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Zwischen Spielerei und religiöser Aneignung – Künstliche Intelligenz (KI)-Anwendungen im Religionsunterricht

von Adrian Bischof, Simon Braun, Elia Englaender und Michael Lapp


Einleitung

„Künstliche Intelligenz (KI) verändert unser Leben.“ Dieser Satz ist inzwischen zum allgemeinen Schlagwort geworden – oder soll man lieber sagen: zur Binsenweisheit?
Richtig ist: KI-Anwendungen sind inzwischen selbstverständlich. Übersetzungsprogramme arbeiten zuverlässig und beim eigenen Gegenlesen fällt einem nicht selten auf, wie gering der eigene Vokabelbestand im Zweifelsfall ist. Die KI weiß mehr – bis hin zu theologischen Fachbegriffen. In der Schule hat das bereits Konsequenzen. Fachbereiche schaffen die Möglichkeit, Teile der schriftlichen Leistungen durch Hausarbeiten oder Referate zu ersetzen ab. Ausarbeitungen zu lesen, die die KI geschrieben hat, und diese zu benoten, erscheint dann noch unsinniger  als, was  schon länger praktiziert wurde, nämlich aus Wikipedia abgeschriebene Texte zu benoten. Auch Täuschungsversuche mittels KI während Klausuren sind bereits dokumentiert. KI – ein Problem im schulischen Alltag: wenngleich nicht zu übersehen ist, dass die KI bei der Literaturrecherche durchaus eine Hilfe sein kann – wenn das Thema nicht zu abwegig ist oder sich zu weit in der Historie befindet.

KI im Religionsunterricht

Nun zum Schwerpunktthema: Wie sind wir auf das Thema gekommen, das wir unter die Überschrift „KI-Anwendungen im Religionsunterricht – Zwischen Spielerei und religiöser Aneignung“ gestellt haben?
Sicherlich war es zunächst eine provokante Idee der Mitautoren, Abiturienten eines Beruflichen Gymnasiums mit Leistungskurs „Praktische Informatik“, sich auf diese Weise mit dem Thema „Christologie“ zu beschäftigen: Eine Aufgabenstellung in der ersten Klausur in der Qualifikationsphase1  zum Thema Christologie (Kerncurriculum Gymnasiale Oberstufe Evangelische Religion, Hessen) der Anforderungsbereiche I/II bestand darin, eine Ikone (Abb. 1) zu analysieren. Nach ordentlich getaner Arbeit im Klausurmodus – also mit Stift und Papier – entstand die Idee, die Aufgabenstellung mittels KI noch einmal zu lösen. Unsere folgenden Ergebnisse beschäftigen sich neben dieser Ikonenanalyse mit weiteren Themen der Christologie und Kirchengeschichte, sowie mit ethischen Fragestellungen aus dem Halbjahr Q3.

