Was heißt „Erinnere Dich!” im digitalen Zeitalter?

Von Andreas Mertin

 

Exempel I: Guernica und „Guernica”

2006 begegnete ich zum ersten Mal im Museo Reina Sofía in Madrid dem Original von Pablo Picassos „Guernica“. Vor Ort konnte ich kaum einen Blick auf das Kunstwerk werfen. Und das lag daran, dass eine große Zahl Jugendlicher mit dem Rücken (!) vor dem Bild stand, um ein Selfie von sich vor „Guernica“ zu machen. Ein Gefühl der Verwirrung erfasste mich. Sicher, auch ich bin 1.500 Kilometer Luftlinie gereist, um mir dieses Werk im Original anzuschauen, aber an ein Selfie oder ein Dokumentationsfoto aus Anlass meines Besuches hätte ich im Traum nicht gedacht. 2014 war ich dann in dem historischen Ort Gernika, der kastilisch Guernica heißt, und erlebte im dortigen Friedensmuseum jenen klaustrophobischen Moment, in dem man in einem Zimmer eingeschlossen das Herannahen der deutschen Bomber hört, das Zimmer durch die immer näher kommenden Bombeneinschläge erschüttert wird und man einfach nur noch heraus und weg möchte. Was für eine Differenz der Erfahrungen! Die abstrakt-ästhetisch durch Picassos Werk vermittelte in Madrid und die Simulation der verhängnisvollen Nacht in Guernica. Niemand macht in jenem verschlossenen Zimmer im Museum von Guernica ein Selfie von sich, weil man hier den Schrecken spürt.1 Vor Picassos „Guernica“, dieser Ikone der Erinnerung an das deutsche Verbrechen 2, war das anders – so sehr, dass die Museumsleitung zwischenzeitlich das Fotografieren verboten hat. Seitdem, davon konnte ich mich 2017 überzeugen, herrschen wieder einigermaßen normale Zustände vor dem Werk. Und dennoch lässt die Differenz der Erfahrungen darüber nachdenken, wie es um die Erinnerungskultur in einer zunehmend durch Digitalisierung und Eventisierung bestimmten Kultur steht. Was prägt sich der eigenen Erinnerung ein, das abstrakte und inzwischen fast schon kunstwissenschaftliche Studium des Kunstwerks „Guernica“ oder das Selfie vor dem Werk, das ab und an beim Aufruf der Fotogalerie des Handys in den Sinn gerät?

 


Exempel II: Holocaust und „Yolocaust“

Mitte 2018 stoße ich auf Instagram im Bilderstream einer so genannten Beauty-„Influencerin“, die zugleich auch Lehramtsstudentin für Geschichte ist, auf ein Selfie, das sie freundlich lächelnd auf einer der 2711 Stelen des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas zeigt. Nun gibt es unzählige dieser Selfies am/im/auf dem Berliner Stelenfeld und man kann überlegen, ob deren ästhetisierende Form dieses Verhalten nicht sogar provoziert.3  Iris Hanike hat in ihrer Erzählung „Das Eigentliche“ (M 3) das Stelenfeld in diesem Sinne gedeutet („war dieser Erinnerungsbeton ein berückend schöner Anblick“). Im vorliegenden Beispiel ist das Foto deshalb prekär, weil die Influencerin damit Reklame macht, in diesem Fall für Haar-Extensions. Wenn man auf ihr Mahnmal-Bild klickt, kommt man auf die Seiten der niederländischen Firma „luxuryforprincess“4  („Unsere Hair Clip-In Extensions sind 100 Prozent echtes Remy Human Hair“5). Und allein mit der Präsentation des Bildes hat die Influencerin daran verdient. Nun lässt sich Auschwitz nicht denken ohne die verbrecherische Verwertungsindustrie der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Nicht nur die Arbeitskraft der Häftlinge wurde verwertet, sondern alles, was man ihnen abnehmen konnte, auch die Haare. Wer jemals Auschwitz besucht hat, erinnert sich Zeit seines Lebens an den Raum, der mit den Haaren der Opfer gefüllt ist. Die Stelen in Berlin lassen dies aber vergessen, ihre Erinnerung ist so abstrakt wie die an Guernica auf dem Kunstwerk „Guernica“ von Picasso. Als eine andere Instagram-Userin die Studentin / Influencerin darauf aufmerksam machen, dass es nicht angemessen sei, sich so zu präsentieren, reagiert sie mit dem Hinweis, sie sei schließlich bosnischer Herkunft – was jedoch angesichts der Judenvernichtung in Bosnien-Herzegowina wenig aussagt.6 Dafür löst die Kritikerin dann selbst scharfe Reaktionen bei anderen aus: Wie sie darauf komme, das Verhalten einer Influencerin zu kritisieren? Jeder dürfe machen, was er wolle. Und da habe man niemandem reinzureden. Ethik, so zeigt sich, ist ein schwieriges Unterfangen.

