Berufung: Sprache finden – ins Gespräch kommen

Von Mathis Burfien

 

Ich liebe den Pfarrberuf. Und ich habe für meine Arbeit immer das Bemühen für wichtig erachtet, andere Menschen auf einen Weg zu bringen, der mit Gott zu tun hat und sie in ihrem Glauben sprachfähig macht. Es geht um eine eigene Sprachfähigkeit im Glauben, um dem Hoffen, Sorgen, Glauben, Träumen, Lieben eigene Worte zu geben.

Eine Sprachfähigkeit wird sich gleichzeitig Wege suchen, wo diese Sprache Gestalt und Orte finden kann – das muss nicht, aber das kann auch das Theologiestudium sein. Ich bin dankbar und freue mich, dass meine derzeitige Tätigkeit genau damit zu tun hat.

Kein Projekt kann das persönliche Gespräch vor Ort in den Gemeinden, in der Evangelischen Jugendarbeit ersetzen. Deswegen müssen wir alle in der Kirche, jeder und jede – bei leider auch allen Schwierigkeiten – uns begeistern lassen für eine Zärtlichkeit für den theologischen Nachwuchs und für die Werbung für kirchliche Berufe in ihrer ganzen Vielfalt überhaupt.

Der folgende geistliche Impuls kann und soll als Anregung dienen, mit Menschen über Glauben und Berufung, Möglichkeiten und Talente ins Gespräch zu kommen. Wenn dadurch Neugier auf das Theologiestudium geweckt wird, umso schöner. Wer mehr wissen will, kann gern mit mir Kontakt aufnehmen.1

 

Sehnsuchtsfragen

Ungefähr 300.000 Fragen stellt jeder Durchschnittsdeutsche in seinem Leben, sagen die Statistiker. 1,45 Jahre lang telefonieren wir im Schnitt – und davon hängen wir gefühlte 140 Tage in Warteschleifen. 750.000 Haare verliert jeder Deutsche im Laufe seines Lebens. Bei mir ging das ziemlich schnell. Elf Tage lang lacht der Deutsche im Durchschnitt – und ich würde hoffen, es wäre mehr. In einem Menschenleben weinen wir unglaubliche zwei Milliarden Tränen – und ich würde hoffen, es wären weniger …

Als Jesus einmal gefragt wurde, was denn eigentlich das Höchste sei, was das Wichtigste, die wichtigste Statistik in meinem Leben, da antwortet er: Nur dieses eine – ich wünsche dir, dass dein Blick voller Liebe ist – auf Gott, auf deinen Nächsten, auf dich selbst! (Mt 22,36-40).

300.000 Fragen stellt jeder Mensch im Durchschnitt in seinem Leben. Ich glaube, was wir vom Leben wollen und erwarten, hängt ganz stark von der Art der Fragen ab, die wir in unserem Leben stellen.

Meine wichtigste Frage (bitte hier eintragen):

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Vielleicht ist es der größte Irrtum zu meinen, die Frage meiner Berufung hinge von den Antworten ab, die ich zu geben vermag. Könnte doch sein, es sind zuerst unsere Fragen, die helfen, das Wichtigste in meinem Leben zu klären.

Welches sind deine Fragen? Oder anders: Was möchtest du, was deine Fragen sind? Sind sie groß oder klein? Fragen sie nach dem Wichtigsten? Wozu du gebraucht wirst? Geht es dabei um das, was du hast und haben willst oder um das, was du bist und träumst, zu sein? Das ist ein wichtiger Unterschied. Aber auch: Welche Antworten gibt es schon? Und welche Fragen warten auf eine Antwort von dir? Und: Was soll dein Leben damit zu tun haben?



Wer? Ich?

„Wer? Ich?“, fragt Mose (2. Mose 3,11), als er Gottes Stimme und dessen Auftrag aus dem brennenden Dornbusch hört, sein Volk aus der Knechtschaft ihn die Freiheit zu führen. Ich? Der Schafhirte? Der mit dem Sprachfehler?

Wer? Ich?, fragt Jeremia: „Ach, Herr! Siehe, ich weiß nicht zu reden und bin jung.“ (Jer 1,6). „Ich bin unreiner Lippen“, sagt Jesaja (Jes 6,5). Ein Sünder. Und Jona: „Ich niemals“, und läuft davon. Der wollte seiner Berufung entrinnen. Ein Wal, etwas Ungeheures, brachte ihn auf den richtigen Weg.

