Mit Gott rechnen - Deutung von Wirklichkeitszugängen als Kompetenz: Ein didaktischer Ansatz aus dem Religionsbuch SpurenLesen

von Gerhard Büttner

 

Die Formulierung „mit Gott rechnen” zeigt ihre heimliche Paradoxie nicht auf den ersten Blick. Doch beim genaueren Hinsehen wird klar, dass die Welt der Berechenbarkeit und des Kalküls normalerweise nicht die ist, in der wir Gott erwarten. Der Blick der Naturwissenschaft beobachtet die Welt nach dem Kriterium, diese möglichst so zu beschreiben, dass dies in mathematischen Formeln zum Ausdruck gebracht werden kann. Einstein soll gesagt haben „Gott würfelt nicht!“, um diese Weltsicht zu beschreiben, wobei der hier zitierte Gott eher ein Prinzip darstellt. Diese wissenschaftliche Sichtweise hat nun aber eine gleichsam vulgäre Entsprechung im kruden Materialismus und Positivismus des Alltagsdenkens. Gerade dort, wo die Mechanismen der Wissensentstehung nicht oder kaum verstanden werden, wird von einer technisch machbaren Welt ausgegangen, die im Prinzip kausal erklärt werden kann. Wenn ich krank bin, werden die Verursacher und die entsprechende Pille gesucht, die dagegen hilft. Eine Deutung über dieses technische Verständnis hinaus ist eher selten.

Nun ist diese Art des Denkens nur dann universal, wenn wir die Welt der Kinder nicht einbeziehen. Deren Denken ist eher mythisch und animistisch. Sie rechnen eher mit Intentionen von beteiligten Kräften und vermuten einen Sinn hinter den Dingen. Deshalb leuchten ihnen religiöse Interpretationen meist unmittelbar ein. In diesem Sinne sind sie dann auch willens, „mit Gott zu rechnen“ – in einer vielleicht animistischen, vielleicht auch metaphorischen Denkweise.

 

Das religionspädagogische Problem und dessen Lösungsversuche

Aus dem obigen Szenario ergeben sich religionspädagogische Probleme. Offensichtlich sind Grundschulkinder durchaus angetan von dem, was ihnen im Religionsunterricht begegnet. Ein Jesus, der Wunder tut, ein Gott, der in die Welt eingreift und sorgt, dass die Dinge wieder gut werden, ist ihrem Denken durchaus einsichtig. Wo ihnen kulturelle Artefakte wie die Urknalltheorie begegnen, gelingt es ihnen meist, diese in ihre Vorstellung z.B. von Schöpfung zu integrieren. Doch gegen Ende der Grundschulzeit und verstärkt danach ändert sich die Lage grundlegend. Jetzt wird das naturwissenschaftlich-technische positivistische Weltbild als Ausdruck einer „objektiven“ Weltsicht bestimmend und durch das schulische Wissen in den entsprechenden Fächern noch bestärkt. Einzelne Schüler/innen bewahren für Teilbereiche wie etwa die Frage der Entstehung des Kosmos noch religiös bestimmte Deutungsinseln, doch ansonsten können auch sie sich der naturwissenschaftlichen Deutung der Welt nicht verschließen.

Der hier beschriebene Prozess folgt den Regeln der Entwicklungspsychologie und ist auch für den religiösen Bereich gut belegt. So beschreibt etwa James Fowler das Denken im Grundschulalter als „mythisch-wörtlich“. Die spezifische Denkweise der Kinder erweist sich als höchst affin zu den Denkmustern der biblischen Tradition. Dies bricht mit dem Erreichen des abstrakten Denkvermögens nach der Grundschulzeit grundsätzlich ab. Jetzt spielt es für die Denkorientierung die entscheidende Rolle, sich in Übereinstimmungen mit den Menschen zu befinden, die im Moment wichtig sind. Für unsere Fragestellung bedeutet das, dass jetzt das als richtig gilt, was ein spezifischer Mainstream vertritt. Damit werden die technisch-naturwissenschaftlichen Deutungen, in welcher Gestalt auch immer, bestimmend. Zum Teil entwickeln die Schülerinnen und Schülermerkwürdige Koexistenzen zwischen den einzelnen Wissensbereichen, z.T. lehnen sie die früheren Vorstellungen strikt ab („Babykram“). All dies führt zu den häufig beobachteten und oft beschriebenen Phänomenen der Kritik und Ablehnung religiöser Vorstellungen in der Sekundarstufe.