 


Erinnerungskultur und Selfiekultur im Zeitalter des Digitalen

Die beiden gerade angeführten Beispiele brachten mich auf den Gedanken, zusammen mit jungen Menschen zu untersuchen, wie sich im Zeitalter des Digitalen die Kultur der Erinnerung und die Kultur des Selfies zueinander verhalten.
Dass Menschen auch noch vor den Erinnerungsstätten an die schrecklichsten Ereignisse Fotos machen, war schon früh ein Thema der kritischen Auseinandersetzung. Implizit kommt es in mittelalterlichen Texten und dann in der Literatur zur französischen Revolution vor, wenn das Volk sich an Hinrichtungen ergötzt. Und dann wurde es zu einem zentralen Thema der Erinnerung an die Schoah. In dem in der Mitte der 1950er-Jahre erschienenen Aufklärungs- und Dokumentationsfilm „Nacht und Nebel“7  berichtet der Schriftsteller Paul Celan davon, dass Menschen als Schaulustige zu den Konzentrationslagern fahren: „Ein Krematorium, das nimmt sich gelegentlich ganz nett aus – heute lassen Touristen sich davor fotografieren.“ Das hat bis in die Gegenwart zu einer Fülle an Literatur geführt.8  Insbesondere Aleida Assmann hat sich in dem 1999 erschienenen Band „Erinnerungsräume“ im Kapitel „Traumatische Orte“ damit auseinandergesetzt.9

Ehrlich gesagt will ich bei diesem Projekt aber auch selbst etwas lernen und mir aneignen: wie ich der Gefahr der stummen Sakralisierung der Erinnerung entgehen kann, die sich bei mir dann manifest zeigt, wenn andere mit Gedächtnisorten nach meiner subjektiven Wahrnehmung unangemessen umgehen. Warum bin ich empört, wenn Dritte eine andere Haltung zur geschichtlichen Erinnerung haben als ich? Und warum haben sie diese? Und ändert sich mein Verhalten, wenn es sich nicht nur um ahnungslose und bildsüchtige Touristen handelt, sondern zum Beispiel um Mitglieder der immer noch diskriminierten Gay-Community? Oder um jüdische Mitglieder der Gay-Community? Das interessiert mich wirklich! Wer das für merkwürdig hält, hat sich noch nie mit den weltweit geführten Debatten um das Berliner Mahnmal beschäftigt (oder von der entsprechenden Foto-Ausstellung im New Yorker jüdischen Museum 10 gehört). Schon 2008 hatte Harald Welzer davor gewarnt, die „Vermittlung historischen Wissens mit einer moralischen Gebrauchsanweisung zu versehen“.11 Es gibt, das musste ich lernen, eben auch entschiedene Verteidiger*innen der Erinnerungskultur durch Selfies. So meint Stephanie Benzaquen: „Wenn eine Person ein Selfie von sich in Auschwitz macht, bewahrt sie für sich diesen Moment und den Effekt der überwältigenden Erfahrung des Besuchs des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers. Man wird vermutlich wieder und wieder auf dieses Foto zurückkommen und sich sagen: „So habe ich mich gefühlt.” Außerdem wird das Selfie – sobald es gepostet wurde und sich an andere richtet – zu einem Weg, zu sagen: „Ich war dort.” Vor diesem Hintergrund haben soziale Medien eine zeugnishafte Dimension.“12

Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob das stimmt, aber was mich nun interessiert, ist: Wie sehen die jungen Menschen, denen ich begegne, die Erinnerungskultur mit Selfies, welches (Problem-)Bewusstsein haben sie von der Differenz der Lebenssituationen der erinnerten Orte zu ihren eigenen, und worin besteht für sie die Aufgabe von Erinnerungskultur? Und nehmen sie die Selfies überhaupt als Teil und Medium einer Erinnerungskultur wahr? Um diese Fragen zu klären, habe ich fünf Schritte der Annäherung an das Thema ausgewählt:

 


Schritt I: Was ist und wozu betreiben wir Erinnerungskultur?