Die Trinitätsikone2

Genauere Informationen über die Ikone herauszufinden, war nicht allzu aufwendig. Durch Eingabe der Ikone bei „Google Lens“ (Bildersuche) konnte die Ikone umgehend gefunden werden. Sie trägt den russischen Titel „Отечество с избранными святыми“, was die KI wiederum mit „Vaterland mit seinen auserwählten Heiligen“ übersetzt. Diese Übersetzungsvariante verdeutlicht die Grenzen der KI klar. Die Übersetzung „Vaterland“ oder „Heimat“ wirkt im Zusammenhang mit der Ikone befremdlich und erst mit Hilfe eines dem Kirchenslawisch mächtigen Muttersprachlers konnte der Begriff im Kontext der religiösen Darstellung mit „Trinität“ wiedergegeben werden.
Erst vor diesem Hintergrund konnten die beiden in der Klausur gestellten Fragen der KI zur Beantwortung vorgelegt werden: „1. Welche theologische Vorstellung vermittelt diese Ikone?“ und „2. Finde eine Bildunterschrift“. Der KI musste also zunächst verdeutlicht werden, dass es sich um einen religiösen Kontext handelt. Die KI löste die Aufgabe vollständig in 20 bis 30 Sekunden. Auch ihre Antwort war zutreffend: „Diese Ikone vermittelt die theologische Vorstellung von der Einheit und Unterscheidung der drei göttlichen Personen: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Sie basiert auf biblischen Texten wie Joh 14,9-10, wo Jesus sagt: ‚Wer mich sieht, sieht den Vater. Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir ist?‘ Die Ikone zeigt auch die Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament durch die Anwesenheit von Propheten (Daniel und Simeon) und Aposteln (Thomas oder Philippus). Sie drückt auch die Verehrung der Heiligen aus, die als Zeugen des göttlichen Heilsplans angesehen werden.“3  
Die KI zog weitere Quellenangaben4  hinzu, die weit über das hinaus gehen, was Schüler*innen im Kontext einer Oberstufenklausur zu leisten in der Lage sind. Die zweite Frage: „Was wäre eine passende Bildunterschrift für die Ikone?“ beantwortete die KI folgendermaßen: „Die Heilige Dreifaltigkeit und die Heiligen: Eine russische Ikone aus dem 14. Jahrhundert, die die Einheit und Vielfalt Gottes sowie die Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament darstellt.“ Auch Details der Ikone, wie die figürlichen Darstellungen im Hintergrund, konnten mittels der KI herausgefunden werden. Die KI stellte sich bis zu diesem Abschnitt als hilfreich für die wissenschaftliche Erforschung der Ikonendarstellung heraus, was selbstverständlich daran liegt, dass die verwendete Ikone umfassend theologisch und kunsthistorisch beschrieben ist.
Interessant wird es nun, wenn die Verwendung der KI sozusagen auf die Spitze getrieben wird. Es wurde die Frage behandelt, was geschieht, wenn eine „Text zu Bild KI“ angewendet wird, aus einem Text ein Bild generiert wird? Daher wurde der von der KI generierte Text der Ikone „Die Heilige Dreifaltigkeit und die Heiligen: Eine russische Ikone aus dem 14. Jahrhundert, die die Einheit und Vielfalt Gottes sowie die Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament darstellt“ in eine „Text zu Bild KI“ eingegeben5 , die damit aus der Beschreibung ein Bild generiert und auf diese Weise die Ikone wieder rekonstruieren sollte (Abb. 2).
Die Reaktionen auf das Ergebnis changierten zwischen Verwunderung und Empörung. Das generierte Bild zeigt überhaupt keine Ähnlichkeit mit traditionellen Ikonenillustrationen. Der Bezug zu Russland ist zwar mittels der Flagge vorhanden, ansonsten wirkt die Darstellung militaristisch. Dieses Ergebnis war nicht zu erwarten, lediglich das Kreuz deutet auf den christlichen Hintergrund hin.

Jesus-Darstellungen

Im nächsten Schritt wird der Frage nachgegangen, wie man eine KI-Bildgeneration im Unterricht verwenden kann. Die Aufgaben könnten lauten: a. KI-generierte Bilder analysieren; b. mit gelernten Inhalten vergleichen; c. Vermutungen aufstellen, wieso das KI-generierte Bild so aussieht, wie es aussieht; d. KI-generierte religiöse Darstellungen mit echten Gemälden vergleichen und dabei Unterschiede herausarbeiten.

