„Geh’ hinaus aus deiner Heimat" – Zur religionspädagogischen Arbeit mit Filmen

von Stefan Wolf / Thomas von Scheidt

 

1.  Film und Selbsterfahrung

Das Medium

Ein Blick auf nächtliche Gleise. "Über den Rhythmus der vorbeihuschenden Schwellen legt sich eine beruhigende Stimme. Sie zähle jetzt bis zehn, sagt die Stimme (...), und mit jeder Zahl würden die Augen schwerer und der Atem langsamer. Bei zehn sei man dann in Europa." Der Anfang von "Europa", einem Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier, macht "die unausgesprochene Rede des Kinos hörbar, mit der uns jeder Film zu betören versucht, um uns dann im Dunkel zu verschlingen."

So gesehen enthält der Anfang von "Europa" eine Botschaft über den Film, die uns sein Geheimnis verrät. Film ist demnach eine Form von Hypnose, die einen legalen Trip in eine andere Realität ermöglicht. Für zwei Stunden tauchen wir in eine andere Welt ein. Mithilfe von Aufnahme- und Schnitttechnik stellt die filmische Apparatur eine eigene Welt mit einer eigenen Raum- und Zeiterfahrung her, die in Differenz zur alltäglichen Lebenswelt steht, aber zumindest für die Dauer des Films Realität für sich beansprucht. Die Fähigkeit des Mediums Film zur Konstruktion einer eigenen Welt und zur Suggestion schafft eine Unterbrechung des Alltags im Alltag; sie ermöglicht den Rezipierenden, ihren Alltag aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Das Medium Film inszeniert also einen Perspektivwechsel, der Wahrnehmungsveränderung und Selbsterfahrung auslösen kann.

Das Medium Film existiert nur im konkreten Film. Jeder konkrete Film ist aber eben auch Medium, das heißt: jeder Film hat als Medium die Möglichkeit, einen Perspektivwechsel zu initiieren.

 

Der Raum,

in dem sich die Projektion abspielt, repräsentiert in seiner architektonischen Physiognomie den Wechsel in eine andere Realität. Die klassischen Kinopaläste sowie die Großraum-Kinos, in denen sich die Erlebnisgesellschaft seit Anfang der 90er Jahre zum Ausdruck bringt, sind Durchgangsstationen für einen Perspektivwechsel.

 

Die Story

In der populären Kultur bringt das Medium Film sich in Stories zum Ausdruck. Auch die Stories des Films haben einen Bezug zur Lebenswelt der Subjekte; sie können als moderne Mythen verstanden werden. Der Mythos hat eine wichtige Funktion für die Gesellschaft wie auch für die in ihr lebenden Subjekte: er verdichtet fiktive Ereignisse zu einer Erzählung, um eine Ordnung der Dinge und eine Deutung der Welt herzustellen.

Der Stoff, aus dem die Kino-Mythen sind, ist die reale Geschichte und die Welt der Imagination. Insofern bedeutet Filmanalyse auch Analyse der Gesellschaft sowie des eigenen Bewusstseins.

Die Suche ist das formale Prinzip jeder Filmstory. Jeder Film kommt erst durch die Suche nach einem verlorenen Objekt der Begierde in Bewegung. Dieses Objekt, das Alfred Hitchcock MacGuffin genannt hat, ist "ein leeres Zeichen oder Objekt, das keinen anderen Sinn hat -: als die Dinge in Bewegung zu halten." Jeder Film nimmt uns mit auf eine Suche. Das kommt auch in der inhaltlichen Struktur des Films zum Ausdruck. Die meisten Filmgeschichten weisen eine dreiteilige Strukturauf: Am Anfang steht ein Mangel, ein Verlust, ein Abschied, der die Geschichte zum Laufen bringt; daraufhin folgt die Suche, die Reise, der Kampf, das Abenteuer, die Bewältigung von Konflikten; am Schluss steht eine Lösung: das Happy-End, der Tod oder ein offenes Ende. Die narrative Struktur des Films verdichtet und transformiert Prozesse, die in jedem Leben wiederholt ablaufen, und kann daher punktuell an individuelle Lebensgeschichte anknüpfen.