Ich möchte zunächst damit beginnen zu erkunden, was überhaupt Erinnerungskultur ist und was es für mich bzw. was es für junge Menschen bedeutet. Am Anfang steht ein Text aus Yosef Yerushalmis Buch „Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis.“13 Ich wähle diesen Text (M 1), weil er für mich selbst im späten Studium einmal für das Verstehen der Bedeutung von Erinnerung wichtig geworden ist. Und ich glaube, dass auch die jungen Menschen heute ein Recht darauf haben zu erfahren, warum anderen und vor allem den Religionen Erinnerung ein zentrales Thema ist.

Es folgt die Erörterung eines Übersichtsblattes (M 2), das die verschiedenen Ausformulierungen des kollektiven Gedächtnisses (Maurice Halbwachs) bzw. des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses (Jan und Aleida Assmann) veranschaulicht. Auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung finden sich zudem mehrere Artikel von Aleida Assmann zur Kultur der Erinnerung, die für die Textlektüre genutzt werden können. Wichtig ist in diesem Schritt, dass gelernt wird, zwischen individuellem und kollektivem und dabei noch einmal zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zu unterscheiden. Man könnte ergänzend noch den Artikel „Erinnerungskultur“ aus der Wikipedia hinzuziehen, er ist ausreichend komplex, um im Unterricht eine Hilfestellung zu sein.14

 


Schritt II: Was treiben Influencer und wozu dient Instagram?

In den folgenden Schritten geht es dann um Phänomene, bei denen man als Unterrichtender sehr viel mehr lernen kann als die jungen Menschen, u.a. um die Influencer in einer Mediengesellschaft. Influencer in einen konventionellen Sinn hat es vermutlich zu allen Zeiten gegeben, im aktuellen Sinn sind sie aber ein sehr neues Phänomen. Und wenn ich auch selbst seit mehr als 20 Jahren im Internet tätig bin, muss ich mich hier mit neuen Entwicklungen vertraut machen. Wie misst man den Einfluss eines Influencers, welchen Marktwert hat er, was bedeutet es, wenn einem 70.000 Menschen auf Instagram folgen? Ist das schon viel, oder ist es wenig? Das ist viel, sagen meine Studierenden (weil sie selbst nur über wenige bis einige Hundert Follower verfügen); das ist noch zu wenig, sagt die Influencer Datenbank, weil es erst ab 100.000 Followern interessant und finanziell attraktiv wird.15

Und wie funktioniert eine Existenz, die die eigene, höchst künstlich erzeugte Lebens-Realität als Werbeplattform begreift? Kein Schritt ist dann mehr normal, jede Handlung wird daraufhin abgeschätzt, wie sie sich vermarkten lässt. Etwa fünf Millionen Konsumenten in Deutschland gelten als anfällig für derartige von Influencern gestaltete Werbung. Sie wollen besitzen, was ihre Vorbilder haben und aussehen wie diese. Um Influencer zu werden, braucht man keine Ausbildung, nur etwas Charisma, Kreativität und viel Ausdauer.16  Firmen dagegen brauchen in diesen Zeiten Persönlichkeit, unmittelbare Kommunikation, Authentizität. Und Influencer versprechen diese.

Wie funktioniert das Ganze? Am Anfang steht jemand, der über einen gewissen Zeitraum Beiträge zu einem bestimmten Thema kreativ mit Bildern auf Instagram gestaltet hat. Und er hat sich so eine große Zahl an Followern erworben. Das ist etwa für Modefirmen höchst interessant. Während Vogue Deutschland gerade einmal 257.000 Follower erreicht, hat eine angesagte Influencerin 1.900.000 Follower zu bieten. Die Modefirma multipliziert ihre Reichweite ohne großen Aufwand um das Siebenfache, wenn es ihr gelingt, dass es einen Post der Influencerin mit Kleidung der Firma gibt. Sie muss als Rollenmodel die Kleidung nur tragen und es muss erkenntlich sein (etwa durch Hashtags), um welche Firma es sich handelt. So ein Post der führenden deutschen Mode-Influencerin wäre dann über 7.000 US-Dollar, vielleicht auch 10.000 US-Dollar, wert. Das ist (geschätzt) ihre Media Value pro Post. Dazu muss sie vielleicht nach Mailand fliegen und sich vor der Kathedrale passabel drapieren oder nach Venedig und am Canale Grande flanieren, aber sie erreicht eben auch unmittelbar 1,9 Millionen an Mode interessierter Menschen durch Fashion & Travelling. Wenn sie also im Laufe der Zeit tausend derartiger Posts unterbringt, verdient sie sechs Millionen Dollar. Und von diesen Einkünften und diesem Leben träumen Millionen Jugendliche in Deutschland. Das einzige, was sie dazu scheinbar brauchen, ist eine Kamera, etwas Style-Bewusstsein und eine Plattform.

