frage nach der Relevanz von gerechter Sprache für die Rede von Gott und Mensch diskutiert. Mit Lk 2,1–21 ist dabei ein Text benannt, bei dem zum einen davon auszugehen ist, dass ihn zumindest manche Schüler noch kennen; zum anderen lassen sich hier alle Gerechtigkeitsdimensionen (obschon in leicht unterschiedlicher Intensität) aufzeigen.

Als gedankliche Ausgangssituation für das Unterrichtsvorhaben wurde dabei – analog zur in der Rezension der „Süddeutschen Zeitung“[11] beschriebenen – das Erleben eines Heiligabend-Gottesdienstes gewählt: mit Kerzen, Baum, stimmungsvoller Musik, aber einer neuen Übersetzung des altbekannten Lesungstextes. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiteten sich sodann die Rahmenbedingungen und in gebotener Kürze die vier Gerechtigkeitsdimensionen; hernach formulierten sie im Unterrichtsgespräch frei erste Eindrücke zu dem ‚neuen‘ Übersetzungsprojekt.

Im Folgenden stand eine genauere theoretische Erarbeitung der Grundlagen der neuen Übersetzung im Vordergrund, die auf eine beispielhafte Identifikation ihrer Besonderheiten an Lk 2,1–21 zielte. Erarbeitung und Anwendung geschahen in Partnerarbeit mittels einer synoptischen Darbietung von revidierter Luther- und Zürcherübersetzung sowie der Textfassung der BigS. Schließlich wurde mithilfe der genannten Rezension die kritische Rezeption der Übersetzung wie auch die Ausgangssituation wieder aufgenommen und eine abschließende Diskussion vorbereitet. Diese bündelte die Ergebnisse unter der weiterführenden Frage, ob die Schüler die Verwendung der BigS z.B. in einem Weihnachtsgottesdienst oder ihren Kauf z.B. als Geschenk anlässlich der Konfirmation eines Verwandten gutheißen würden. Die Schülerinnen und Schüler haben an dieser Stelle ihre eigenen – wenngleich noch geringen – Lektüreerfahrungen, die Argumente der kritischen Besprechung sowie ihr Wissen und Können aus der vorhergehenden Beschäftigung mit der Bibel und der Frage angemessenen Redens von Gott und Mensch in das Gespräch einbringen können.

Zu Beginn konnten die Schülerinnen und Schüler kaum etwas Substantielles sagen, weil sie sich „kaum etwas unter gerechter Sprache vorstellen können“. Nach einem ersten Überblick hegten einige hohe positive Erwartungen an das Projekt, andere äußerten sich skeptisch. So stufte ein Schüler die Vermeidung antijüdischer Ressentiments sogleich als enorm wichtig ein, darauf antwortend meinte ein anderer Schüler, dass er glaube, das sei dann „irgendwie doch eine Verfälschung“, wenn nicht direkt dem Urtext gefolgt werde.

Während der genaueren Auseinandersetzung mit dem Beispieltext tauchten dann verschiedene Fragen auf: Eine Schülerin fragte etwa, ob mit „der Lebendigen“ (von ihr fälschlicherweise zudem als männlicher Genitiv verstanden) ein Mensch gemeint sei und wenn ja, welcher. Sie hatte trotz der graphischen Hervorhebung nicht erkannt, dass es sich hierbei um den Gottesnamen handelt. Erst im geleiteten Vergleich mit Luther- und Zürcherübersetzung ist ihr die Ersetzung klargeworden. Der Schüler, der sich bereits kritisch zur Urtextbezogenheit geäußert hatte, meinte zu dieser weiblich akzentuierten Ersetzung: „Soll das [Gott bzw. der Gottesname] jetzt eine Frau sein? Das ist ja voll assi.“

Aus der sich anschließenden Auswertungsphase ist festzuhalten, dass die Schüler zwar die Grundlinien der Übersetzung verstanden, allerdings manche der Aspekte im Text nicht selbständig erkannt haben. So fiel ihnen vor allem die Erschließung der sozialgerechten Dimension (was auch an für sie nicht mehr verständlichen Formulierungen des Luthertextes liegen mag), aber auch die Identifikation der genauen Unterschiede, die sich aus der Gerechtigkeit gegenüber dem Judentum ergeben, schwer.

Zudem war zu beobachten, dass der Kurs, der im Vorfeld zum Thema Gottesbilder und Gottesname vertiefter gearbeitet hatte, die Umsetzung der Gerechtigkeitsdimensionen auf den Gottesnamen deutlich leichter nachvollziehen konnte, als dies die Schüler vermochten, die sich mit den Fragestellungen einer geschlechtergerechten Gotteslehre und der Übersetzung von JHWH weniger auseinandergesetzt hatten.