  • Jesus Christus am Kreuz

Der Prompt6  lautete: „Jesus Christus am Kreuz von Golgatha“.
Mit der Darstellung in Abb. 3 erhalten wir ein episch zu nennendes Bild. Es erinnert an ein Filmplakat. Bezüge zur Bibel sind offensichtlich. So sind die Naturgewalten (vgl. Mt 27,51-53 / Lk 23,44-45) dargestellt. Die Menschen im unteren Bereich können als die den Gräbern entstiegenen Menschen (Mt 27,53) interpretiert werden. Im rechten Hintergrund ist die Heilige Stadt Jerusalem zu erkennen. Die Darstellung ermöglicht eine interessante Diskussionsfrage: „Sieht Jesus in dieser Darstellung (zu) europäisch aus?!“ Jesus selbst war Jude aus Israel und dürfte kaum eine weiße Hautfarbe gehabt haben. Der Grund für diese „europäische Darstellung“ könnte darin liegen, dass die künstlerischen Bearbeitungen Jesu, auf welche die KI zurückgereift, europäisch geprägt sind. Dies liegt an der Vielzahl der existierenden Jesusdarstellungen.
Ein weiteres von den vier mit dem Input „Jesus Christus am Kreuz von Golgatha“ generierten Bildern (Abb. 4) stellt schwerpunktmäßig die Naturgewalten dar. In diesem Fall ist die Kopfhaltung Jesu von Interesse. Der Kopf ist seitlich geneigt und stellt augenscheinlich Joh 19,30 dar: „Und neigte sein Haupt und verschied“.

  • Russisch-Orthodoxe Darstellung

 Als nächstes wurde der Satz „Jesus Christus am Kreuz von Golgatha“ erweitert, indem der Auftrag an die KI durch Zusätze bezüglich von Denominationen ergänzt wurde. Zunächst folgte eine russisch-orthodoxe Darstellung. Das Bild (Abb. 5) erinnert an klassische Ikonen. Nur Christus hat einen mit einem Kreuz gekennzeichneten Heiligenschein, während die anderen Figuren einen einfachen Heiligenschein tragen. Auffällig ist außerdem, dass in der Figurengruppe rechts vom Kreuz eine ukrainische Flagge erkennbar ist.
Das ist insofern noch kohärent, da es auch in der Ukraine orthodoxe Gemeinschaften gibt. Was dann aber überhaupt keinen Sinn mehr ergibt, ist, dass die – allerdings schwer erkennbare – Flagge auf der linken Seite der Figurengruppe eine deutsche Flagge – schwarz-rot-gold – darstellt. Der einzig denkbare Grund für diese Wiedergabe könnte sein, dass die Frage der KI in deutscher Sprache gestellt wurde. Weiterhin kann man unten in der Mitte einen alten Mann erkennen, der ein Kind auf der Hand hat. Denkbar ist, diese Darstellung als Dreieinigkeit zu interpretieren. Die Figuren erscheinen allerdings verschwommen, wodurch die Gesichter schwierig zu erkennen sind. Ein nicht ganz unübliches Phänomen bei KI generierten Bildern.

  • Katholische Darstellung

Die KI lässt die, mit dem Zusatz „katholisch“ versehene, Kreuzigung in einer Kirche spielen, was nicht der Realität entspricht (Abb. 6). Der Himmel im Hintergrund erinnert daher auch stärker an den gemalten Himmel eines Deckenfreskos in barocken katholischen Kirchengebäuden. Die „Engelszenen“ im Hintergrund spielen auf apokalyptische Darstellungen an. Einige Figuren, die wie aus der Zeit Jesu erscheinen, sind mit Heiligenschein versehen. Dies irritiert allerdings, da unklar ist, wer genau gemeint sein soll. Die Jünger unter dem Kreuz erscheinen mit Heiligenschein eher fehl am Platz.