 


Schritt III: Instagram

Instagram ist (nach Youtube) die beliebteste Social Media Plattform, die es Influencern erlaubt, mit den Konsumenten Kontakt aufzunehmen. In Deutschland dominieren Fußballer die Instagram-Accounts, Toni Kroos als zurzeit erfolgreichster hat 19,3 Millionen Follower. Auf Platz drei findet man die Zwillinge Lisa und Lena als kommerzielle Influencer. Die nächste Marketing-Influencerin ist dann Bianca Heinicke, die schon auf Youtube (BibisBeautyPalace) entsprechend erfolgreich agiert. Sie liegt mit sechs Millionen Followern auf Platz 8. Anders ist die Liste, wenn man auf den Earned Media Value schaut: Hier dominieren Models mit nur eine Million Followern, aber sehr viel Einkommen: caro_e_, magic_fox oder auch pamela_rf. Sie sind Garanten für die permanente Konsumorientierung, den Lifestyle. Und sie brauchen stets neue Selfies vor interessanten Orten, um die knappe Ressource Aufmerksamkeit nutzen zu können. In diesem Schritt soll daher das grundsätzliche Phänomen von Instagram erschlossen werden – wie es funktioniert, was es so attraktiv macht und warum man damit Geld verdienen kann. Das wissen Jugendliche zwar im Groben, soll aber noch einmal vergegenwärtigt werden.

Instagram im Überblick (Daten Juni 2018): eine Milliarde Nutzer weltweit, 15 Millionen Nutzer in Deutschland, 500 Millionen täglich aktive Nutzer, Verweildauer bei Nutzern unter 25 Jahren: 32 Minuten, Verweildauer bei Nutzern über 25 Jahren: 24 Minuten. Bei Jugendlichen in Deutschland ist Instagram nach Erhebungen der JIM-Studie 2017 mit 57 Prozent regelmäßiger bzw. 44 Prozent täglicher Nutzung nach WhatsApp der zweitbeliebteste Kommunikationsdienst.17 Vorrangig folgen sie dabei regelmäßig Leuten, die sie persönlich kennen (82 Prozent), aber eben auch thematisch interessanten Leuten (43 Prozent), Stars und Prominenten (34 Prozent), Internet-Stars (25 Prozent) oder posten selbst (20 Prozent). Damit ist dieses Medium eines der wichtigsten (und folgenreichsten) sozialen Medien der Gegenwart.

 

Schritt IV: Selfie-Kultur

Die Selfie-Kultur ist ein junges Phänomen – wenn man an die konkrete technische Apparatur denkt. Jenseits der technischen Apparatur reicht die Selfie-Kultur freilich als gemaltes Selbstporträt zurück an den Anfang des 15. Jahrhunderts. Damals errangen die Künstler in Gestalt von Jan van Eyck das Privileg, „ganz normale Menschen“ porträtieren zu dürfen – was bis dahin nur den Privilegierten vorbehalten war. Auch in den Jahrhunderten danach bis spät ins 20. Jahrhundert war das Porträt wie das Selbstporträt an ökonomische Grenzen gebunden. Mit der Digitalkamera, dem Tablet und dem Smartphone wurde das Selbstporträt seriell. Die Kamera macht auf Verdacht gleich zehn Bilder auf einmal; eines wird schon gelungen sein. Das verändert das Verhältnis des Menschen zum Selbstporträt – zumal die Software selbst misslungene Bilder noch originell aussehen lässt. Das ist der Reiz von Instagram. Und deshalb gibt es für die digitalen Selfies bereits theologische (Selfies. Searching for the image of God in a digital age) und andere fachwissenschaftliche Bücher 18 und zahlreiche Abhandlungen in Zeitschriften. Ältere Menschen missverstehen Selfies (vermutlich wegen des Wortes) als narzisstische Gesten. Aber es sind auf Kommunikation angelegte Gesten, ohne den „Chor“ des gesellschaftlichen Umfeldes machten sie kaum Sinn. Das heißt, jemand, der ein Selfie vor oder auf einer Erinnerungsstätte macht, macht dies heute weniger für sich, als vielmehr und vor allem für seine Follower und den Rest der Welt.