 

Die Rezeption

Wie jedes andere Medium und Zeichensystem entsteht auch der Film erst in der Rezeption: Der Film konstituiert sich in der audio-visuellen Wahrnehmung der RezipientInnen. Filmwahrnehmung ist ein dialogisches Geschehen. Der Film strukturiert unsere Wahrnehmung vor. Er bezieht uns ein, nimmt uns mit auf die Suche und gibt uns das Gefühl, am filmischen Geschehen teilzuhaben. Die suggestive Kraft des Films überwältigt uns; dennoch sind wir nicht ohnmächtig der Bilderwelt ausgeliefert, sondern nehmen aktiv am Filmgeschehen teil - wie der Träumer im Schlaf. Wir integrieren den Film selektiv in unsere Lebensgeschichte, setzen ihn zu unserem "Lebensfilm" in Beziehung, vergleichen ihn mit unserem Erfahrungsschatz.

Die Story des Films entwirft spielerische Identifikationsangebote. Aber nicht nur die Story wirkt auf die Wahrnehmung: Der Film wirkt als "Gesamtkunstwerk". Der Film besteht aus verschiedenen Codes - wie etwa Kameraperspektive, Montage, Farben, Musik, Dialoge, Komposition und Story -, die das Netz bilden, in das sich die Wahrnehmung verstrickt. Nicht der gesamte Film wird als Deutungsangebot übernommen. Aber Fragmente der Figuren, der Story und des Kunstwerks können unvergessliche Eindrücke hinterlassen, in die Lebensgeschichte eingehen, zum Teil von Identitätsarbeit werden.

Die selektive Wahrnehmung ist sowohl von unserer subjektiven Befindlichkeit als auch von unserer Teilhabe an einer Verständigungsgemeinschaft bedingt. Zum großen Teil geschieht die selektive Wahrnehmung unbewusst. Auch wenn wir einen Film bewusst ablehnen, nehmen wir trotzdem Teile von ihm auf. Im Augenblick des Sehens haben wir keine Wahlmöglichkeit - es sei denn, wir schließen die Augen.

Diese phänomenologischen Streiflichter machen die Bedeutung des Films für den Alltag der Subjekte deutlich: Der Film bietet die Möglichkeit zu einem Wechsel der Perspektive und zu einer mythischen Deutung der Wirklichkeit und der eigenen Geschichte. Das bedeutet, dass sich im Bedürfnis nach Unterhaltung die Suche nach der eigenen Identität verbirgt: "'Unterhaltung' ist Ausdruck unserer Fähigkeit zur symbolischen Kommunikation, sie hat Teil an unseren produktiven Möglichkeiten, uns unserer Welt und unserer Identität sprachlich zu vergewissern!"

 

2. Zur Konzeption der religionspädagogischen Arbeit mit Filmen

Film und Religion sind "zwei einander verwandte wie verfeindete semiologische Systeme". Beide Systeme versuchen, die Bedeutung eines Zeichens zu steigern, um das Zeichensystem zu sakralisieren.

In Zeiten des Verfalls der traditionellen Religionen in der westlichen Kultur artikuliert die Kino-Welt religiöse Bedürfnisse. Der Film kann als Medium von Religion verstanden werden. Religion versucht, den Alltag zu deuten, und zielt auf eine Veränderung der Perspektive und der Wahrnehmung. Auf seine Weise tut das auch der Film.

Der Film ist aber wie die Religion auf eine Theologie angewiesen. Auch wenn der konkrete Film selbstreflexive und religiöse Momente enthalten kann, ist eine integrierende Perspektive notwendig, die den Film in Beziehung zur Wirklichkeit und zur Erfahrung setzt. Die Theologie ist eine mögliche Perspektive, die eine kritische und mehrdimensionale Deutung der (Film-) Wirklichkeit bietet. Christliche Theologie kann als Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit aus dem Blickwinkel der Erlösung verstanden werden. Aus der Perspektive der Erlösung nimmt die Theologie die Wirklichkeit als Ort der Entfremdung und der Widersprüche in den Blick; zugleich macht sie die Spuren von Erlösung im Alltag sichtbar. Die Theologie richtet ihr Augenmerk daher besonders auf Situationen und Phänomene, die eine Unterbrechung des Alltags im Alltag ermöglichen und damit ein anderes Licht auf den Alltag werfen.