  • Atheistische Darstellung

In diesem Zusammenhang entstand die reizvolle Idee, eine Darstellung aus der Sicht eines Atheisten generieren zu lassen. Dabei ist das Interessante an diesem Bild (Abb. 7), dass tatsächlich nicht das Übernatürliche dargestellt ist. Das Bild wirkt wie eine antike, römische Hinrichtungsszene, das Grab unter dem Kreuz ist angedeutet. Das einzige, was an religiöse Symbolik erinnert, ist der leuchtende „Heiligenschein“ mit dem Jesus gekennzeichnet ist. Dieser lässt sich aber dadurch erklären, dass die Sonne direkt von hinten auf seinen Kopf scheint. Dieses Detail hat die KI sehr zutreffend hinbekommen. Insgesamt hat hier die KI auffällig gut gearbeitet, obwohl die Anzahl von atheistischen Jesus-Darstellungen eher singulär sein dürfte. Auffällig ist hier, dass die KI einen traditionellen Modus verwendet, also nicht auf moderne Vorlagen zurückgreift. Dies wäre naheliegender gewesen, da in der modernen Kunst die Heiligkeit Jesu weniger akzentuiert wird.

  • Fazit

Die KI-generierten Jesusbilder ermöglichen eine breite Analyse religiöser Texte und Symbole, die einiges an Vorwissen voraussetzen. Es ist eine gute Übung, das gelernte Wissen im Unterricht anzuwenden. Darüber hinaus finden Fragen zur Medienkompetenz Anwendung.

Bibeltexte: Römer 3,21-28

Nach grafischen Darstellungen wurden ebenso Texte in den Blick genommen. Als zentraler Bibeltext im Zusammenhang von Q 3 kann der Rechtfertigungstext Römer 3,21-28 gelten, der bekanntlich auch für Luther eine entscheidende Rolle in der Reformation gespielt hat und durch ihn eine spezifische Übersetzung erfahren hat7.  Die methodische Absicht war es, den Text sozusagen zurückzuspiegeln, nämlich Luther zu fragen, wie er zu dem Text steht. Folgende Frage wurde der KI „ChatGPT“8  gestellt - Prompt:
„Wie würde Martin Luther auf den Rechtfertigungstext aus Röm 3,21-28 antworten und darauf Stellung beziehen?“.
Die Frage war sehr allgemein formuliert. Als Antwort lieferte die KI folgendes:
„Luther wäre wahrscheinlich erfreut darüber, wie klar und deutlich Röm 3,21-28 die Bedeutung des Glaubens hervorhebt und die Unmöglichkeit, sich durch die Einhaltung des Gesetzes oder durch Werke vor Gott zu rechtfertigen. Seine Antwort würde vermutlich in Richtung einer Bestätigung und Vertiefung dieser Lehre gehen, betonend, dass die Gnade Gottes und der Glaube an Christus entscheidend sind, um vor Gott gerechtfertigt zu werden.“9
Auffällig ist, dass die KI sich nicht genau festlegt. Gerade bezüglich religiöser und auch politischer Fragen ist ein Schutzmechanismus einprogrammiert, welcher kritisch zu interpretierende Themen „verweichlicht“, um eine zu große Eindeutigkeit bewusst zu vermeiden und Interpretationsspielräume zu belassen. Die sprachlich eher unübliche Verwendung eines Konjunktives ist daher folgerichtig.

Gesellschaftliche Themen: Schwangerschaftsabbruch

Im Rahmen von Q 3 gehört in den ethischen Kontext auch die Erörterung der Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch. Diese Frage wurde Luther ebenfalls mittels „ChatGPT“ gestellt:
Prompt: „Was sagen Sie zu Abtreibungen?” „ChatGPT“10  ließ Luther antworten: „Meine Ansichten zu Abtreibungen würden wahrscheinlich auf meiner theologischen Überzeugung beruhen, dass das Leben als ein von Gott geschaffenes Geschenk betrachtet werden sollte. Die Würde des menschlichen Lebens beginnt nach meinem Glauben mit der Empfängnis, und daher wäre es wahrscheinlich, dass ich eine restriktive Haltung gegenüber Abtreibungen einnehmen würde.“11
Auch hier gibt die KI keine definitive Antwort. Die KI möchte keinen Fehler machen und weicht wiederum in den Konjunktiv aus. Bezüglich der weiteren Aussagen greift die KI offensichtlich auf kirchliche Verlautbarungen zum Thema zurück.
In diesem Fall werden die Grenzen der KI deutlich. Luther hat sich praktisch nie direkt zum Thema Schwangerschaftsabbruch geäußert, die modern benutzten Begriffe wie „Abtreibung“ sind ihm ohnehin unbekannt. Allerdings lässt sich ein Text finden, in dem sich Luther indirekt zu diesem Thema äußert. Er findet sich als Anhang der 1542 erschienen Schrift:
„Der XXIX. Psalm ausgelegt Durch Doctor Johan Bugenhagen Pomern. Darinnen auch von der Kinder Tauffe. Jtem von den vngeborn Kindern vnd von den Kindern die man nicht teuffen kan. Ein trost D. Martini Luthers fur die Weibern welchen es vngerat gegangen ist mit Kinder geberen.“12