Im abschließenden Gespräch sahen einige Schüler in die Übersetzung die Interessen und Vorstellungswelt der Gegenwart unzulässig eingetragen. Darauf wandten andere ein, dass der Text aber jetzt dem Sinn nach korrekter sei. Auffällig war insgesamt, dass gerade die Dimension der Geschlechtergerechtigkeit für einige Mädchen besonders relevant erschien, Jungen dagegen die Fragen der historischen Genauigkeit des Textes stärker umtrieb.[12]

Die Kopfzeile mit den Lesevorschlägen für den Gottesnamen wurde sehr positiv hervorgehoben; eine Schülerin betonte, diese würde die Freiheit beim Bibellesen deutlich erhöhen. Dass „die Leute die alten Worte hören wollten“, könne zudem kein Argument gegen die BigS sein. Vielmehr mache der nun sehr viel verständlichere Text neugierig auf Mehr; er könne Menschen einladen, sich mit dem Thema Glauben verstärkt auseinanderzusetzen – weswegen mehrheitlich ein Gebrauch im Gottesdienst oder als Geschenk befürwortet wurde. Eine Schülerin begründete ihre positive Einschätzung v.a. damit, dass die Übersetzung Frauen kenntlich mache. Gegen den Einwand, es sei „unhistorisch, Frauen überall einzutragen“, betonte sie, die BigS wolle dies ja nur dort tun, wo sie auch wirklich dabei gewesen seien: „Das finde ich gut so, das verschleiert das nicht.“

 

Mit der ‚Bibel in gerechter Sprache‘ unterrichten

In einem durch Traditionsabbruch, Individualisierung und Pluralisierung geprägten Umfeld stellt es für den Religionsunterricht in besonderer Weise eine Herausforderung dar, die Relevanz von Kenntnis und Deutung biblischer Erzählungen zu vermitteln. Die Bibel begegnet den Schülerinnen und Schülern zumeist als vollkommen fremde Welt. Gleichwohl lohnt es sich religionspädagogisch, diese Fremdheit nicht vorschnell in (vermeintliche) Nähe zu überführen. – Thesenartig sollen im Folgenden erste, vorsichtige Perspektiven zu einer Unterrichtsgestaltung mit der BigS entworfen werden:

  1. Die durch die BigS angestoßenen Fragen treffen auf ein ausgesprochenes Interesse bei den Schülerinnen und Schülern.
  2. Wird die Übersetzung nur als Einzeltext in die unterrichtliche Erarbeitung eingebracht, läuft sie Gefahr, in ihrem besonderen Profil nicht wahrgenommen oder, stärker noch als andere Übersetzungen, überhaupt nicht verstanden zu werden. Will man die BigS dagegen angemessen im Unterricht thematisieren, ist daher eine intensive unterrichtliche Erarbeitung der theologischen Grundlagen (also der Frage nach der Notwendigkeit einer geschlechtergerechten Gotteslehre und des christlich-jüdischen Dialogs sowie nach den wichtigsten sozialhistorischen Forschungserkenntnissen und nach den Möglichkeiten, mit der Unübersetzbarkeit des Gottesnamens umzugehen) ebenso dringend von Nöten wie das gleichzeitige vergleichende Einbringen weiterer Bibelübersetzungen. Nur so kann verhindert werden, dass sich die Beschäftigung mit dem konkreten Projekt in Allgemeinplätze verliert oder an der Oberfläche stehen bleibt.
  3. Die Erarbeitung der BigS braucht jedoch Zeit – viel mehr Zeit, als in einer Doppelstunde gegeben ist, und wahrscheinlich auch mehr Zeit, als im auf zentrale Prüfungen ausgerichteten Unterrichtsalltag zur Verfügung gestellt werden kann. Um sie sinnvoll erfassen zu können, wird auch mehr als ein Textbeispiel notwendig zu erarbeiten sein. Vielleicht kann die BigS, ja der Komplex Übersetzung und Übersetzungsvergleich insgesamt, als sich durchziehendes Element immer wieder im Unterricht vorkommen.
  4. Trotz aller Probleme lohnt sich die Einbringung der BigS in den Unterricht sehr. Dies gilt auch, wenn man die hinter ihr stehenden theologischen Grundentscheidungen nicht teilt und/oder einzelne Übersetzungen kritisch bewertet. Denn anhand dieser Übersetzung kann ein Gespräch initiiert werden, das weiterzuführen mehr als spannend und ergiebig ist. Sie bietet umfangreiche Gesprächsanlässe, mit deren Hilfe wichtige theologische und gesellschaftliche Fragen geklärt werden können. An ihr können darüber hinaus exemplarisch Grundfragen der Bibelübersetzung und -deutung besprochen werden. Zudem stellt schon allein ihre Existenz eine konkrete Anforderungssituation für Schülerinnen und Schüler dar.
  5. Weil sie die Welt der Bibel nicht einfach mit verständlicheren und eingängigen Übersetzungen einzuholen gedenkt, sondern immer wieder Stolpersteine bietet, die uns aufzeigen, dass die biblische Welt eine uns fremde ist, kann sie helfen, Schülerinnen und Schülern einen Zugang zu dieser fremden Welt zu ebnen, ohne ihn einzuebnen.
     