Es ließe sich nach meiner Meinung gut belegen, dass ein Gutteil der religionspädagogischen Neuentwürfe sich daraus erklären lässt, dass diese auf ihre Weise versuchen, dem beschriebenen Problem Herr zu werden. Die radikalste Variante bestand in der Überlegung, im Grundschulalter nur sehr zurückhaltend die problematischen biblischen Geschichten anzubieten, um diese dann erst in einer historisch-kritisch durchleuchteten Version in der Sekundarstufe zu präsentieren. Andere Ansätze wie die Symboldidaktik versuchten dann bereits Grundschülerinnen und Grundschülern zu verdeutlichen, dass Worte über ihren Literalsinn hinaus etwas bedeuten können. Semiotisch orientierte Konzepte versuchen ebenfalls klar zu machen, dass Sinn und Bedeutung Zuschreibungen sind und versuchen damit die positivistische Weltsicht zu erschüttern. Performativer Religionsunterricht macht darauf aufmerksam, dass erst in religiöser Praxis den Begriffen wirklich Bedeutung zuwachsen kann. Betrachtet man diese Ansätze, dann kann man ihnen am besten dadurch gerecht werden, dass man sie in einer konstruktivistischen Perspektive betrachtet. Doch was heißt dies konkret?

 

Die konstruktivistische Perspektive

Konstruktivismus ist zunächst einmal ein Angriff auf das uns geläufige Denken im Sinne einer objektiven Wirklichkeit. Der Zugriff auf eine solche wird mehr oder weniger infrage gestellt. Die radikale Konsequenz lautet dann, dass auch die „objektiven“ Aussagen der Naturwissenschaft unter Vorbehalt gestellt werden. Es wird dadurch deutlich, dass auch in diesen Wissenschaften erhobene Daten dann erst in einem Konstruktionsprozess zu (vorläufigen) Gesetzeshypothesen zusammengefasst werden. Es wird sichtbar, dass die Forscherinnen und Forscher die passenden Algorithmen erst nachträglich den Daten zuordnen. Leider beginnt man in den einzelnen naturwissenschaftlichen Schulfächern erst allmählich, den Erkenntnisweg der einzelnen Inhalte ebenfalls transparent zu machen. Ist diese Voraussetzung gegeben, dann wird es möglich, in einer grundsätzlicheren Weise im Unterricht über die Leistungsfähigkeit einzelner Deutungen zu sprechen. Im Hinblick auf die Ergebnisse der Gehirnforschung kann ich dann unterscheiden zwischen bestimmten physiologischen und chemischen Korrelaten menschlichen Denkens und der individuellen Erfahrung von Entscheidungsfreiheit bzw. -unfreiheit. Im Hinblick auf physikalisch-astronomische Deutungen zum Beginn des Kosmos kann ich dann überlegen, wieweit ich in der Lage bin, die dort verhandelten Größen überhaupt gedanklich zu erfassen, was dies bedeutet für meine Fragen zum Anfang und Ende meiner und unserer Existenz. Alle Aussagen werden weniger „objektiv“ und damit verflüssigt. „Wahrheit“ wird dann nicht durch bloßes „Wissen“ erreichbar, sondern durch gemeinsame Konstruktion und durch performative Akte des Bekennens und Praktizierens. Als didaktisch hilfreich hat sich die von-Foerstersche Unterscheidung erwiesen zwischen entscheidbaren und prinzipiell nicht entscheidbaren Fragen. Erstere sind nach von Foerster bereits entschieden: Über mathematische Fragen, über die Grammatik und das Vokabular von Sprachen, über bestimmte Gesetzmäßigkeiten der Natur, über das Bibelkundewissen etc. brauche ich nicht zu diskutieren, sondern das muss gelernt werden, weil der gesellschaftliche Konsens hier Richtigkeiten etabliert hat, die die kulturelle Voraussetzung unseres Lebens bilden. Die prinzipiell nicht-entscheidbaren Fragen müssen hingegen immer individuell beantwortet werden. Dies betrifft naturgemäß die meisten Fragen des Religionsunterrichts, aber auch viele Themen des naturwissenschaftlichen Unterrichts, v. a. die ethischen Fragen.