 


Schritt V: Selfie-Kultur vor Erinnerungsstätten

Der fünfte zentrale Schritt geht schließlich der grassierenden Selfie-Kultur vor Gedenkstätten nach. Dazu kann man eine Google-Suche nach dem Hashtag #holocaustmemorial (105.000 Treffer)19 oder #holocaustmahnmal (11.000 Treffer) starten.20 Für jemanden wie mich, der mit der Welt der Selfies nicht vertraut ist, ist der erste Eindruck absolut verstörend. Weniger wegen der zum Teil sogar sehr ästhetischen, ja ästhetisierenden Bilder und der zahlreichen Hipster-Penner, die meinen, sich ausgerechnet im Mahnmal fotografieren lassen zu müssen, als vielmehr wegen der Hashtags, die die Instagramer ihren Bildern zuordnen, sowie der Kommentare, die ihre Follower absondern. Wenn jemand das Mahnmal fotografiert und als Hashtag setzt #whatawonderfulworld – was geht dann in seinem Hirn vor? Da hilft es auch nicht, dass es ein dänischer Account ist, der das schreibt. Oder wenn eine Österreicherin als Hashtag ergänzt #positivevibes???. Es macht einen sprachlos. Auch, dass jemand das dazu gehörige Bild kommentiert: Schau net so zwida (Schau nicht so griesgrämig). Ernsthaft? Fast schon anarchisch lustig ist das Hashtag #thingstoseebeforeyoudie zu einem anderen Selfie. Das ist alles nichts wirklich intentional Böses, aber die Gedankenlosigkeit und Banalität erschüttert mich doch. Und Instagram macht es leicht, diese gedankenlose Banalität des Bösen weltweit zu kommunizieren.

Das hat den jüdischen Satiriker Shahak Shapira dazu gebracht, im Internet das Projekt „Yolocaust“ zu starten.21 Das hatte einen Vorgänger in einem Projekt, das den Titel „Instacaust“ trug und Instagram als Träger der Botschaft stärker in den Vordergrund stellte.22 Yolocaust setzt sich zusammen aus YOLO, also dem populären Hashtag für „you only live once” und Caust für den Holocaust. Dort zeigte Shapira dann Selfies von jungen Menschen im Berliner Stelenfeld und montierte in einem zweiten Schritt die Realität der nationalsozialistischen Vernichtungslager in die Bilder ein. Das führte zu weltweiten Reaktionen. Nach nicht einmal einer Woche(!) beendete Shapira sein Projekt, weil sich alle Abgebildeten gemeldet und Reue gezeigt hatten. Gegenüber dem vorherigen Projekt Instacaust von Paula Gau hatte Shapira die Drastik der visuellen Argumente noch einmal gesteigert.
Aber es geht ja darum zu erforschen, warum das geschieht. Man könnte ja meinen, es seien vor allem Rechtsextreme, die sich so äußern. Oder nur Schüler*innen, die im Unterricht nicht aufgepasst haben. So ist es aber nicht. Und deshalb lohnt sich ein Projekt im Unterricht, in dem man einmal sorgfältig dokumentiert, wer sich wie und mit welchen Hashtags inszeniert.

Zunächst sollte man sich einigen, welche Bilder man herausgreift, in unserem Falle also vor allem Bilder von Menschen oder Menschengruppen, die sich vor oder im oder auf dem Stelenfeld fotografieren. Hier kommt das Motiv „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ zum Tragen. Der größte Teil der Bilder ist unkontrovers in dem Sinne, dass Menschen dokumentieren, dass sie an diesem Ort waren. Man sollte aber intensiv im Unterricht diskutieren, was diese „normalen“ Selfies bedeuten. Würde man sie auch machen, wenn das von den Stelen Symbolisierte auf den Bildern zu sehen wäre? Und warum nicht? Und warum fällt es uns in Berlin so leicht, ja, warum werden wir geradezu provoziert, dort Bilder zu machen? Hier macht es Sinn, auf die im Netz weiter kursierenden Bilder und Bildmontagen aus dem Projekt „Yolocaust“ zurückzugreifen.

Uns aber interessieren weniger die Guten im Töpfchen als vielmehr die Schlechten fürs Kröpfchen. Dann muss man Kriterien aufstellen, wo denn Grenzen für Bilder sein könnten. Hier ist die Seite „Selfies at serious places“ und der Artikel „Hashtags, die du an Holocaust-Gedenkstätten nicht verwenden solltest“ aus der Zeitschrift VICE hilfreich.23 Dann kann man beginnen zu sammeln und zu sortieren. Wir haben in unserem Projekt dazu eine PowerPoint-Präsentation erstellt, die zunächst nur das geschossene Foto selbst zeigt, um erst einmal der impliziten Bildsprache nachzugehen. Es ist ja ein Foto, das via Instagram weltweit kommuniziert und dies mittels der Sprache der Bilder tut. Es folgt dann eine Folie, auf der das Bild mit den zugehörigen Hashtags, dem Account-Namen und den ersten Kommentaren zu sehen ist. Ergänzend werden auf dieser Folie eine Flagge mit der Nationalität des Accounts und die Zahl der Follower eingeblendet. Die dritte Folie zeigt einen Screenshot der aktuellen Bilder des Accounts. Sofern es sich um einen Influencer-Account handelt, könnte man ergänzend Informationen aus der Influencer-Datenbank heranziehen.