Der Bezug auf Wirklichkeit und Erfahrung ist konstitutiv für die Theologie. Religion und Glaube vermitteln sich nur in der Erfahrung der Subjekte und ihrem Alltag. Insofern Erfahrung und Alltagswirklichkeit sich heute weitgehend über Medien vermitteln, ist es notwendig, dass Theologie sich auf allen ihren Reflexions- und Handlungsfeldern mit dem Film beschäftigt, ohne ihn jedoch theologisch zu vereinnahmen. Die Theologie verliert den Bezug zur Wirklichkeit und zur Erfahrung der Subjekte, wenn sie die Kino-Welt als Medium von Religion, als Ausdruck von Alltag, Wirklichkeit und Erfahrung der Subjekte nicht in den Blick nimmt.

Von diesem Theologieverständnis aus besteht das Anliegen der Religionspädagogik nicht in der Vermittlung spezifisch religiöser Inhalte, sondern in dem Versuch, die religiöse Dimension in der Wirklichkeit, auf die sich Erfahrung bezieht, im Alltag und in der Lebensgeschichte der Subjekte zu erhellen. Gegenstand religionspädagogischer Filmarbeit sollten deshalb nicht nur Filme sein, die ein religiöses Thema behandeln oder religiöse Symbolik verwenden, sondern das weite Spektrum von "Unterhaltungsfilmen".

In der gegenwärtigen Religionspädagogik wird weitgehend von der Erfahrung der Subjekte ausgegangen. Der Stellenwert und das Verständnis von Erfahrung sind aber umstritten. So hat Dietrich Zilleßen darauf aufmerksam gemacht, dass das Subjekt dazu tendiert, die Wahrnehmung nach bekannten Erfahrungen zu strukturieren. Zilleßen spricht hier von der "banalen Erfahrung", die den Menschen bloß bestätigt, ihn also nicht in Frage stellt. Dagegen hätte Theologie von der Wahrnehmung des Anderen auszugehen, um die Subjekte für innovative Erfahrungen, die die Wahrnehmung wiederum verändern können, zu öffnen.

Aus dieser Struktur der Wahrnehmung folgt, dass Identität sich vom Anderen her bestimmt und nicht - wie in idealistischen Konzeptionen - von der Gleichheit des Ichs mit sich selbst. Theologie hätte die Vorstellung von vollkommener, festgelegter und dauerhafter Identität zu kritisieren und Identität als Fragment zu verstehen. Dies bedeutet, dass religiöse Bildungsprozesse offen und unabschließbar sind. Religionspädagogik hätte sich als Suche zu verstehen, auf der sich Lehrende wie Lernende gemeinsam befinden.

Die religionspädagogische Arbeit mit dem Film hätte mehrere Aufgaben zu verbinden. Sie hätte den Film und die eigene Wahrnehmung, die Bedeutung des Films für die eigene Lebensgeschichte und die religiöse Dimension des Films und der Lebensgeschichte zu reflektieren.

Ziel dieser religionspädagogischen Arbeit wäre zunächst, die Medienkompetenz der Subjekte zu fördern, um einen "kritische[n] und kreative[n] Umgang" mit Medien, der um Chancen und Gefahren, um Beschaffenheit, Funktionsweisen und Wirkungen von Medien weiß", zu ermöglichen. Darüber hinaus geht es um Schärfung, Vertiefung, Erweiterung und Veränderung der Wahrnehmung.

Die Wahrnehmung des Anderen vollzieht sich als Ästhetik der Distanz, die in den Filmen zum Ausdruck kommt, in denen die selbstkritische Dimension bereits angelegt ist. Die Ästhetik der Distanz nimmt dagegen den populären "Unterhaltungsfilm" kritisch in den Blick, insofern er dazu tendiert, vorgegebene Erfahrungen zu verstärken und damit den Perspektivwechsel des Mediums "stillzustellen". Zugleich spürt sie aber auch die religiösen Momente im "Unterhaltungsfilm" auf.

Nicht zuletzt beabsichtigt die religionspädagogische Filmarbeit, zu einer Auseinandersetzung mit der christlichen Wahrnehmung von Alltag und Lebensgeschichte anzuregen.