 

Theologische Implikationen

Als Konsequenz dieser Überlegungen bedeutet das, dass Schülerinnen und Schüler lernen müssen, dass es möglich und notwendig ist, Dinge und Sachverhalte in mehrfacher Perspektive zu betrachten. Die religiöse Deutung kann sich nicht auf eine Sonderwelt reduzieren lassen. Es muss möglich sein, im Prinzip alles auch im Lichte Gottes zu interpretieren. Krankheit und Gesundheit, Glück und Leid, das Wetter und der Ausgang von Fußballspielen folgen zweifellos bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Diese lassen es dann zu, das Wie dieses Prozesses zu deuten. Doch gleichzeitig ist es möglich und für Christen und Christinnen sinnvoll, in diesen Geschehnissen das Handeln Gottes am Werk zu sehen. Manchmal fällt uns dies schwer und scheint geradezu paradox; dennoch wird man diese Vorstellung nicht aufgeben können, ist sie doch letztlich die Voraussetzung für die performativen Zugangsweisen wie Lob, Klage und Dank. Gibt man die Möglichkeit auf, Gott im Alltag unserer Welt am Werke zu sehen, dann ist man schnell bei einem deistischen Gottesbild, bei dem Gott nur noch eine Hintergrundfolie liefert und allenfalls manchmal als supranaturaler Notnagel erhofft wird. Meine Argumentation schließt sich an systemtheoretische Überlegungen im Luhmannschen Sinne an. Als dessen Konsequenz kommt es im Religionsunterricht darauf an, eine genuine Beobachterperspektive einzuüben: Sie beobachtet dieselbe Welt wie der Biologie- oder der Kunstunterricht, doch sie tut dies mit einer spezifischen Brille, der Leitunterscheidung Immanenz-Transzendenz. Indem sie dies tut, weiß sie um die anderen Beobachterperspektiven und respektiert diese auch, doch ihre eigene Leistung besteht darin, die Welt im Lichte Gottes zu betrachten, mit Gott zu rechnen.

 

Operationalisierungen

Gemeinsam mit den anderen Herausgeberinnen und Herausgebern des Religionsbuches „SpurenLesen“ (SL) haben sich nun vor allem Veit-Jakobus Dieterich und ich Gedanken gemacht, welche Konsequenzen die obigen Überlegungen für ein Curriculum und ein Schulbuch für die Sekundarstufe I haben sollten. Wir fanden dazu im baden-württembergischen Bildungsplan lediglich den Hinweis „Schülerinnen und Schüler lernen, sich letzten Dingen zu öffnen – sie entscheiden sich zwischen Aufklärung und Glaube oder eine Verbindung von beidem“. Dies wollten wir für den Unterricht im Fach Evangelische Religion so verstehen, dass wir altersgemäß und aufeinander aufbauend jeweils in einem einleitenden Kapitel ein Lernangebot bereitstellten, das eine spezifische Verstehenskompetenz fördert. Nun sind epistemologische Fragestellungen deshalb schwierig, weil sie immer die Irritation auslösen, dass das, was man gerade verstanden hat, eben noch nicht alles ist, sondern anderes möglich ist. Mit dieser Erfahrung muss der Umgang erst gelernt werden. Für den Religionsunterricht bedeutet das dann schon in der Grundschule, dass man sich mit einer Antwort nicht zufrieden geben, sondern immer weitere einfordern sollte. Gute Theologie stößt in den Grundfragen des Verständnisses immer auf mehrere, in der Regel sogar paradoxe Antworten: der zugewandte nahe und der abgewandte ferne Gott, der Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott etc. Das müssen Schülerinnen und Schüler auf Anhieb nicht verstehen. Doch sie sollten erfahren, dass sich die Lehrkraft mit einer Antwort, die nur einen Teilaspekt treffen kann, im Religionsunterricht nicht zufrieden geben kann.