Wer sich da zeigt, erfährt man, wenn man auf den Account des Instagramers geht. Da wird schnell klar, dass die Besucher des Berliner Mahnmals international sind. Keine Region der Welt, die hier nicht vertreten ist. Es ist also keinesfalls ein typisch deutsches Phänomen, sondern ein weltweites. Und es sind viele Traveller und Models darunter, also Menschen, die gezielt bedeutsame Orte aufsuchen und sich dort inszenieren. Und dabei machen sie offenkundig keinen Unterschied zwischen dem Brandenburger Tor und dem Stelenfeld. Im Gegenteil, das Stelenfeld ist für viele noch geeigneter, weil je nach Perspektive das Selfie wirklich nur einen Menschen zeigt.

Die Inszenierungsform, also das Wie der Inszenierung ist deshalb interessant, weil die Bezüge so vielfältig sind. Manche Werbung betreibende Influencer brauchen nur ein Bild des Mahnmals, weil es der Kontext ist, der ihren Marktwert steigert. Die Ikonizität des Mahnmals befördert die eigene Bedeutung. Andere werden erkennbar durch die ästhetische Inszenierung des Stelenfeldes herausgefordert. Andere machen die gleichen Turnübungen im Stelenfeld, die sie auch an jedem anderen Ort der Welt machen.

Und wiederum andere inszenieren die Kombination von Selfie, Werbung und Stelenfeld en Detail so, dass aber auch alles dem kommerziellen Zweck untergeordnet ist. Ein spanischer Instagramer mit mehr als 250.000 Followern sitzt auf den Stelen und zeigt seine Nike-Schuhe, sein Markenhemd und sein Haarstyling. Que culito – wie ein Kommentator zu Recht schreibt (aber vermutlich etwas anderes meint).

Die Frage ist: Geht es überhaupt um Erinnerungskultur oder gerät den Instagramern nur zufällig ein „schöner Ort“ vor die Kamera? Das Zufällige ist bei denen auszuschließen, die explizit Hashtags wie #holocaust oder #holocaustmahnmal zu ihren Posts hinzusetzen. Sie sind nicht aus Versehen da – zumal das Mahnmal ja nicht direkt an den populären Strecken liegt. Man geht dorthin, weil es das Mahnmal ist. Und dann findet man den Ort toll für Fotos. Andere gehen vielleicht dorthin, weil es sich schon herumgesprochen hat, dass dies ein perfekter Inszenierungsplatz ist („das Licht ist ideal für das Gesicht“ schrieb einer). Aber es ist das eine, sich vor den Stelen zu fotografieren und das andere, eine Location für Werbung daraus zu machen.

Mit welchen Hashtags die Bilder versehen werden, ist dann noch einmal besonders interessant. Was verbindet das Holocaustmahnmal mit Fitnessmotivation und Trizeps? Das müsste man einen 18-jährigen deutschen Bodybuilder doch fragen dürfen, der seinen 5.500 Followern die entsprechende Hashtagkombination vorführt. Da wird man gleich an Farid Bang und die unselige Zeile mit „Mein Körper ist definierter als Auschwitzinsassen“ erinnert.24 Aber solche Kombinationen sind gar nicht selten, manchmal steht statt #workout auch #vegan unter den Hashtags. Auch das ist frag-würdig.

Man kann zur Erkundung einfach die Hashtags möglichst vieler Instagram-Photos des Mahnmals kopieren und daraus eine Wordcloud (M 5) erstellen – MS-Word bietet dafür mit ‚Pro-Word-Cloud‘ ein eigenes Add-on. Das Ergebnis kann ausgedruckt werden und daraufhin befragt werden, was denn für Hashtags zu einem Erinnerungsmahnmal angemessen, noch ertragbar oder unerträglich ist und warum. Das sind erkenntnisproduktive Diskussionen: ist #tourist als Hashtag sinnvoll, weil man ja als Tourist da ist, oder ist das an einem Mahnmal ziemlich unangebracht? Und was ist mit #tourimodus? Leicht erkennbar sind Hashtags wie #fashion, #outfit, #wanderlust, #ootd (=outfit of the day), #style, #positivevibes, #adventure, #jetsetter, #werbung, #ad, #beautiful völlig daneben. Aber warum? Wem ist der Besucher in seiner Ethik verpflichtet?

