Der Religionsunterricht im säkularen Raum der öffentlichen Schule - Eine fiktive Rede für einen fiktiven Kirchentag als Examensklausur

von Margarete Luck 

 

Als ich vor geraumer Zeit von der Kirchentagsleitung für das nun folgende einleitende Referat angefragt wurde, sagte ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu. Mit lachendem, weil mir wieder einmal Gelegenheit geboten wurde, über meinen Beruf als evangelische Religionslehrerin gründlicher nachzudenken, als ich das in der Vorbereitung auf die zahlreichen Schulstunden tue, und weil ich das jetzt mit der Rückfrage nach meinem evangelischen Christsein verbinden kann. Solche grundlegenden Gedanken gehen im Schulalltag leider oft unter.

Das weinende Auge – nun ja, was soll ich Ihnen erzählen von Zeitnot, Stress und Arbeitspflichten; Sie kennen das alles selbst. Es fällt tatsächlich schwer, dabei Grundlagen aufzuarbeiten. Ob es mir gelungen ist, werden Sie im Folgenden feststellen können.

Dem Programm entnahm ich, dass heute morgen in Workshops und Arbeitsgruppen Modelle zum Thema "Menschliche Schule in der Leistungsgesellschaft" erarbeitet wurden. Ich erspare mir deshalb eine einleitende Passage zum Thema "Wie Schule ist und wie sie sein sollte...". Ein paar Gedanken dazu werden anklingen, wenn ich den Kernbegriff erläutere, den ich meinem Unterricht zugrunde lege. Ich steige gleich mit der Frage ein, die allerorten, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Debatte um die Einführung des Unterrichtsfachs LER in Brandenburg geführt wird: Warum gibt es Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und warum sollte es ihn weiterhin geben?

 

"Ist das alles ?"

Die Antworten, die Sie einschlägigen Artikeln in Fachzeitschriften, der Tagespresse oder den Äußerungen von PolitikerInnen oder sog."kirchlichen Würdenträgern" entnehmen können, sind vielfältig. Der Religionsunterricht vermittelt Wissen über die für die westeuropäische, also unsere Kultur so wichtige Einflussgröße "Christentum". Das ist richtig. Aber ist das alles?

Der Religionsunterricht leistet einen wichtigen Beitrag bei der Vermittlung ethischer Grundwerte und verankert diese in religiöser Hinsicht. Das ist ebenso richtig, aber meine Frage lautet auch hier: Ist das alles?

Der Religionsunterricht gibt Hilfestellungen für den in unserer Zeit dringend notwendigen interkulturellen Dialog. Recht haben die, die das behaupten, und doch: Ist das alles?

Der Religionsunterricht verhilft Schülerinnen und Schülern zu einer kritischen Distanz im Blick auf religiösen Fundamentalismus. Das stimmt. Aber ist das alles?

Die Liste der Argumente ließe sich erweitern, und doch treffen diese oder ähnliche Antworten nicht den Kern der Problematik. Die Ansprüche, die ich in diesen Aussagen aufgelistet habe, erhebt ein LER-Lehrer für seinen Unterricht ebenso. Würde ein Religionsunterricht nur dieses leisten, könnte man ihn tatsächlich durch ein wie auch immer geartetes Fach zur Religionskunde ersetzen.

 

Die christliche Religion, evangelisch auf den Punkt gebracht

Ich gehe von der Frage aus: "Was findet in der Schule statt?" und antworte: Schule macht in je spezifischen Unterrichtsfächern ein Stück Welt für die Schülerlnnen erfahrbar und hilft ihnen, damit umzugehen. Auf den Religionsunterricht übertragen heißt das: Der Religionsunterricht macht Religion erfahrbar und hilft mit ihr umzugehen. Die einfach anmutende Antwort ist alles, was ich Ihnen auf die Frage nach dem Warum anbieten kann. Sie wirkt deshalb so unvollständig, weil sich nun natürlich die Frage nach dem Wie automatisch anschließt.

Ich werde im Folgenden versuchen, diese Frage aufzudröseln, möchte aber vorher noch auf meinen Standpunkt, meine Perspektive verweisen. Da ich evangelische Religionslehrerin bin, gebe ich Ihnen Auskunft über das Unterrichten von evangelischer Religion. Katholische oder auch jüdische und moslemische Kollegen werden diese Frage für sich anders und auf je spezifische Weise beantworten; Auskünfte darüber vermag ich nicht zu geben.