Luther schreibt:
„Sölche Müttere (scil. die ihr Kind verloren haben) / weil es jr schuldt nicht ist / noch durch jr verseumnis oder lessigkeit / die frucht verwarloset ist / sol man nicht schrecken noch betrüben mit unbescheidenen worten / Und hie ein unterscheid machen / zwischen den Frauen oder Weibebilden / so die Frucht ungern tragen / mutwillens verwarlosen / oder zu letzt auch böslich erwürgen und umb bringen/ Sondern also und der massen mit jnen reden.“13

In dieser Stelle findet sich demnach ein indirekter Hinweis darüber, dass es neben den bedauerlichen Frauen, die eine Fehl- bzw. Totgeburt erlitten haben, was in der frühen Neuzeit eine alltägliche Situation war, auch Frauen gibt, die eine Schwangerschaft ungern austragen, diese beenden wollen oder ihre neugeborenen Kinder umbringen. Luther war der Umstand also bekannt. Das Thema wird hier lediglich im Zusammenhang der Trostschrift für verwaiste Mütter angesprochen und dient letztlich nur der negativen Abgrenzung.

Der Spaß zum Schluss – oder wie manipulativ ist die KI?

Die ursprüngliche Idee, zeitgenössische Personen in eine historische Figur umzuwandeln, also z. B. aktuelle Kirchenvertreter*innen mittels der KI in Luther oder Katharina von Bora zu transformieren, war nicht möglich. Zum einen fehlt das Wissen über das Aussehen der Persönlichkeiten und zum andern aktivieren die populärsten KI-Programme aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes Sicherheitsprogramme, die ein Generieren von Bildern stoppen und damit verunmöglichen.
Daher wurde auf historische Personen ausgewichen. Der Auftrag an die KI14  lautet: „Martin Luther shaking hands with the Pope“.
Zwei Bilder wurden generiert (Abb. 8 und 9), bei denen sich Luther und der Papst die Hand geben. Das Ergebnis überrascht. Auf dem rechten Bild (Abb. 9) wird Luther in einer bischöflich anmutenden Robe dargestellt, die kaum der Realität entspricht. Anders verhält es sich bei dem Bild in Form eines Kupferstiches. Diese Darstellung erweckt den Eindruck, im 17. Jahrhundert entstanden zu sein, wie so viele Kupferstiche, die Persönlichkeiten, Städte oder historische Situationen zeigen. Bei Luther und dem Papst stellt die Darstellung jetzt kein größeres Problem dar, ist doch historisch allgemein bekannt und verbürgt, dass es niemals zu einer Versöhnung zwischen beiden gekommen ist. Denkbar ist aber durchaus, dass mit Hilfe dieses Stiches die Vergangenheit – und selbstverständlich auch die Gegenwart - manipuliert werden kann. Man stelle sich vor, jemand behauptet, in einem Archiv eine Darstellung einer möglichen Situation gefunden zu haben, die bis dahin so noch nicht bekannt war. Mit Hilfe der KI würde eine neue Wirklichkeit generiert, deren Widerlegung irgendwann nicht mehr ohne weiteres möglich wäre.