In der Sekundarstufe II (mit den Stichworten ‚vertiefte Allgemeinbildung‘ und ‚wissenschaftspropädeutisches Arbeiten‘ sowie dem Ziel der allgemeinen Studierfähigkeit beschrieben) geht es um umfassende ‚Bildung im Medium der Wissenschaft‘.[13] In diesen Horizont bringt Evangelischer Religionsunterricht seinen Beitrag zu einer Bildung ein, die als „Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens“[14] beschrieben werden kann.

Eine Beschäftigung mit diesem Übersetzungsprojekt geht mit einer umfangreichen Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden theologischen Fragestellungen einher und zielt auf die Ausbildung verschiedener Kompetenzen religiöser Bildung: Als religiös bedeutsames Phänomen ist die BigS im Religionsunterricht wahrzunehmen, als Ausdruck religiös bedeutsamer Sprache zu verstehen und zu deuten. Mit ihrer Hilfe können Formen theologischer Argumentation verglichen und begründet bewertet sowie den eigenen Auffassungen sprachlich Gestalt gegeben werden.[15] Die BigS vertritt zudem einen mehrperspektivischen Gerechtigkeitsansatz; die nicht problemfreie Komplexität der Frage nach gerechter(er) Sprache und (damit zusammenhängend) nach einem gerechte(re)n Leben kann hier deutlich werden.

 

Nie nennen wir dich zu Ende…

Insgesamt bleibt es religionspädagogisch eine Herausforderung, wie die der Bibel eigene Dimension der Fremdheit auch im Religionsunterricht ihren angemessenen Ort finden kann und zugleich die Schülerinnen und Schüler als Adressaten und Subjekte von Unterricht nicht aus dem Blick verloren werden.

Das Grundanliegen, einen Entwurf einer mehrdimensional gerechten Bibelübersetzung zur Diskussion vorzulegen, hat die BigS jedenfalls m.E. überzeugend eingelöst. Auch wenn eine Übersetzung grundsätzlich ‚nicht mehr genau dieselbe Kraft‘[16] haben kann, liegt hier bei aller angebrachten und richtigen Kritik an Einzelentscheidungen eine anspruchsvolle, anregende und auf allen Ebenen interessante Wiedergabe des biblischen Originals vor, die zudem religionspädagogisch und fachdidaktisch anschlussfähig ist.

Die BigS hat sich auf den Weg der Gerechtigkeit begeben und versucht auf diesem umzusetzen, was für jede gute Übersetzung postuliert wird: Die fremde Welt des zu übersetzenden Textes ist so in unsere heutige Welt (hin)über zu setzen, dass sie nicht verloren geht, jedoch dennoch versteh- und kommunizierbar wird. So trägt die BigS der bleibenden Forderung Rechnung, die allen von Gott Redenden immer wieder geboten erscheint: Üb ersetzen![17]

Wenn Gott selbst zur Sprache kommt, gerät bei uns Menschen einiges Gewohnte durcheinander. Im Gespräch mit der Bibel sehen wir zwar vieles Vertraute, aber die uns hier begegnende Welt bleibt uns grundlegend fremd, auch dann, wenn wir uns in ihr wiederentdecken und durch sie Gottes Anrede an uns vernehmen. Sie bleibt uns fremd – trotz oder gerade dank der BigS. Diese Fremdheit gilt es auszuhalten. Sie vielmehr als Chance zu begreifen, der Welt der Bibel in besonderer Weise zu begegnen, ist die große Herausforderung an unsere Art, von der Bibel zu erzählen und ihre Geschichten und Erfahrungen in Gemeinden und Schulen weiterzugeben.