 

Die Vorgehensweise in „SpurenLesen“

Im ersten Band für die Jahrgangsstufen 5 und 6 beginnen wir mit einer Art „Sehschule“. Dies verheißt die Überschrift mit dem Kinderspiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Hier geht es darum, dass die Welt etwa aus der Perspektive von Tieren ganz anders aussieht (SL 1,16/17). Eine Geschichte erzählt, wie ein Kind allmählich die Gestalt der Erde und ihre Lage zur Sonne verstehen lernt (SL 1, 18). Dies ist ein Anlass, darüber nachzudenken, wie die je­weiligen Schülerinnen und Schüler dies früher gedacht haben und welche Vorstellung sie heute haben. In der Erzählung von Klaus Mann und seinem Blinddarmdurchbruch wird dann explizit die Frage gestellt, wieweit dies ärztlicher Kunst gelang und ob und wie Gott dabei im Spiel war (SL2, 12). Diese Frage wird schließlich auf der Doppelseite M 1 weitergeführt (SL 1, 14/15).

Hier springt zunächst das Doppel-Bild von Klaus Hartmann ins Auge. Auf den ersten Blick denkt man, die beiden Bilder seien achsensymmetrisch. Doch zeigt die Schrift, dass dies nicht sein kann; auch Wetter, Wolkenstellung etc. stimmen nicht überein. Damit könnte das Bild einen Anlass bieten für ein Gespräch über Gleichheit und Unterschiede. Die beiden Texte nehmen dies nun explizit auf.

Der linke entstammt einem offiziellen Wetterbericht. Hier geht es um Tiefdruckausläufer, Temperaturen und Niederschläge. Der rechte Text aus einem bekannten Erntedanklied ordnet just diese Phänomene Gottes fürsorglichem Handeln zu. Der Prozess der Nahrungserzeugung bedarf demnach einer Kooperation zwischen göttlichem und menschlichen Handeln. Spätestens hier wird deutlich, dass eine naturwissenschaftliche und eine theologische Sicht, etwa auf das Wetter, nicht sinnvoll gegeneinander ausgespielt werden können. Dies ist genauso unsinnig, wie die eigene Herkunft aus der elterlichen Zeugung gegen die Vorstellung vom Geschenk des Lebens durch Gott zu stellen. Gerade diese Erfahrung, auf die übrigens auch Luther in der Schöpfungsthematik zurückgreift („Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt aller Kreatur…“), kann dann auch Ausgangspunkt für das Reden über den Beginn des Kosmos werden.

SpurenLesen 2 greift im Kapitel „Auf den zweiten Blick“ auf den Aspekt des genauen Hinsehens zurück, radikalisiert jetzt aber die Frage nach der Wirklichkeit. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit Computerwelten (SL 2, 16/17) lassen auch für die Jugendlichen die Fragen akut werden, in welchem Verhältnis denn diese künstlichen Welten zu unserer „Normalwelt“ stehen. Damit werden dann Gedankenspiele möglich: Vielleicht ist unsere Welt gar nicht real, und wir bilden es uns nur ein. Oder: Würde ich einer glücksproduzierenden Scheinwelt im Zweifelsfall den Vorzug gegenüber der Realwelt geben (SL 2, 18/19)? Auf dieser Basis lässt sich dann auch nochmal fragen, ob bzw. auf welche Weise Gott uns und unsere Welt leitet (SL 2, 20).

Es geht in diesem Kapitel aber auch darum, wie sich Wirklichkeit durch unsere Wirklichkeitsdefinition ändert. Ist es Theater oder geschieht es „in echt“? Der Text des Schriftstellers Maarten t’Hart (M 2) zeigt, dass damit zentrale Fragen christlicher Frömmigkeitspraxis tangiert werden (SL 2, 14/15).