Zusammenfassung

Die Analyse der Ikone kann grundsätzlich als gelungen bezeichnet werden. Die KI konnte alle Details und Aspekte der Ikone richtig wiedergeben – fragwürdig ist nur die Übersetzungsvariante des Vaterlandes, das ist aber durchaus im übertragenen Sinne zu verstehen – Glaube stellt für viele Menschen durchaus eine „Heimat“ - sprich das „Vaterland“ dar. Positiv fällt auf: Sogar die theologische Frage wurde richtig erkannt. So kennt die KI das Detail des Simeon (Lk 2), der theologisch korrekt auf die Seite des Alten Testaments gestellt wird. Der Grund für diese genaue Charakterisierung der Ikone dürfte darin liegen, dass die Ikone wissenschaftlich gut beschrieben ist, das Museum sogar virtuell besucht werden kann.15  
Der analoge Versuch, dies mit einer modernen Ikone auszuprobieren, scheiterte. Hier tut sich die KI erheblich schwerer. Sie kann das Bild und das Dargestellte als solches nicht richtig erkennen.
Erschreckend war – und hierin gründet letztlich der Auslöser für eine genauere Beschäftigung mit diesem Thema – die Idee, mit Hilfe der korrekten Beschreibung der Ikone eine „Rückverwandlung“ vorzunehmen. Das Ergebnis verwundert und macht etwas ratlos. Von Trinität kann nicht mehr die Rede sein. Eher erscheint das Ergebnis als russisches Propaganda-Symbol. Hier zeigt die KI eindeutig ihre Grenzen. Den kirchslawischen Begriff für „Trinität“ kennt die KI nicht und benutzt offensichtlich den modernen Begriff „Vaterland“, was das nationalistisch gefärbte Resultat erklärt.

Die Jesus-Darstellungen ermöglichen eine Auseinandersetzung mit dem Christologie-Thema. Die KI generiert eine eigene durchaus zutreffende Sichtweise der unterschiedlichen Aspekte. Dass auch die Diversitätsfrage – hier festgemacht am „weißen Jesus“ – in den Blickpunkt kam, hat uns etwas überrascht, ist aber durchaus nachvollziehbar. Die KI kann ja nur das generieren, was ihr vorliegt. Und die europäische, künstlerische Aneignung Jesu ist rein zahlenmäßig stärker als die afrikanische. Wie das „katholische“ sowie das „orthodoxe“ Bild zeigen, werden Stichworte auch miteinander verknüpft und Bilder generiert, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben. Die Jünger erhalten Heiligenscheine (katholisch) und es wird eine Marien- oder Trinitätsfigur hinzugefügt (orthodox).

Der zentrale Rechtfertigungstext aus Römer 3 – Thema in Q 3 – bleibt im Rahmen üblicher theologischer Darstellungen. Hier kann die KI als methodisches und inhaltliches Hilfsmittel bis hinein in das Studium fungieren.

Das Abtreibungsbeispiel – ebenfalls aus Q 3 – zeigt die Grenzen der KI auf. Während die KI Luther quasi kirchenamtliche Verlautbarungen in den Mund legt, sind die wirklichen Aussagen zu diesem Thema der KI gänzlich unbekannt und werden es vermutlich auch noch eine Weile bleiben. Die KI wird die Sprachbarriere des Frühneuhochdeutschen erst noch überwinden müssen. Es ist aber davon auszugehen, dass dies durchaus möglich sein wird, zumal die Texte bereits zu einem größeren Teil gescannt vorliegen. Aber auch hier gilt, die KI kann nichts selbstständig, sie ist nur so gut, wie das, worauf sie zurückgreift. Drucke des 16. Jahrhunderts sind es zurzeit auf alle Fälle nicht: Zusätzlich muss der Referenzrahmen der Wortbedeutungen noch bearbeitet werden, da sie sich zum Teil erheblich von ihrer heutigen Verwendung unterscheiden.

