Was ist eigentlich Zeit?

Intergenerationelle Stimmen zur Wahrnehmung von Zeit

 

Was ist eigentlich Zeit? Wie erleben Menschen unterschiedlichen Alters Zeit? Was bedeutet es ihnen, Zeit zu gestalten? Das Redaktionsteam des Loccumer Pelikan hat dazu Menschen verschiedener Generationen befragt. Hier folgen ihre Stimmen.


Jonathan, 9 Jahre
„Für mich ist Zeit mit den Wörtern „Zu spät!“ verbunden. Zeit ist immer Stress für mich, dann muss ich aufhören zu spielen, muss in die Schule, muss ins Bett, muss dies und muss das. Es wäre so cool, wenn man die Zeit anhalten könnte. Das wäre super, dann wäre ich für immer neun Jahre alt. Dann sollte es aber möglichst kein Tag im November sein, wenn die Zeit anhält; ein Tag im Sommer wäre gut oder Weihnachten, dann kriegt man jeden Tag wieder Geschenke – allerdings immer wieder die gleichen. Also vielleicht doch lieber ein Tag im Sommer.”

Benjamin, 41 Jahre
„Mit ungefähr 17 Jahren habe ich verstanden, dass Zeit relativ ist. Damals habe ich viel Fußball gespielt und im Fernsehen angesehen. Dabei ist mir aufgefallen: Egal, ob ich das Spiel in Zeitlupe oder doppelter Geschwindigkeit schaue, die Spielzeit für die auf dem Platz bleibt gleich. Da war klar: Zeit ist immer relativ, je nach Perspektive.”

Clara, 22 Jahre
„Als Studentin erlebe ich Zeit ambivalent. Auf der einen Seite empfinde ich diese als ein großes Privileg. Gerade durch mein Studium habe ich viele Freiheiten, mir meine Zeit selbst einzuteilen. Ich bin flexibel in Bezug auf die zu wählende Anzahl der Module in einem Semester. Das heißt, ich kann frei entscheiden, wie viele Module ich pro Semester belegen und wieviel Arbeitsaufwand ich damit verbunden haben möchte. Für mich ist mein Studium unter diesen Voraussetzungen genau das Richtige, da ich die Möglichkeiten habe, relativ frei über meine Zeit zu verfügen und zu entscheiden, wie und mit was ich diese füllen möchte.
Jedoch bringt meiner Meinung nach diese frei einzuteilende Zeit nicht nur Vorteile mit sich. Denn gleichzeitig erlebe ich diese frei zur Verfügung stehende Zeit auch als Schwierigkeit aufgrund zweier Faktoren: Zum einen erlebe ich diese Zeit auch als eine Herausforderung, diese möglichst sinnvoll und effektiv zu nutzen. Es erfordert viel Disziplin und auch Motivation, ein Studium gewissenhaft und erfolgreich durchzuziehen, und jedes Semester nicht nur zwei Module zu belegen und seine Studienzeit auf drei weitere Semester zu verlängern. Aus diesem Grund kann ich Aussagen wie „Genieß‘ das Studium, so viel freie Zeit wie jetzt wirst du danach nie wieder haben!“, nur teilweise zustimmen. Ja, durch mein Studium habe ich die Freiheit, mir meine Zeit selbst einzuteilen. Aber gleichzeitig den Druck der nächsten Klausurenphase, die Recherche des Bachelorarbeitsthemas, den Nebenjob und das Schreiben von Bewerbungen für einen Auslandsaufenthalt im Nacken zu haben und zugleich Zeit für einen Ausgleich zum Studium durch Sport und Freunde einzufordern ist durchaus herausfordernd. Dann erscheint mir Zeit auf einmal nicht mehr so unendlich und flexibel einteilbar.
Aus diesem Grund besteht für mich in meinem Alltag als Studentin die Herausforderung, dieses Erleben von Zeit konstruktiv zu reflektieren und eine gute Work-Life-Balance zwischen Studium und Freizeit zu schaffen.”

Jan, 5 Jahre, und Felix, 7 Jahre
Beide überlegen lange. – Jan: „Zeit ist eine Stunde.“ Felix: „Nein, 24 Stunden – genau wie die 24 Adventskalendertürchen. Stell dir vor, du könntest jede Stunde ein Türchen öffnen. Dann ist ein Tag um.“

Svea, 3 Jahre, mit ihrer Mutter, 36 Jahre
Svea antwortet auf die Frage nach der Zeit: „Weiß nicht, was das ist.“ Ihre Mutter erklärt dann: „Svea weiß aber schon genau, wie ein Tag funktioniert: Nach dem Aufstehen gibt es Frühstück, dann geht es in den Kindergarten zum Spielen, dort gibt es dann Mittagessen, dann wird weitergespielt; es gibt einen Snack zum Tee, dann wird wieder gespielt und nach dem Abendbrot geht es ins Bett. So ist jeder Tag für Svea, das ist ihre Zeitstruktur.“ – „Genau!“, ruft diese laut und spielt weiter.