Es geht dabei um die Frage, was beim Abendmahl passiert bzw. wie dies zu verstehen ist. Konkreter Anlass ist die Tatsache, dass beim Abendmahl Brot übriggeblieben ist. Was soll damit geschehen? Das Gespräch in der Familie des Küsters ergibt, dass es sich hier wohl nicht mehr um „normales“ Brot handelt, das man dann einfach essen könnte. Ist es „verseucht“, wie der Großvater in der Geschichte meint? Auf dieser pragmatischen Ebene werden Fragen von „heilig“ und „profan“ thematisch, aus der Erfahrungswelt der Beteiligten heraus. Selbstverständlich lässt sich die Diskussion theologisch weiterführen. Hier geht es aber zunächst einmal um die Einsicht, dass das Brot offenbar im materiellen Sinne immer noch dasselbe ist, dass es aber trotzdem jetzt nicht mehr der Welt der Lebensmittel, sondern der des Heiligen angehört, mit dem man sich nicht kontaminieren möchte. Ergänzt wird die Geschichte durch das Abbild einer Plastik des französischen Künstlers César, eine mannshohe vergoldete Plastik eines menschlichen Daumens. Damit wird eine Kunsttradition aufgenommen, die bekannte Gegenstände des Alltags dadurch zur „Kunst“ macht, dass sie diese in den Kontext von Gallerien und Museen transponiert. César verändert dazu die Größe und „adelt“ seinen Gegenstand durch einen goldfarbenen Überzug. Eigentlich passt ein solcher Daumen erst einmal eher in ein Anatomiemuseum als in eine Kunsthalle. Doch allein Orts- und Größenwechsel machen den Daumen zum Kunstobjekt. Es ist gerade der Wechsel, die Deplatziertheit, die den „Inhalt“ des Kunstwerkes ausmacht. Gerade so gibt es uns „zu denken“, bekommt allerdings auch seine Aura und seinen Preis im Kunstbetrieb. Mit beiden, mit dem Brot in der Kirche und mit dem Daumen im Museum, ist „etwas passiert“, das neue Wirklichkeit schafft.

Der dritte Band (noch im Manuskriptstadium) versucht deutlich zu machen, dass Bezeichnungen und Vorstellungen zunächst einmal eigenständig betrachtet werden können und erst in einem zweiten Schritt den Dingen zuzuordnen sind. Dies gilt für die Sprache aber auch für die Zahlenwelt und nicht zuletzt für unser Reden über Gott.

Der Maler und Architekt Karl Friedrich Schinkel hat sein Bild vom Elbtal durch einen schwarzen Ring begrenzt (M 3). Er erweckt dadurch den Eindruck eines Blickes durchs Fernrohr. Das Bild wird so als etwas Artifizielles gekennzeichnet. Die Illusion, das Bild wäre die Sache selbst, wird gebrochen. Damit wird titelgebend signalisiert: Wir brauchen Bilder und Modelle für unsere Vorstellung, aber sie sind niemals die Sache selbst. Dieser Gedanke wird fortgesetzt mit Ausschnitten aus Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“. Hier wird der zivilisatorische Akt der kartografischen Arbeit Alexander von Humboldts deutlich. Er schafft gewissermaßen eine „zweite Welt“, indem er z.B. mitten in der Vegetation die Äquatorlinie „einzeichnet“. In einer weiteren Doppelseite werden dann ein Ausschnitt aus dem babylonischen Schöpfungsmythos, eine Skizze zum Urknall und eine Schülermeinung zum Weltbeginn nebeneinandergestellt und gefragt, auf welchen Beobachtungen diese Aussagen gründen. Dies wird ergänzt durch die „protowissenschaftlichen“ Aussagen biblischer Weisheitstexte. Danach wird überlegt, wie bestimmte mathematische Phänomene – vom Phänomen des Unendlichen bis zu den Fibonaccizahlen – zur „Wirklichkeit“ in Beziehung stehen. Es schließen sich Überlegungen zur Zuordnung von Sprache zu Wirklichkeit an: Magrittes Bild der Abbildung einer Pfeife mit der Unterschrift „Das ist keine Pfeife“ und Bichsels Text von dem Mann, der die Dinge umbenennt. Schließlich wird ein Bericht über eine Kontroverse Luthers mit den Schwärmern über das Recht religiöser Bilder vorgestellt, verbunden mit Gerhard Richters neuem, umstrittenen gegenstandslosen Kirchenfenster im Kölner Dom.