Leider lässt es Instagram nicht zu, dass man Kombinationen von Hashtags abfragt.25 Deshalb ist es schwer festzustellen, wie viele Instagrammer gezielt das Holocaustmahnmal oder vergleichbare „Serious Places“ für Werbung bzw. Ideologie aufsuchen. Da es inzwischen über 100.000 Einträge zu #holocaustmemorial gibt, ist eine umfassende Recherche zu aufwendig. Es lässt sich nur beobachten, dass es auffällig viele Bilder gibt, die sich durch touristische oder schulische Besuche allein nicht erklären lassen.

Bekannt ist die Motivation bei einer Personengruppe, zu der es bereits ein Kunstprojekt gibt: Das sind die Grindr-User, von denen auffällig viele das Holocaust-Mahnmal für Selbstdarstellungen nutzen.26 Nach 2011 fiel einigen Grindr-Usern auf, dass das Motiv homosexueller Selbstdarstellung im Stelenfeld gehäuft auftrat, und sie begannen, diese Bilder zu sammeln.

Auf ihrem Blog grindr-remembers 27 präsentierten sie diese relativ neutral im Sinne einer beschreibenden Dokumentation. Eine Erklärung für die gehäuft auftretende Kombination dieser beiden Bezugspunkte (Judenvernichtung und Homosexualität) hatten sie nicht. Sie vermuteten gesprächsweise die Ursache darin, dass Berlin wegen seiner offenen Clubszene viele Homosexuelle anlocken würde und die Gay-Community von der Ästhetik des Stelenfeldes angezogen würde, die interessante Fotos ermögliche. Ein Verbot derartiger Nutzungen fanden sie unsinnig. Ein Problem in der Nutzung des Stelenfeldes für Beziehungsanbahnungen sahen sie auch nicht. Hier liegen offenkundig extrem unterschiedliche Wertungen vor. Nun ist Grindr anders als Instagram lokal und personal orientiert, das heißt, die weltweite Öffentlichkeit hat keinen Zugriff auf die Bilder. Aber auch dieses Phänomen bleibt erklärungs- und m.E. auch rechtfertigungsbedürftig.

 


Einsprüche

Es ist nicht so, als ob die Kombination von Selfie und Erinnerungskultur und auch von Werbung und Erinnerungskultur ohne Widerspruch bliebe. Tatsächlich erinnern ab und zu Kommentator*innen die Poster*innen daran, dass man respektvoll mit diesem Ort umgehen müsse. Diese Einsprüche, das liegt auch an der auf wenige Zeichen verkürzten Kommunikation auf Instagram, verlaufen aber entweder ins Leere oder werden harsch abgebügelt. Es kommt bei Instagram auf Bilder und nicht auf Argumente an. Will man gegen Instagram-Unsitten vorgehen oder sie wenigstens problematisieren und kritisieren, muss man – wie das Projekt Yolocaust zeigt – das Kommunikationsmedium wechseln. Es gibt zurzeit keine Instagram-eigene Ethik, nur eine merkwürdige Moral, die Nacktdarstellungen untersagt, aber sonst wenig. (Inzwischen reagiert Instagram zumindest auf bestimmte Szene-Kürzel, etwa auf den Versuch, das Hashtag #ana abzurufen, das für die Kommunikation der Magersüchtigen steht. Dann wird eine warnende Information eingeblendet.)

 


Fazit

Noch stehen wir am Anfang des Projekts. Es wird im Sommersemester 2019 im Rahmen einer Summerschool Media and Religion an der Evangelischen Fachhochschule Bochum weitergeführt. Den Grundansatz kann aber jeder Unterrichtende in der Oberstufe durchführen und selbst ausprobieren.
Zusammenfassend kann man sagen: Erst die Digitalisierung macht für das einzelne Subjekt eine Begegnung mit dem Mahnmal in Berlin möglich, die den Bereich des Privaten unmittelbar überschreitet und weltweit sichtbar wird. Der Mehrzahl derer, die Selfies im Stelenfeld machen, ist dies aber im Moment der Entstehung und Veröffentlichung des Bildes nicht klar. Sie machen zunächst einmal ein Selfie, einfach weil sie an jedem als bedeutungsvoll charakterisierten Ort, an dem sie sich befinden, ein derartiges Foto machen. So wie eine gewisse Zeit Blogs als öffentliche und zugleich private Tagebücher geführt wurden, so ist bei Instagram das private Fotoalbum, soweit man es nicht anders eingestellt hat, weltweit sichtbar. Und egal, was man macht, man bekommt in aller Regel ein positives Feedback derer, die zu den direkten Followern gehören. Neben den privaten Instagramern gibt es aber auch die anschwellende Zahl jener User*innen, die mit Instagram Geld machen wollen und dabei auch nicht vor fragwürdigen Nutzungen zurückschrecken. Es ist das eine, eine private Ethik für den Umgang mit den eigenen Selfies an bedeutungsvollen Orten zu entwickeln, das andere aber, an der notwendigen gesamtgesellschaftlichen Ethik des Umgangs mit unserer Erinnerung zu arbeiten. Denn dem Internet und seinem Gedächtnis entkommen wir nicht. Mit ihm verhält es sich so, wie es der Nachportier im Lied „Hotel California“ der Eagles am Ende formuliert:
Last thing I remember,
I was running for the door
I had to find the passage back to the place I was before
“Relax” said the night man,
“We are programmed to receive.
You can check out any time you like, but you can never leave!”