Was hat dich auf den Weg gebracht? Wie war deine Geschichte? Heldensagen werden ja zumeist erst später daraus. Wie bei Mose: Die Errettung des in einem Schilfkörbchen ausgesetzten zukünftigen Königs ist anderen Mythologien des Altertums entnommen (vgl. z. B. die Tontafel-Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal, 650 v. Chr., über Sargon von Akkad). Eine große Geschichte, meinte man, brauchte auch einen großen Anfang. Denn am Anfang stand ein Hirte in der Wüste. Ein Knecht des Schwiegervaters. Wer? Ich? Ausgerechnet …



Wen Gott beruft?

In den biblischen Erzählungen fällt auf, dass Gott die zu wählen scheint, die nach menschlichen Maßstäben längst nicht die Ersten gewesen wären, die man für diesen Auftrag gewählt hätte. Auch nicht die Zweiten oder Dritten. David zum Beispiel ist der kleine Hirtenjunge, der eigentlich nur seinen Brüdern Brot und geröstete Körner bringen soll (1. Sam 17). Gott erwählt nicht die starken, großen Brüder, nicht Eliab oder Abinadab oder Schamma – sondern David, den Schafhirten, den Kleinen, den Schwächling, und sagt: Genau der ist es.

Gott beruft nicht die Helden. „Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise, nicht viele Mächtige sind berufen, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt. Das Schwache.“ (1Kor 1,26-27) Es lässt sich doch auch in unserem Leben so viel aufzählen, was uns nur bedingt zum Superheldenstatus aufschwingt. Und jeder kennt auch seine Einwände: Nicht klug genug. Nicht schön genug. Ich bin doch nicht fromm genug. Oder: zu unsicher. Zu schuldig?

So schaut Gott uns nicht an. Er erkennt, was niemand sonst sieht. Gott schaut auf Menschen, nicht wie Menschen auf Menschen schauen, sondern wie Menschen auf Samen schauen. Er erkennt, was noch aus ihnen werden kann. Und es kann sein, gerade unsere Schwäche wird uns dafür qualifizieren, zu denen zu sprechen, die sind wie wir. Und unsere Schuld dafür, um die Bedeutung von Vergebung zu wissen. Gott schaut auf unser Potential. Sieht vielleicht eine Vision von unserem zukünftigen Leben. Und sieht einen Weg, der anders werden kann, als man selbst (oder andere für einen) möglicherweise schon Vorstellungen davon hatte.



Gott ruft aus dem Leben heraus

Gottes Ruf geschieht mitten im Alltag. Es ist ein Erkennen, dass mein alter Weg eine Korrektur braucht. Ein Verstehen. Moses Weg begann in der Wüste. Eine allegorische Topographie. Bei seiner Arbeit. Ein Feuer lodert. Er hört etwas. Eine Fatamorgana in mittäglicher Hitze? Eine Täuschung? Gilt das wirklich mir? Vermutlich doch kaum, denken wir, wenn wir an unser Leben denken. Oder auch: lieber nicht?

Oder der Prophet Elisa. Der ist gerade auf dem Feld und pflügt den Acker. Und was macht Elisa, als er seinen neuen Weg für sich erkennt? Er macht ein großes Feuer und brät die Ochsen, seine Arbeitstiere, sein Lebensunterhalt, und lädt die Familie zu einem Abschiedsessen ein. (1Kön 19,19-21) Warum? Weil etwas Neues in seinem Leben beginnt. Elisa möchte nicht die Möglichkeit haben, in sein altes Leben zurückzukehren.

„Kommt“, sagt Jesus zu den Fischern auf dem See, „ich brauche euch!“ Jetzt!



Wie Gott beruft

Berufung ist ein großes Wort. Es klingt nach Donnerhall und Engel des Herrn. Und dann warten wir und sind enttäuscht, dass beim nächsten Klingeln an der Tür der Bote doch nur wieder ein Paket für den Nachbarn abgegeben wird. Und dann ist es wieder still.

Das Hören ist der erste Sinn, den der Embryo ausbildet. Und er ist vermutlich der letzte, der stirbt. Bis ich sterbe, wird es Geräusche geben. Und Botschaften. Nirgends sonst im menschlichen Körper gibt es eine ähnliche Konzentration von Nervenzellen.