 

3. Ein praktisches Modell: Der Film-Workshop

Diese religionspädagogische Konzeption lässt sich in verschiedenen Kontexten umsetzen. Ein praktisches Modell, das wir hier vorstellen, ist ein Film-Workshop auf der Pfingsttagung 1996 der Ev. Akademie Bad Segeberg.

Die Pfingsttagung bietet die Möglichkeit kreativer Auseinandersetzung mit einem Thema. Unterhaltung, Sport, Spaziergänge, Gruppenarbeit, Andachten und Gespräche stehen dabei nicht unverbunden nebeneinander. Teilnehmende sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Familien und Einzelne. Vier Arbeitsgruppen beschäftigten sich auf je eigene Weise mit dem diesjährigen Tagungsthema "Wüste, Wind und Feuer". Die Schreibwerkstatt näherte sich dem Thema sprachlich, die Malgruppe versuchte das Thema bildlich umzusetzen, während eine andere Gruppe "Wüste, Wind und Feuer" tänzerisch gestaltete.

Das Angebot des Film-Workshops richtete sich an die Erwachsenen. Die Gruppe setzte sich aus sieben Männern und Frauen zwischen 30 und 60 Jahren zusammen.

Bei der Konzeption des Workshops haben wir uns vorrangig auf den Begriff "Wüste" bezogen. Die "Wüste" ist ein Ort, an dem sich das Unvorhersehbare, das Erschreckende, das Überraschende ereignen kann. Die Wüste erinnert damit an Schwellensituationen im Leben, an Grenzstationen und Übergänge; sie symbolisiert die Suche des Menschen nach sich selbst. Der Prozess des Suchens bestimmt auch das theologische Verständnis von Identität und die Religionspädagogik. Ebenso ist die Suche auch ein konstitutives Element jeder Filmstory. Die Suche nach etwas, das verloren gegangen ist, ist der Motor der "Reise", die die Filmstory in Gang hält.

Das Thema Wüste bietet in seiner Vielschichtigkeit und seinen Anknüpfungsmöglichkeiten am Leben des Einzelnen einen geeigneten Ausgangspunkt für die praktische Arbeit der Film-Gruppe.

 

Der Ablauf des Workshops

Der erste Tag beginnt mit einer filmischen Einstimmung zum Thema Wüste. Dazu wurden verschiedene Filmszenen zusammengeschnitten. Ein Ausschnitt aus Leo Kirchs Bibelverfilmung zeigt Abraham, der eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern durch die Wüste führt. Sie sind auf der Suche nach dem Land, das Abraham verheißen worden ist. Gott sprach zu Abraham: "Geh hinaus aus deiner Heimat und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen werde." (1. Mose 12,1)

Es ist heiß; die Menschen sind durstig und beginnen zu murren, weil das verheißene Land noch nicht in Sicht ist. Die Suche hat ihr Ziel (noch) nicht gefunden. Die Wüste erscheint als ein Ort des Übergangs und der Läuterung.

Ein Ausschnitt aus "Die letzte Versuchung Christi" von Martin Scorcese zeigt, wie Jesus durch Satan versucht wird. Hier wird die Wüste als Ort der Offenbarung und Versuchung dargestellt.

Nach dieser Einführung zeigen wir den Film "Paris, Texas" von Wim Wenders. Der Film beginnt in der Wüste. Wir sehen eine zerklüftete, leere Wüstenlandschaft aus der Vogelperspektive. Die Kamera gleitet darüber hinweg. In der Ferne taucht ein einzelner Mann auf, der diese Wüste zu Fuß durchquert. Ein Falke landet auf einem Felsen. Der Mann bleibt stehen, sieht zu dem Vogel herüber und trinkt den letzten Schluck aus einer Plastikflasche. Er trägt einen verstaubten Anzug, eine rote Baseballmütze und mit Bandagen umwickelte Sandalen. Der Mann wirft die leere Plastikflasche fort und macht sich wieder auf den Weg.