 

Fazit

Es geht uns in diesem Lehrgang darum, eine kritische Haltung gegenüber vorschnellen Aussagen zu fördern. Das heißt zu lernen, genauer, in der Regel mehrmals, hinzuschauen. Dabei soll deutlich werden, dass die positivistisch-materialistische Weltanschauung, gerade in ihrer Alltagsversion, häufig recht dogmatisch daherkommt. Hier ist eine skeptische Perspektive etwa im Sinne Poppers hilfreich. Dessen „kritischer Rationalismus“ ging gerade im Bereich der Naturwissenschaft von Hypothesen und Falsifikationsregeln aus und äußerte Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit einer „Verifikation“.

Die biblisch-christliche Weltsicht ist, nehmen wir die Pluralität der biblischen Aussagen ernst, zwangsläufig in ihren Detailaussagen eher antidogmatisch. In der Linie Barths kann eine „negative Theologie“ sehr vorsichtig sein im Hinblick auf Aussagen etwa über das „Wesen“ Gottes. Gerade dadurch ergibt sich immer wieder die Möglichkeit und Notwendigkeit, Gott mit meinem konkreten Leben und Erleben in Verbindung zu bringen. Dies lässt sich dann nicht „beweisen“, nur „bezeugen“. Das muss kein individueller Akt bleiben. Im gemeinsamen Klagen, Loben und Danken bezeugen wir einander und gegenüber den anderen, dass die Zuordnung unseres Tun und Ergehens auf Gott hin, für uns „Sinn“ ergibt. Das ist kein irrationaler Akt, sondern lässt sich argumentativ vermitteln. Dies gilt freilich nicht für jeden. Wer bestimmte Axiome nicht teilen kann oder will, für den bleibt dann auch das argumentative Reden nur zum Teil nachvollziehbar. Im schulischen Kontext sollte freilich die Stimmigkeit von Argumentationen durchaus diskutierbar sein. Für christliche Theologie ist der Anselmsche Anspruch, dass der Glaube nach der vernünftigen Durchdringung strebe, unaufgebbar. In diesem Sinne „rechnen“ wir dann auch mit Gott.


M 1

Am Vormittag schien noch die Sonne

Am Vormittag schien verbreitet noch die Sonne.
Die Temperatur kletterte auf vorfrühlingshafte 12 bis 15 Grad Celsius.
Im Tagesverlauf brachte der Ausläufer eines Nordmeertiefs viele Wolken.
Nachmittags setzte kräftiger Regen ein, der erst in den späten Abendstunden nachließ.
In weiten Teilen des Landes wurden mehr als 20 mm (l/m2) Niederschlag gemessen.
Nachts klarte der Himmel auf, die Temperatur sank bis zum Morgen auf Werte zwischen
5 und 2 Grad Celsius.
Dabei bildete sich vielerorts mäßiger bis starker Tau.

Deutscher Wetterdienst, Wetterstation Vielbrunn im Odenwald

Er sendet Tau und Regen

Klaus Hartmann, Lotto Lotto, 2001

Er sendet Tau und Regen und Sonn- und Mondenschein,
er wickelt seinen Segen gar zart und künstlich ein
und bringt ihn dann behände in unser Feld und Brot:
es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.
Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt, und hofft auf ihn.

Matthias Claudius


M 2

Das Abendmahlbrot

Adriaan Vroklages Eltern sind Mesnerin und Mesner in einer reformierten Kirche im niederländischen Ort Maassluis (bei Rotterdam). Der junge Adriaan besucht am Sonntagmorgen den Gottesdienst in einer anderen Kirche, um dort während des Gottesdienstes mit seinem Freund Anton eine Blindpartie Schach spielen zu können. Atemlos kommt er daheim an, er sorgt sich, zu spät zum Essen zu kommen.