Gott ist dem menschlichen Zugriff unverfügbar verwehrt. Das gilt auch und vor allem für unsere Sprache, die allenfalls annähernd ausdrücken kann, was und wer Gott ist. Wir müssen auch sprachlich die bleibende Fremdheit Gottes aushalten. Es gilt daher für jede Form menschlicher Gottesrede das, was Ch. Peikert-Flaspöhler in lyrisch wunderschöner Weise auszudrücken vermag:

„nie schöpfen wir dich aus,
unerschöpfliche Lebensquelle
nie nennen wir dich zu Ende,
aller Namen heiliger Mund
nie grenzen dich unsere Bilder,
ungegrenztes heiliges Sein.“[18]
 

Anmerkungen

  1. Vgl. grundlegend J. Ebach, Das bekannte Buch – das fremde Buch. Die Bibel, in: H. Frankemölle (Hg.), Die Bibel. Das bekannte Buch – das fremde Buch, Paderborn u.a. 1994, 7–22.
  2. Vgl. zum Folgenden Th. Meurer, Bibel macht Schule. Aber schafft sie auch Glauben? Anmerkungen zur aktuellen Diskussion, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 150 (2002), H. 4, 393–404.
  3. Th. Ruster vergleicht in seiner Auseinandersetzung mit Th. Meurer den Prozess der ‚Aneignung‘ mit einem Auslandsurlaub und sieht den Beitrag der Lehrenden nur darin, „die Reise zu organisieren und das fremde Land in all seiner Schönheit sichtbar zu machen“. Zwar weist er selbst darauf hin, dass schon das Bild vom Urlaub täusche, da zum einen das Land der Bibel nicht nur schöne und angenehme Seiten habe und zum anderen eine touristische Reise doch eine andere Form der Wirklichkeitserschließung sei als die Erkundung der biblischen Welt. Es ist darüber hinaus aber auch zu betonen, dass damit wohl auch die Rolle der Lehrenden unterbestimmt ist. Vgl. Th. Ruster, Die Welt verstehen „gemäß den Schriften“. Religionsunterricht als Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 43 (2000), H. 3, 189–203.
  4. Th. Meurer (Anm. 2), 399.
  5. U. Bail u.a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.
  6. Als ähnlich gelagertes und durchweg gelungenes Beispiel ist zudem die bereits 2004 von D. Klöpper, K. Schiffner und J. Heidenreich (Bilder) vorgelegte „Gütersloher Erzählbibel“ zu nennen. Sie folgt im Modus der Nacherzählung denselben theologischen Grundlagen wie die BigS. Sodann wird die Vielfalt der biblischen Texte ernstgenommen und den Lesenden auch zugemutet. Anders als in vielen gängigen Kinder- oder Jugendbibeln werden dabei auch schwierige und zuweilen anstößige Texte nicht ausgelassen.
  7. Als Einführung in die Übersetzungsprinzipien vgl. die Einleitung in die BigS selbst (Anm. 4), 9–26, sowie H. Kuhlmann (Hg.), Die Bibel – übersetzt in gerechte Sprache? Grundlagen einer neuen Übersetzung, Gütersloh 2005; L. Metzler / K. Keita, Fragen und Antworten zur Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2009. – Eine gute Einführung bietet zudem: W. Klaiber / M. Rösel, Streitpunkt Bibel in gerechter Sprache, Leipzig 2008. – Zu der äußerst kontroversen Diskussion des Textes sei nur beispielhaft verwiesen auf die einzelnen Beiträge in: I.U. Dalferth / J. Schröter (Hg.), Bibel in gerechter Sprache? Kritik eines misslungenen Versuchs, Tübingen 2007; Ch. Gerber / B. Joswig / S. Petersen (Hg.), Gott heißt nicht nur Vater. Zur Rede über Gott in den Übersetzungen der „Bibel in gerechter Sprache“, Göttingen 2008; E. Gössmann / E. Moltmann-Wendel / H. Schüngel-Straumann (Hg.), Der Teufel blieb männlich. Kritische Diskussion zur „Bibel in gerechter Sprache“. Feministische, historische und systematische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2007.
  8. Zu den sich daraus ergebenden Möglichkeiten für einen (Schul-)Gottesdienst vgl. A. Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008, 254–258. Hier werden die Anliegen der BigS im Kontext eines Abschnitts zur notwendigen differenzsensiblen Gestalt der Predigt aufgenommen. – Jüngst erschien (auch für den Religionsunterricht hilfreich) zudem I. Breitmaier / L. Sutter Rehmann (Hg.), Gerechtigkeit lernen, Gütersloh 2008.