Der Mann in der Wüste heißt Travis und ist die zentrale Figur in "Paris, Texas". Nach seinem vierjährigen Aufenthalt in der "Wüste" wird Travis von seinem Bruder Walt an einer Tankstelle mit dem Auto abgeholt. Auf der Fahrt erfahren wir langsam und bruchstückhaft seine Geschichte. Vor vier Jahren hat Travis seine Frau Jane und seinen Sohn Hunter verlassen. Hunter fand in der Zeit seiner Abwesenheit bei Walt und seiner Frau ein neues Zuhause. Nach einer schwierigen Annäherung zwischen Vater und Sohn machen sich die beiden auf die Suche nach Jane. Travis, der sprach- und identitätslos aus der Wüste kam, beginnt sich mit seiner Geschichte auseinander zusetzen. In einer Schlüsselszene am Ende des Films kommt es zu einer gegenseitigen Lebensbeichte zwischen Travis und Jane, die in der Kabine einer Peepshow spielt, in der Jane inzwischen arbeitet.

"Paris, Texas" ist ein Film, der von Bildern handelt, die Männer sich von Frauen machen und davon, dass diese Bilder immer wieder zu neuen Bildern führen. Wim Wenders erzählt eine Geschichte von Schuld und Sühne. Am Schluss des Films steht kein Happy-End. Travis führt Hunter mit seiner Mutter zusammen und verlässt die beiden erneut. Auf seiner Fahrt aus der Stadt hinaus, passiert Travis ein Werbeschild auf dem steht: "Together we make it happen". Das Glück bleibt flüchtig; es wird kurz angedeutet im Vorbeifahren.

Nach dem Film beginnen wir mit einer ersten Gesprächsrunde. Hierbei steht zunächst der emotionale Zugang zu dem Film im Vordergrund. An dieser Stelle geht es um die Möglichkeit der Teilnehmenden, ihren ersten persönlichen Eindruck zu formulieren. Eine Teilnehmerin erzählt von einer kurzen Amnesie in ihrer Kindheit. Ein anderer Teilnehmer schildert, wie sehr ihn die Story des Films an seine eigene Geschichte erinnert. Es wird deutlich, dass der Film an Erfahrungswissen anknüpft. Zustimmung, Ablehnung und Unverständnis gegenüber dem Ende der Filmgeschichte kommen bei dieser Auseinandersetzung zur Sprache. Filmgeschichte und eigene Lebensgeschichte setzen sich zueinander in Beziehung.

Bestärkt das Ende nicht zugleich den Mythos der bürgerlichen Kleinfamilie (- durch die Zusammenführung des Sohnes mit der biologischen Mutter -) und den Mythos des "lonesome cowboy"? Oder verweist das Werbeschild als letztes Bild auf eine Möglichkeit der Lösung jenseits des Films, die das Ende in Frage stellt? Wir diskutieren Alternativen zum Filmende und stellen fest, dass die Komposition auf ein "offenes Ende" angelegt ist.

In dem folgenden Arbeitsschritt versuchen wir gemeinsam die ersten Eindrücke und Reaktionen durch ein "zweites Sehen" des Films zu überprüfen. Stationen der Reise werden vergegenwärtigt und die Story des Films aus der Erinnerung erzählend rekonstruiert. Bei diesem dialogischen Prozess entsteht aus den einzelnen Filmen in den Köpfen der Teilnehmer ein "gemeinsamer" Film. Im Gespräch stellen wir übereinstimmend fest, dass die Szene in der Peepshow eine zentrale Bedeutung hat.

Schließlich kommen wir zum Thema des Films: Die Suche. Travis ist auf der Suche nach sich selbst und seiner (Schuld-) Geschichte, vor der er in die Wüste geflohen ist. Hunter ist auf der Suche nach seinem Vater. Und gemeinsam machen sich dann Vater und Sohn auf die Suche nach Jane, der Frau und Mutter.

In diesem Zusammenhang nimmt ein Teilnehmer die von uns gelegte Spur auf und vergleicht Abraham, der auf der Suche nach dem verheißenen Land ist, mit Travis, der auf der Suche nach dem Ort Paris in Texas ist.

Unter dem Hinweis auf die verschiedenen Codes des Films fällt uns auf, dass die Farbe Rot in dem Film eine besondere Rolle spielt: Rot ist die Farbe des Titels im Vorspann; Travis trägt eine rote Baseballkappe, als er durch die Wüste läuft; Jane hat bei der "Beichtszene" in der Kabine der Peepshow ein rotes Kleid an und schließlich fährt Travis am Ende des Films in einen abendroten Himmel hinein.