Als der Prophet Elia sich in eine Höhle am Berg Horeb begibt, um auf eine Gottesbegegnung zu warten, sieht er dort gewaltige Naturereignisse: Sturm, Erdbeben, Feuer. Aber er weiß, dass das nicht das Reden Gottes ist. Gott begegnet Elia in einem leisen Hauch. Ein „stilles, sanftes Sausen“. (1. Kön. 19,12) Eine stille, sanfte Berührung Gottes. Alles Wichtige braucht Stille …



Eine Einladung

Neutestamentliche Berufungsterminologie verwendet den Begriff: kalein, klesis. Übersetzt meint der Begriff klesis so viel wie Ruf, Berufung, aber auch Einladung. Vielleicht ist das der Weg, sich auch persönlich diesem schwierigen Begriff zu nähern. Im deutschen Wort „Berufung“ schwingt immer etwas fast Anmaßendes mit für den, der es für sich in Anspruch nimmt. Gottes Ruf aber klingt mehr wie das zärtliche „Maria!“, das der Auferstandene am Ostermorgen spricht (Joh 20,16). Gottes Ruf ist eine Einladung in ein neues Leben. Eine Einladung, die kann man annehmen, ich kann sie aber auch ausschlagen. Das ist wichtig zu wissen. Denn womöglich fragen wir ja auch: Wie ist das denn mit den Berufungen in der heutigen Zeit? Warum fühlen sich junge Menschen weniger berufen, Theologie zu studieren? Pastorin zu werden oder Religionslehrer? Wo ist die Lust an religiösen Fragestellungen?

Beruft Gott vielleicht weniger? Könnte ja sein. Wie eine Herausforderung an die Kirche des 21. Jahrhunderts? Folgen wir dem Begriff „Einladung“, ließe sich aber auch fragen: Sind die Bedingungen unserer Gesellschaft womöglich so, dass es leichter geworden ist, eine Einladung Gottes auszuschlagen? Entkirchlichung der Gesellschaft, Relevanzverlust, Kritik an den großen Institutionen = die üblichen Verdächtigen. Oder eine Gewalt durch vermeintliche Religion, die die Frage aufkommen lässt, ob es der Menschheit ohne besser ginge? Dazu Vorstellungen von gelingendem Leben, das über Amazon prime alles bestellen kann, was man braucht. Die Welt ist laut. Gottes Stimme ist leise.



Nicht ohne dich

Neulich hatten wir gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern überlegt. Wir haben gerätselt, gesponnen und fantasiert, ob Kirche morgen auch noch etwas zu sagen hätte. Und wir in ihr. Und wir fanden, in der Kirche von morgen müsste man zu den Leuten gehen und vor allem Fragen stellen. Man müsste sie fragen, wie es ihnen geht, was sie träumen und warum sie noch leben. In der Kirche von morgen können wir Glauben parat halten, für festen Boden in der schwankenden, jagenden Zeit. Und wer sich verloren vorkommt, dem soll einmal wieder Vertrauen nachwachsen!

Wir brauchen nicht viel, um an der Kirche von morgen zu bauen. Dasein vielleicht nur! Hinhören natürlich und rausgehen und tanzen. Wir brauchen Inspiration für die Entdeckungsreise der eigenen Berufung. Wir können nachfragen, unsere Fragen stellen und Menschen einladen, selbst Fragen zu stellen! Und dann gemeinsam hinhören.



Gottes wichtigste Fragen

Als Leander, erste Klasse, einmal gefragt wurde, was Liebe sei, da meinte er: „Liebe ist, wenn mich einer fragt, warum ich weine!“ Gott ist für mich einer, der nachfragt. Wir haben unsere 300.000 Fragen in unserem Menschenleben. Gottes Fragen sind wie diese: „Warum weinst du?“ Deswegen kommt er runter auf die Erde. Das will er wissen. Kniet sich nieder. Eine Liebe, die zum anderen will. Und versprochen bleibt: Kein Achselzucken mehr oder Wegschauen bei meinen oder deinen Tränen, ob geweint oder runtergeschluckt.

Es braucht Orte, wo einem das gesagt wird. Und es braucht Menschen, die ihr Bild von Gott mit anderen teilen. Es braucht uns in unseren unterschiedlichen Aufgaben, mit Stärken und vor allem Schwächen. Und so gelingt es uns vielleicht mit unseren großen und kleinen Fragen in die Antwort unseres Lebens hineinzuleben und Gott seinen Platz in unserem Leben finden zu lassen.

 

Anmerkungen

  1. Mathis Burfien, Pastor, Kontaktdaten unter www.theologie-studieren.de