Und noch ein weiterer Hinweis: lch gebe eine Antwort auf die Frage nach dem Wie aus einer christlichen, nicht aus einer (landes-)kirchlichen Perspektive, einerseits um diesem Kirchentagsforum gerecht zu werden, andererseits weil ich glaube, dass die evangelisch-christliche Religion, die im Religionsunterricht der Schule erfahrbar wird, dort anders erlebt wird als in den Formen, in denen landeskirchliche Gemeinden ihr Christentum pflegen.

Wie also ist die christliche, evangelische Religion im Raum der Schule lernbar / erfahrbar? Die christliche Religion evangelisch auf den Punkt gebracht, heißt: Rechtfertigung des Gottlosen auf Grund der Verheißung, die Jesus Christus für uns darstellt. Ich versuche, diese theologische Grundannahme, die ich Martin Luther und Paulus entnehme, in ein für mich verständliches Deutsch zu übertragen und formuliere: Evangelisch besteht der Grundgedanke der christlichen Religion darin, dass ich mein Leben, meine Persönlichkeit, mich selbst bejahen kann und darf. Ich bin durch Gott schon vorgängig bejaht worden, völlig ungeachtet der Rückfrage, ob ich mich dieser grundsätzlichen Annahme durch Gott würdig erwiesen habe oder erweisen werde. (Ob man das überhaupt kann, wird auf einem anderen Blatt gefragt und soll jetzt nicht diskutiert werden.) Ein gelebtes evangelisches Christentum besteht darin, dass ich mit dieser Zusage Gottes in meinem Leben ernsthaft rechne, sie meinem Leben als Struktur unterlege, also mein Welt- und Gottesverständnis sich auf diese Zusage hin entwickeln lasse.

 

Christliche Religion – erfahrbar in "kultischen"Akten

Wie kann dieser grundlegende Vorgang evangelisch-christlicher Religion, also Rechtfertigung, nun erfahrbar werden? Er vollzieht sich im für die evangelisch-christliche Religion spezifischen Kult. Kult ist ein Wort, das einige von Ihnen vielleicht in einer anderen Zeit verorten, in einer archaischen Epoche, in der kultische Handlungen an Opferaltären zum Proprium der jeweiligen Religion gehörten. Das Wort Kult hat tatsächlich etwas Archaisches an sich. Es lässt das Heilige hinter dem Profanen vermuten, im Kult wird die Schwelle zum Heiligen überschritten. Kult, wenn er heute praktiziert wird, zeichnet sich genau dadurch aus: er besteht aus rituellen Handlungen, die religiöse Grundwahrheiten symbolisch verdichten und in der Ausübung der Handlung den Teilnehmenden ein Stück dieser Heiligkeit, die im Kult aufleuchtet, erfahren lassen.

Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass Kult kein Spezifikum evangelisch-christlicher Religion ist. Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte für einen interkonfessionellen oder auch interreligiösen Dialog. Katholische Religion wird im katholischen Kult erfahrbar, jüdische im jüdischen. Um in einen interkulturellen Dialog einzutreten, muss ich mich den jeweiligen Kulten ausgesetzt haben, sie in einzelnen Handlungen ausprobiert haben, dann kann ich dialogfähig werden und auch "darüber" reden.

Wo wird nun der Kult evangelisch-christlicher Religion, also wo werden ihre spezifischen rituellen Handlungen praktiziert? Natürlich, werden Sie sagen, im Gottesdienst. Das stimmt wohl. Nur scheint es angesichts der Besucherzahlen in den sonntäglichen Gottesdiensten so zu sein, dass der dort praktizierte Kult für viele evangelische Christen keine anziehende Wirkung mehr hat, sei es weil sie ihn unverständlich finden, sei es weil ihre lebenspraktischen Probleme dort nicht vorkommen oder was auch immer. Der Kult des kirchlichen Gottesdienstes scheint den meisten Menschen fremd geworden zu sein.

Kult ist aber auch anders erfahrbar: ein Abendgebet, gesprochen an einem Kinderbett, ist Kult. Das Singen eines Chorals in einem Chor kann Kult sein. Ein Bibeltext, der von einer Person in der für sie stimmigen Weise dargestellt, gelesen oder gesungen wird, ist Kult usw.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: ich plädiere nicht für die Auslagerung des Kultes aus dem kirchlichen Gottesdienst in symbolisch-rituelle Handlungen von Einzelpersonen. Die Kirche als Institution hat die verantwortungsvolle Aufgabe, u.a. Kult in gottesdienstlichen Handlungen für die Kirchenbesucher erfahrbar zu machen und dadurch christliche Religion weiterzugeben. Meiner Meinung nach ist diese Aufgabe von der Kirche in den letzten Jahrzehnten gar zu nebensächlich behandelt worden. Aber die Weitergabe christlicher Religion kann sich für uns als Christinnen ind Christen nicht nur auf den kirchlichen Raum beschränken. Wir können Religion über Ausübung des Kults, d.h. durch Ausprobieren von rituellen Handlungen, auch im außerkirchlichen Raum erfahrbar machen. Beispielsweise im schulischen Bereich.