Abschließend halten wir die Ergebnisse des dialogischen Prozesses fest. Fast alle Teilnehmenden beschreiben, wie ihre ersten Eindrücke und (Vor-) Urteile während des gemeinsamen Gesprächs in Frage gestellt worden sind.

Der zweite Tag beginnt mit einer Andacht, die die Gruppe in den Tag einstimmen und einen Assoziationshorizont vorgeben soll. Wir erzählen und deuten die Geschichte des Propheten Elia, der auf seiner Flucht in die Wüste von einem Engel mit Wasser und Brot versorgt wird (1.Kön. 19,1-8).

Dann zeigen wir den Film "Amateur" von Hal Hartley. Im Vorspann sieht man Linien, die sich scheinbar zufällig überschneiden. Damit wird die Komposition des Films antizipiert, die aus scheinbar zufälligen Begegnungen ein Netz von Beziehungen entwirft.

Die erste Einstellung zeigt einen jungen Mann (Thomas), der wie tot auf einer kopfsteingepflasterten Straße liegt. Er ist aus dem Fenster eines Hauses gestoßen worden. Plötzlich wacht er auf. Er hat sein Gedächtnis verloren und kann sich an nichts mehr erinnern, was vor seinem Unfall gewesen ist. Er macht sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit und der Geschichte seines "ersten" Lebens. Dabei trifft er auf eine ehemalige Nonne (Isabelle), die ihn auf der Suche nach seiner verlorenen Geschichte begleitet und sich in ihn verliebt. Die Zuschauenden erfahren nach und nach immer mehr und auch Thomas erhält kurz vor dem Finale einen Einblick in den Abgrund seiner Vergangenheit. Er erfährt, dass es seine eigene Frau (Sofia) war, die ihn aus dem Fenster gestürzt hat, weil sie von ihm ausgenutzt wurde. Am Ende fällt Thomas der Geschichte seines "ersten Lebens" zum Opfer und wird erschossen.

Auch in "Amateur" geht es um Schuld, Sühne, Erlösung und die Suche nach der eigenen Identität.

Wir beginnen wieder mit einer kurzen Gesprächsrunde, die Raum für erste Gefühle und Assoziationen gibt. Dabei vergleicht ein Teilnehmer Isabelle mit dem Engel, der Elia stärkt. In der zweiten Arbeitsphase teilen wir uns diesmal in drei Gruppen auf. Jede Gruppe soll eine der drei Hauptfiguren (Isabelle, Thomas und Sofia) charakterisieren und eine Schlüsselszene heraussuchen, die den Charakter der jeweiligen Person treffend beschreibt. Dieses Vorgehen erwies sich aus zwei Gründen als vorteilhaft: Zum einen wird die Filmgeschichte wieder gegenwärtig (nach dem Film gab es eine längere Mittagspause), zum anderen besteht so die Möglichkeit, den Film aus der Perspektive einer Filmfigur heraus zu sehen. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden im Plenum zusammengetragen. In der nachfolgenden Diskussion haben wir versucht, den Filmtitel aufzuschlüsseln: Die drei zentralen Figuren bleiben auf ihre Weise Amateure und Amateurinnen, die - wie es in einer zentralen Szene des Films heißt - "alle an ihrer Berufung vorbeischliddern".

Zum Abschluss des Workshops haben wir eine "Filmrolle" erarbeitet: Auf einem großen Stück Papier wurden die verschiedenen filmischen Ebenen, die Schlüsselzitate und -szenen dargestellt. Auf diese Weise wurde der gemeinsame Prozess kreativ festgehalten.

Die Arbeit des Workshops macht deutlich, dass das Sehen von Filmen und das gemeinsame Gespräch über Filme einen Perspektivwechsel ermöglichen kann. Die eigene Wahrnehmung kann durch den Film und durch die Wahrnehmung der anderen überprüft und erweitert werden. Bezeichnend für diesen Prozess ist ein Satz, der während unserer gemeinsamen Diskussionen fiel: "So habe ich das noch gar nicht gesehen".

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/1997

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