J., 41 Jahre alt, Lehrerin
„Im Grunde genommen ist Zeit ein Geschenk. Es ist Lebenszeit. Zeit, die mir geschenkt wird, um schöne Augenblicke zu erleben, tiefe Freude zu empfinden, mich mit der Natur und den Menschen um mich herum zu verbinden, zu staunen, zu atmen, glücklich zu sein.
Im Alltag stellt sich mir Zeit jedoch leider oft ganz anders dar: Als Zeitdruck, dies und jenes noch erledigen zu müssen, hier noch eine Mail zu beantworten, dort noch an einer Konferenz teilzunehmen, ein Schüler- oder Elterngespräch zu führen, Unterricht vorzubereiten, die Korrekturen rechtzeitig fertigzustellen. Zeit wird viel zu oft zu „Ich habe keine Zeit.” Dabei ist „Zeit haben” eine Wahl, eine Frage der Priorisierung von Dingen. Entscheide ich mich heute dazu, meine Zeit auf diese oder jene Weise zu verbringen? Wie gehe ich mit diesem Geschenk Zeit um? Es ist eine schwierige Frage, und allzu oft treffen hier meine Erwartungs- und Wunschvorstellungen auf die Anforderungen der Realität. „Zeit haben” fühlt sich wie ein Luxus an. Aber wieso eigentlich?
Vor einigen Monaten ist ein mir nahestehender Mensch unerwartet verstorben. Seitdem hat sich mein Blick auf Zeit verändert. Viel öfter mache ich mir nun bewusst, dass auch meine Zeit begrenzt ist, und dass ich ja gar nicht weiß, wieviel Zeit mir denn eigentlich noch bleibt. Ich versuche, achtsamer mit meinem Geschenk Zeit umzugehen, ganz so, als hätte ich ein kostbares Geschenk in den Händen, mit dem ich ganz vorsichtig bin, damit es nicht kaputtgeht. Ich stelle mir das bunte Geschenkpapier vor, in das meine Zeit eingepackt ist, und öffne mein Geschenk ganz behutsam und sachte, voller Spannung, was sich darin verbirgt. Ich versuche, öfters innezuhalten, um in mich hineinzuhören und das Wichtige und Wesentliche vom weniger Wichtigen zu unterscheiden. Dann wähle ich viel bewusster, wie ich meine Zeit verbringen möchte, und schiebe manche Dinge viel seltener auf. Auf diese Weise wird Zeit zu dem, was sie eigentlich ist: Lebenszeit. Ein Geschenk für mich, das ich mit Glück, Freude und Abenteuer füllen kann.”

U. Becker, 93 Jahre
„Für Kinder ist ein Jahr wie eine gefühlte Ewigkeit – für Alte vergeht die Zeit wie im Fluge. So sagen die Leute, und die Wissenschaft hat dafür Erklärungen bereit: „Mit dem Alter werden weniger Reize verarbeitet, das Gehirn wird langsamer, die fluide Intelligenz nimmt ab und ein Zeitraum scheint schneller zu vergehen.“ (Zeitempfinden im Alter)
Für mich, einen über Neunzigjährigen, gilt das: Die Jahre fliegen nur so dahin. Ich entdecke: Schon seit vier Jahren leben wir, meine Frau und ich, zusammen mit vielen Altersgenossinnen und -genossen in einem Wohnstift, aber es bleibt ein Rätsel, wo diese vielen Wochen mit dem Auf und Ab der Corona-Zeiten geblieben sind. Der schnelle Entschluss, eine große Wohnung aufzugeben, viele Bücher und liebgewonnene Gegenstände zurückzulassen, in einem neuen, viel kleineren Zu-Hause neu anzufangen, das alles, was zum Teil etwas mühsam erledigt und gestaltet werden musste, liegt weit dahinten. Jeder neue Tag, den wir zusammen beginnen können, ist jetzt klar gegliedert: nach dem Aufstehen das Frühstück, zu gegebener Zeit das Mittagessen und zu guter Letzt das Abendbrot, dazwischen die Zeiten zum Lesen und Schreiben, zum Aufräumen und Einholen, zum Ausruhen und zum Mittagsschlaf. Jeder neue Tag ist wie der gestrige, alles geht seinen gewohnten, geregelten, langsamen Gang – so langsam, wie ich auch nur noch einen Fuß vor den anderen setzen kann. Vermutlich ist es diese geregelte Verlangsamung des Lebensablaufs, die die Zeit so schnell vorüberziehen lässt.
Die Zeit verrinnt, aber ich weiß auch, dass es immer nur um gestundete Zeit geht. Die Jahre, die Monate, die Tage sind gezählt. Dass mir Fristen gesetzt sind, lehren mich all die Menschen aus meiner täglichen Umgebung, die, seit wir in diesem Hause leben, gehen mussten. Ihrer wurde im sonntäglichen Gottesdienst gedacht, und für jede und jeden von ihnen wurde eine Kerze angezündet. Und dann haben wir gesungen: „Der du allein der Ewge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unsrer Zeiten: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten“ (Evangelisches. Gesangbuch 64,6). Gestundete Zeit wird so zu kostbarer, zu geschenkter Zeit, die es sinnvoll zu nützen gilt. Und der Möglichkeiten dafür gibt es auch in einem Haus für betreutes Wohnen viele.
Dabei entdecken wir vielleicht auch die Zeit, die nicht nach Tagen und Wochen und Jahren bemessen wird, sondern die wir wie ein großes Erlebnis oder ein bedeutsames Ereignis erfahren. Plötzlich tut sie sich vor uns auf. Die Bibel nennt diese besondere Zeit den Kairos. Afrikaner mir ihrem Zeitverständnis haben uns immer wieder daran erinnert: Alle Zeit ist ein Geschenk. Sie ist nicht einfach verfügbar, sie kann nicht geplant und festgelegt werden. Sie muss entstehen. Wir können sie nur erwarten. Eine solche besondere Zeit – ohne festen Stundenplan, ohne Terminkalender und ohne Armbanduhr kennt offensichtlich wunderschöne Augenblicke, große Momente, unvergessliche Zeitfenster bis zum Rand gefüllt mit reichen, wichtigen Einsichten und Erfahrungen.”