Bevor die Unruhe jetzt unter Ihnen zu groß wird, weil Sie vielleicht fürchten, ich wolle den Religionsunterricht, etwa als "Kirche in der Schule" in missionarischem Eifer zu einer Verkirchlichung der Schüler und Schülerinnen missbrauchen, will ich Ihnen jetzt vorwegnehmend versichern, dass ich auf diesen Punkt noch eigens zurückkommen werde...

Religion in der Schule lernen, also sie zu erfahren, mit ihr verantwortlich umzugehen und sie zu reflektieren, kann also nicht bedeuten, lediglich Wissen über sie anzusammeln und dieses Wissen zu reproduzieren. Religion lernen heißt, sich probeweise auf einen Kultakt der evangelisch-christlichen Religion einzulassen, dann auch wieder aus ihm auszusteigen und zu reflektieren, was die Ausführung einer symbolischen Handlung für mich bedeutet hat, wo Grenzen waren, was nicht verstanden wurde, was ich für mich ablehnen will ...

Nun ist Kult kein Katalog von vorgegebenen Handlungen, sondern er wird ständig neu entwickelt, von jeder Person, die die Handlungen ausführt, auf individuelle Weise. Die Person bringt den Kult zu ihrer je spezifischen Gestalt, sie beteiligt ihre Persönlichkeit, ihr "Ich" an der Ausformung des Kultes, an der Gestaltwerdung der Religion in der jeweiligen Gegenwart.

"Kult im Unterricht", wenn ich das in provozierender Weise so nennen darf, ist also kein reproduktives Geschehen. Es ist ein kreativer Akt: ich forme den Kult für mich anhand einer Vorlage, z.B. eines Bibeltextes, so dass ich mich darin wiederfinde und die Vorlage ebenso ihre Eigenheiten behält. Das kreative Potential, das an dieser Stelle von der Gestaltpädagogik für den Religionsunterricht konstitutiv wird, trägt der Individualität meiner Schülerinnen und Schüler Rechnung, aber auch jeder einzelnen Christin und jedes Christen.

 

Und die Unterrichtspraxis ?

Was heißt das nun praktisch? Ich nehme Sie jetzt mit in eine Unterrichtsstunde in der Schule. Es ist eine Doppelstunde, um die ich hartnäckig gekämpft habe. Es ist keine alltägliche Stunde, aber sie stellt das Zentrum meines Unterrichts dar, von dem alle andere Arbeit ausgeht. Ihr Thema ist "Auferstehung"; es hat in der Begegnung des Auferstandenen mit Maria Magdalena, Joh 20, seine Textgrundlage. Sie kennen diese Erzählung. Die trauernde Maria erkundigt sich bei dem Gärtner nach dem Leichnam ihres Herrn, den sie gestohlen glaubt. In ihrer Verzweiflung weint sie, bis ihr Gegenüber sie mit ihrem Vornamen anredet. Nun erkennt sie in ihm Jesus, den Auferstandenen.

Nehmen wir an, die Klasse habe den Text in Zweiergruppen erarbeitet, je zwei Schülerinnen und Schüler lassen ihn auf sich wirken. Sie gehen dem nach, was es heißt: zu trauern, zu suchen, mit dem Vornamen angesprochen zu werden, einen Menschen plötzlich wieder zu erkennen. Die Aufgabe, die gestellt worden ist, heißt etwa: "Stellt den Text in einer für euch stimmigen Weise schauspielerisch, sprachlich, pantomimisch dar!" Möglicherweise wird von der einen Gruppe ein kleiner Einakter mit den Sprechszenen, die der Text vorgibt, entwickelt. Vielleicht beschränken sich die SchülerInnen auf die Anrede "Maria", in der für Maria Magdalena die Auferstehung erfahrbar wird. Jede Zweiergruppe wird ihre Art finden, den Text darzustellen.