 


Anmerkungen:

  1. www.instagram.com/explore/locations/4538195/museo-de-la-paz-de-gernika.
  2. Während der Besetzung von Paris im Zweiten Weltkrieg soll Picasso auf die Frage eines verblüfften deutschen Offiziers, ob Picasso „das” gemacht habe, geantwortet haben: „Nein, das haben Sie gemacht.”
  3. www.instagram.com/explore/tags/holocaustmemo rial/?hl=de.
  4. https://luxuryforprincess.com.
  5. “Remy human hair is the highest grade of real, human hair that is a preferred choice for hair extensions, hairpieces and wigs because it achieves the most natural look.”
  6. https://de.wikipedia.org/wiki/Juden_in_Bosnien_und_Herzegowina.
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Nacht_und_Nebel_(Film).
  8. Eine Übersicht gibt Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 3. Aufl. Stuttgart / Weimar 2017.
  9. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003.
  10. www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/ 103779/jewish-museum-closet.
  11. Welzer, Harald: Für eine Modernisierung der Erinnerungs- und Gedenkkultur, in: Gedenkstättenrundbrief 162 (2011), 3-9.
  12. Benzaquen, Stephanie: Virtuelles Erinnern, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, www.bpb.de/dialog/202623/virtuelles-erinnern.
  13. Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988.
  14. https://de.wikipedia.org/wiki/Erinnerungskultur.
  15. https://influencerdb.com.
  16. Ein nettes Video zum Mythos der Influencers ist das von AlexiBexi INFLUENCA (feat. Bina Bianca), bei dem zugleich deutlich wird, dass die kritische Haltung zu den Influencern selbst wieder dem Marketing dient. www.youtube.com/watch?v=cbjjDPCRfZM.
  17. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2002-): JIM-Studie. Jugend, Information, (Multi-)Media: Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Baden-Baden: MPFS (Forschungsberichte / MPFS, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest). Hier der Bericht 2017, 35ff.
  18. Detweiler, Craig: Selfies. Searching for the image of God in a digital age. Grand Rapids, Michigan 2018; Wendt, Brook: The allure of the selfie. Instagram and the new self-portrait. Amsterdam 2014; Eckel, Julia / Ruchatz, Jens / Wirth, Sabine (Hg.): Exploring the Selfie. Historical, Theoretical, and Analytical Approaches to Digital Self-Photography. Cham 2018; Kuntsman, Adi: Selfie Citizenship. Cham 2017; Storr, Will: Selfie. How we became so self-obsessed and what it‘s doing to us. London 2018.
  19. www.instagram.com/explore/tags/holocaustmemorial.
  20. Ebd.
  21. https://yolocaust.de.
  22. https://denkmal-berlin.de/2015/machmal/instacaust.
  23. http://selfiesatseriousplaces.tumblr.com. Vgl. auch: https://www.vice.com/de/article/qbm4mv/25-hash tags-die-du-an-holocaust-gedenksttten-nicht-ver wenden-solltest.
  24. Mertin, Andreas: Gefährliche Konsensverschiebungen. Echolot – Oder: Etwas läuft falsch in unserer Republik. In: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, 20 (2018) 113. Online verfügbar unter www.theomag.de/113/am630.htm.
  25. Und auch die einschlägigen Drittprogramme, mit denen man das bisher konnte, scheinen nach einer Api-Änderung nicht mehr zu funktionieren.
  26. https://hyperallergic.com/62106/gays-grinder-the-holocaust-memorial-and-art-an-interview-with-marc-adelman.
  27. http://grindr-remembers.blogspot.com.