Bezüglich des „Versöhnungsbildes“ von Luther mit dem Papst gilt zu bedenken: Während das moderne Bild kein größeres Problem darstellt, ist die historische, einem Holzschnitt nachempfundene Grafik, sehr wohl ein Problem.
Dazu ein abschließendes Gedankenexperiment. Druckt man dieses Bild in einem Schulbuch ab, besteht das Risiko einer grundsätzlichen Geschichtsverfälschung. Das Bild kommt einer historischen Darstellung sehr nahe. Im Falle von Luther und dem Papst würde das sicherlich noch schnell auffallen, aber es gibt durchaus andere Gegebenheiten, bei denen eine kritische Reflexion nicht mehr möglich wäre.

Fazit

Die „Künstliche Intelligenz“ (KI) ist eine feine Sache, aber nicht frei von Problemen und Unwägbarkeiten. Sie stellt eben keine Intelligenz im humanen Sinne dar, sondern ist maßgeblich abhängig von Algorithmen und Programmierungsvorgaben.
Bezüglich der Verwendung in der Schule sind grundsätzliche pädagogische Fragen zu thematisieren. Inwieweit kann und sollte die KI in der methodisch-didaktischen Arbeit eingesetzt werden? Was bedeutet KI zukünftig für den Schulalltag? Ist sie nur ein weiteres Hilfsmittel, vergleichbar der Medienrevolution des Buchdruckes? Unterdrückt sie menschliche Kreativität? Wird durch KI die Manipulation gesellschaftlicher Themen möglich? Wo gibt es Eingriffsmöglichkeiten? Dass KI Teil der Medienkompetenz werden muss, darf bei alledem als unstrittig gelten.
Die Auswahl der selbstverständlich nicht vollständigen Fragen, macht deutlich, dass wir genau genommen erst am Anfang stehen. Spannend wäre es sicherlich, die hier exemplarisch behandelten Themen in zehn Jahren erneut in den Blick zu nehmen.

Anmerkungen

  1. Qualifikationsphase, erstes Halbjahr (Q1) entspricht im Kontext des Bundeslandes Hessen Klasse 12/1 bei Gymnasium G9 – hier also 3. Halbjahr.
  2. Отечество с избранными святыми – Die Dreieinigkeit (wörtlich: Vaterland) mit ausgewählten Heiligen. Entstehungszeit: Ende des 14. Jahrhunderts, Nowgoroder Schule.  Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, Russland, Inv. 22211.
  3. Generiert durch „Bing AI“ (GPT-4) am 13.03.2023.
  4. https://kurzlinks.de/imiq; https://kurzlinks.de/9rvx;  https://kurzlinks.de/yr8m (25.02.2025).
  5. Generiert durch „Midjourney“ am 13.03.2023. „Midjourney“ generiert standardmäßig immer vier Bilder gleichzeitig, wobei sich jeweils aus den einzelnen Bildern weitere Variationen erstellen lassen.
  6. Fachbegriff für die Eingabeaufforderung an die KI.
  7. Zur Einfügung des „allein“ (sola) durch den Glauben“ in Luthers Übersetzung von Römer 3,28, vgl. die Erläuterung Luthers im „Sendbrief vom Dolmetschen“, Matin Luthers Werke, Weimar 1909 (WA) 30,2, 636f.
  8. ChatGPT 3.5.
  9. https://kurzlinks.de/o1h5 (26.02.2025).
  10. Version GPT 3.5.
  11. https://kurzlinks.de/pz8r (26.02.2025).
  12. Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts (VD16): Normnummer: VD 16 ZV 2694, Permalink: https://kurzlinks.de/h2qi.
  13. A.a.O., Anhang, unpaginiert.
  14. „Pixlr AI Image Generator“ vom 23.02.2024.
  15. Tretjakow-Galerie, Moskau (Russland), https://kurzlinks.de/pvpr (26.02.2025).