Zu Hause saß man noch beim Kaffee, und meine Mutter sagte zu meinem Großvater: »Es ist fürchterlich viel Abendmahlbrot übriggeblieben.«
»Kein Wunder«, erwiderte er, »eine ganze Menge Gemeindemitglieder haben heute den Gottesdienst von Makenschijn besucht.«
»Es war gerammelt voll«, keuchte ich.
»Ach, du bist da gewesen?« fragte er. »Und, wie war’s?«
»Ich habe drei Partien gegen Anton verloren«, sagte ich.
Mein Großvater sagte: »Tja, der Junge ist ein Naturtalent, er wird es noch weit bringen.«
»Es ist furchtbar viel Brot übriggeblieben«, wiederholte meine Mutter.
»Ja, und?« meinte mein Großvater.
»Verstehst du denn nicht«, sagte sie, »was soll ich denn mit all dem Brot machen?«

 »Aufessen«, erwiderte mein Großvater.
»Bah, nein«, sagte sie, »es hat bereits auf dem Tisch gestanden, der Pfarrer hat von dem Brot gesagt, dass es die Gemeinschaft mit dem Leib Christi ist, nein, das kann man dann nicht mehr essen, es ist …«
»Beschmutzt?« fragte mein Großvater.
»Nein, nein«, sagte sie, »nein, das nicht, ich suche das richtige Wort, es ist, es ist …«
»Verseucht?« fragte mein Großvater.
»So in etwa könnte man sagen, ja«, erwiderte meine Mutter.
»Früher hattet ihr doch bestimmt auch schon mal Brot übrig?« fragte mein Großvater.
»Ja, aber nie so viel, immer nur eine ganz kleine Menge.«
»Und was soll ich jetzt mit all dem Brot machen?« hörte meine Mutter nicht auf zu klagen.

[…]

César, Le grand pouce, 1968

»Früher hast du es doch in einen Karton getan, und dann kam Schelleboom vorbei und holte es ab.«
»Stimmt, aber der verdient sein Geld nicht mehr mit dem Abholen von Küchenabfällen. Aber was nun? Man kann derartiges Brot doch nicht einfach in den Müll werfen, oder?«
»Warum denn nicht?«
»Aber das ist doch Abendmahlbrot, es wurden Gebete darüber gesprochen. Warum steht nirgendwo in der Bibel, was man mit solchem Brot tun muss? Was all diese normalen, praktischen Dinge angeht, da hilft einem die Bibel nicht weiter. Da steht auch nicht drin, wie man einen verstopften Abfluss wieder freibekommt. Im täglichen Leben hilft einem die Bibel keinen Schritt weiter. Den Wein kann man einfach bis zum nächsten Mal aufbewahren, aber das Brot … das macht mich noch wahnsinnig.«

Um zwölf Uhr stand mein Großvater vor der Schule und wartete auf mich. Es war sonnig, aber kalt, er hatte einen großen, roten Schal um und trug eine Strickmütze. Als ich aus dem Gebäude kam, sagte er: »Es hat heute nacht Stein und Bein gefroren. Eine gute Gelegenheit, deine Mutter von dem Brot zu befreien, denn sie weiß nicht, was sie damit tun soll.«
»Was willst du denn damit machen?«
»Wir beide schaffen es zusammen fort«, sagte er, »wir gehen ins Vlietland und verfüttern es an die Wasservögel.« […]
»Für uns habe ich auch etwas Brot mitgenommen«, sagte mein Großvater, »ehrliches Roggenbrot mit viel Butter drauf und dicken Scheiben Schinken dazwischen. Nur zu gern würde ich von dem Abendmahlbrot essen.«
»Warum?« wollte ich wissen.
»Keine Ahnung«, sagte er, »irgendwie ist mir doch so, als sei etwas damit passiert.«

Maarten ’t Hart

 

M 3

Du sollst Dir (k)ein Bildnis machen


Karl Friedrich Schinkel, Ansicht von Dresden

Ist dieses Meer jeden Tag so schön?
Sieht der Himmel immer so aus?
Sind diese Möbel, dieses Fenster
Immer so?
Nein,
Ich schwöre, es ist nicht immer so.
Es gibt da irgendeinen Trick bei der ganzen Sache.

Orhan Veli Kanık

 

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2009

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