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Eine unverzeihliche Tat zu vergeben, ist wie ein Wunder

von Claas Cordemann


Darf ein Mensch, der einen anderen Menschen tötet, auf Vergebung hoffen? Mord ist nicht Totschlag. Mord ist vorsätzlich, geplant, im vollen Bewusstsein der Tat, in jedem Fall niederträchtig. Mörder ist laut § 211 des Strafgesetzbuches „wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken einen Menschen tötet.“ Darf also ein Mensch, der solches getan hat, auf Vergebung hoffen?

Ich will strikt bei dieser Frageperspektive mit Blick auf den Täter bleiben. Heute wird zumeist ein anderer Fokus bei der Frage nach Vergebung gesetzt. Es dominiert die Perspektive der Opfer. Der Tenor hier: Wenn du verzeihen kannst, dann kommst du aus deiner Position als Opfer wieder heraus. Vergebung ist dann eine Form der Selbstermächtigung und Selbststärkung. Vergebung kann in diesem Sinne die Seele heilen, ohne dass damit die Tat gerechtfertigt würde.

Aber auf welche Vergebung sollte ein Mörder hoffen dürfen? Natürlich: Zu hoffen ist keinem Menschen verwehrt. Hoffen zu dürfen, ist ein Menschenrecht. Das gilt für Heilige wie für Mörder. Aber das unmittelbare Opfer, auf dessen Vergebung hier zuerst zu hoffen wäre, ist tot. Keine Wiedergutmachung, keine Reue bringt es wieder zurück. Abel bleibt tot. Die Stimme seines Blutes schreit zu Gott. Kain kann die Tat nicht mehr zurückholen. Unwiederbringlich.

Also bleiben als Adressaten der Hoffnung auf Vergebung nur:
1.    die Hinterbliebenen, die das Opfer beklagen und damit durch den
       unwiederbringlichen Verlust selbst Opfer sind,
2.    Gott als der Herr über Leben und Tod sowie
3.    der Mörder sich selbst gegenüber.

Ja, ich glaube, es geht auch um diese dritte Dimension. Es geht auch um die Frage: Wie kann sich eine Mörderin nach solch einer Tat wieder im Spiegel anschauen? Wenn ich das frage, setzt das voraus, dass die Täterin weiß, was sie getan hat. Dass sie selbst unter ihrer Tat leidet, mit sich selbst entzweit ist. Vielleicht so sehr, dass sie nicht mehr weiß, wie sie mit dieser Tat weiterleben soll. Das alte Wort für diesen Zustand ist contritio. Es ist ein Zustand der Herzenszerknirschung, in dem die Täterin vom Bewusstsein der Schuld erfüllt ist und eine tiefe Scham und Reue über das zugefügte Unglück empfindet.

Wer in dieser Scham versinkt, weiß: Es gibt keinen Anspruch auf Vergebung. So, wie ich mich nicht selbst entschuldigen kann, sondern nur um Entschuldigung bitten kann, so kann ich auch nur um Vergebung bitten. Ich weiß, dass ich kein Recht darauf habe, dass dieser Bitte entsprochen wird. Der Abgrund einer mörderischen Tat muss es wie ein Wunder erscheinen lassen, wenn Vergebung möglich wäre.

Ob der Täter auf das Wunder der Vergebung der Hinterbliebenen hoffen kann, lässt sich nicht sagen. Kultur, Religion, Sozialisation, ja, das ganze gelebte Leben der Hinterbliebenen spielt eine Rolle, ob hier am Ende eines Weges Vergebung möglich wird. Es gibt Geschichten von solch unglaublicher Vergebung. In ihnen strahlt etwas Überirdisches auf. Sie sind vermutlich seltener als die Geschichten, wo nicht vergeben werden kann, weil der Schmerz zu groß ist und zu tief geht. Vergebung ist eben kein theoretisches Problem.

Und Vergebung bei Gott? Wenn die Opfer nicht vergeben können, kann dann ein Mörder auf Gottes Vergebung hoffen, ohne dass es zynisch wird? Ich glaube, er*sie kann es. Aber nicht leichthin. Voraussetzung ist, dass er eben jenen Abgrund in sich spürt, in den er mit seiner Tat gefallen ist. Dass er weiß, dass die Tat unverzeihlich ist. Dass er weiß, dass er keinen Anspruch auf Vergebung hat.

Auf dieser Basis ist das Wunder der Vergebung möglich. Sie lebt von der reformatorischen Grundeinsicht, dass ein Mensch, auch eine Mörderin, niemals mit ihrer Tat identisch ist. Gottes Gnade unterscheidet Person und Werk. Gerade dann, wenn die Opfer und Angehörigen nicht vergeben können, kann es für eine Mörderin wichtig sein, den Zuspruch zu erfahren, dass damit nicht das letzte Urteil über ihre Person gefällt ist. So wie es Christus am Kreuz tut, wenn er für seine Mörder bittet: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34). Die Tat wird die Mörderin mit diesem Zuspruch nicht zurückholen können, aber es wird sich eine Tür öffnen, um neue Wege zu gehen – vielleicht auch segensreiche.