  9. Folgende instruktive – wenngleich nicht problemlose – Ausnahmen lassen sich finden: M. Wischer erarbeitet in ihrem im „Jahrbuch der Religionspädagogik“ 2007 erschienenen Aufsatz „Differenzen im Paradies“ Aspekte einer genderfairen Bibeldidaktik. Die Baden-Württemberger Religionspädagogen J. Heuschele, D. Petri und J. Thierfelder formulieren im Themenheft „Bibel“ der Zeitschrift „Entwurf“ (2.3/2007) vier Unterrichtsbausteine, die auf „einen eigenständigen entdeckenden und analysierenden Umgang“ mit der Bibel zielen. Sie sind für Schülerinnen und Schüler ab Klasse 9 gedacht und beinhalten zehn Unterrichtsstunden. Der dritte Baustein bietet dabei einen Vergleich neuerer Bibelübersetzungen. Gleichwohl überzeugen hier weder die Auswahl derselben noch der gewählte Vergleichstext Röm 3,21–28, der zumindest für die BigS deren mehrdimensionales Profil nicht auszuschärfen vermag: Sowohl die Fragen der Geschlechter- und der sozialhistorischen Gerechtigkeit als auch die Frage der Übersetzung des biblischen Gottesnamens werden hier kaum oder gar nicht deutlich.
  10. Dieses ist nur möglich geworden durch die Einrichtung eines einjährigen Unterrichtsauftrages am Oberstufen-Kolleg Bielefeld und durch die technische Überstützung des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „Kommunikation im Unterricht“. Allen hieran Beteiligten sowie jeglicher Begleitung durch die Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Dr. Gabriele Obst, habe ich viel zu verdanken. Sodann danke ich ‚meinen‘ Kollegiatinnen und Kollegiaten für ihr Engagement und unsere Lerngemeinschaft sehr. Schließlich gilt mein herzlicher Dank Prof.in Dr. Elisabeth Naurath sowie Nicole Eisinger, M.A. und Christian Deuper, M.Ed.
  11. J. Schloeman, „Und die Weisheit wurde Materie“. Über Gesinnungsterror und die Weihnachtsgeschichte in der Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“, in: Süddeutsche Zeitung 217/2006 (23./24.12.2006).
  12. Es wäre gleichwohl zu prüfen, ob dieser Befund – wie auch die anderen genannten – über die konkreten Kurse hinaus generalisierbar sind. Zumindest stellen sie erste Perspektiven zu diesem Thema dar.
  13. Vgl. J. Asdonk u.a. (Hg.), Bildung im Medium der Wissenschaft. Zugänge aus Wissenschaftspropädeutik, Schulreform und Hochschuldidaktik, Weinheim/Basel 2002. Vgl. zudem J. Keuffer / M. Kublitz-Kramer (Hg.), Was braucht die Oberstufe? Diagnose, Förderung und selbstständiges Lernen, Weinheim/Basel 2008.
  14. Kirchenamt der EKD (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, Gütersloh 2003, 66. – Vgl. darüber hinaus grundlegend G. Obst, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, 2. Aufl., Göttingen 2009 (2008), sowie die Beiträge in A. Feindt u.a. (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht. Befunde und Perspektiven, Münster 2009.
  15. Vgl. Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Evangelische Religionslehre. Beschluss der KMK vom 1.12.1989 i.d.F. vom 16.11.2006, München/Neuwied 2007, 8f.
  16. Vgl. ausführlicher A. Dölecke, Nicht mehr genau dieselbe Kraft?!? – Zu einer Bibelübersetzung, die ‚in gerechter Sprache‘ die Gemüter erregt, in: ReLü. Rezensionszeitschrift zur Literaturübersetzung 8/2009, o.S. [online: www.relue-online.de/neu/2009/04/nicht-mehr-genau-dieselbe-kraft].
  17. Vgl. J. Ebach, Wie kann die Bibel gerecht(er) übersetzt werden?, in: H. Kuhlmann (Anm. 7), 36–60, bes. 36–38: „D.h. auch, dass man damit nicht mit einem Mal fertig wird und allemal weiter üben muss. Was für den Moment als Ersatz zureichend sein mag, taugt vielleicht schon beim nächsten Mal nicht.“ (37)
  18. Ch. Peikert-Flaspöhler, Höre, göttliche Freundin. Gebete und Meditationen, München 1999, 19.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2010

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