Nun wird das Ergebnis vor der Klasse vorgeführt: Darstellung der spezifischen Gestalt, in der sich für diese Kleingruppe eine Auferstehungsgeschichte ausgeformt hat, Kult als Vollzug einer rituellen Handlung (hier: der Darstellung eines biblischen Textes mit dem eigenen Körper) in einer symbolischen Verdichtung. An diese "Inszenierungen" im Unterricht schließt sich das Gespräch an: was haben wir wahrgenommen? Was haben wir gesehen? – in möglichst genauer Beschreibung dessen, was stattgefunden hat. Vielleicht werden die Symbole aufgeschlüsselt. Die Darstellenden fragen sich, wie es ihnen ergangen ist und ob sie sich in der Darstellung wiedergefunden haben. Die Reflexionsphase ist in doppelter Hinsicht wichtig: sie ermöglicht die Bezugnahme auf den Unterrichtsgegenstand ("Auferstehung") und auf das Schülersubjekt (War ich dabei? War mir das zu viel?).

Indem ich mich in der Darstellung des Textes in die Wirklichkeit der Maria hinein nehmen lasse, erfahre ich, was "Auferstehung" für mich bedeuten kann: Angesprochen werden, wahrgenommen werden, sehen, erkennen, umwenden, letztlich Verheißung und Zusage. Für die Dauer des "Kultaktes", des "Spiels", habe ich diese Sichtweise meiner Haltung unterlegt, sie zur Struktur für die Darstellung werden lassen. Ich habe christliche Religion ausprobiert.

Soviel zur Unterrichtspraxis. Manches klingt vielleicht unverständlich, aber das haben Vorträge über die Praxis so an sich. Sie können nur mangelhaft beschreiben, was beim Ausprobieren tatsächlich erfahren werden kann. Da macht die Religion keine Ausnahme. Auch sie wird nur in der Praxis, im Handeln, im Kult erfahrbar.

 

Ausstiege

Abschließen möchte ich mit einem Vorgriff auf die anschließende Diskussion, und zwar im Hinblick auf einen Einwand, den ich allzu oft zu hören bekomme. Der von mir vertretene Entwurf von Religionsunterricht sei in der Struktur missionarisch angelegt und verstoße gegen das "Überwältigungsverbot" im schulischen Religionsunterricht. Ich will auf die Ausstiegsmöglichkeiten verweisen, die ich auch gegenüber Schülerinnen und Schülern immer wieder betone. Erstens ist mein Unterricht wie jeder andere Religionsunterricht auch als Wahlpflichtfach abwählbar und SchülerInnen, die ihn nicht besuchen wollen, können ihn durch den parallel angebotenen Ethikunterricht ersetzen.

Zweitens habe ich, und diese Verantwortung möchte ich ausdrücklich betonen, als Lehrerin die Verpflichtung, jederzeit für eine Atmosphäre zu sorgen, in der ein Aussteigen aus dem "Kult", aus dem Vollzug einer rituellen Handlung, möglich ist. Ich bin verantwortlich für die Offenheit der Situation und wenn ich merke, dass einer Schülerin oder einem Schüler der Vollzug von Religion zu viel wird, muss ich für diese Person Auswege offen halten. In diesem Fall habe ich meine SchülerInnen auch vor Religion zu schützen. Sie ist keine Angelegenheit, die auf die leichte Schulter zu nehmen ist.
Drittens und letztens schließlich ist der Ausstieg aus dem "Kult" in meinem Unterrichtsentwurf strukturell in der Reflexionsphase angelegt. Sie ist ein bewusstes "Betrachten von außen", ein Wahrnehmen christlicher Religion von einem nichtkultischen Standpunkt. Die Möglichkeiten, die ich zum "Aussteigen" eröffne, haben ganz banale unterrichtspraktische Folgen. Ich verweise z.B. auf das Thema "Bewertung und Zensierung": eine Beurteilung von SchülerInnen darf von mir nicht davon abhängig gemacht werden, ob sie beim "Ausprobieren von Kult" ausgestiegen sind oder nicht. Hier muss ich meiner Verantwortung als Lehrerin an einer staatlichen Schule gerecht werden.

 

Schluss

Die Zeit für meinen Vortrag ist wahrscheinlich schon überschritten. Ich will mit meinen Ausführungen zum Ende kommen. Ich hoffe, ich konnte für Sie einigermaßen verständlich darstellen, was ich darunter verstehe, christliche Religion evangelisch zu unterrichten und zu lernen. Im Rückgriff auf den Namen dieses Kirchentagsforums "Christliche Verantwortung für die öffentliche Schule" möchte ich abschließend formulieren: Meiner Meinung nach besteht christliche Verantwortung genau darin – die christliche Religion im Raum der öffentlichen Schule über den Nachvollzug christlicher Kultakte lernbar zu machen. Damit kommt das Christentum auch als kulturelle Größe in den Blick.

Ich danke Ihnen für Ihr interessiertes, kritisches Zuhören und freue mich auf eine spannende Diskussion.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2002

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